Karl Popper

Karl Popper (1902–1994). Österreichisch-Britischer Philosoph jüdischer Abstammung. Sohn eines liberalen, sozial engagierten Rechtsanwalts mit geschichtlicher und philosophischer Bildung, der Mitglied der illegalen Freimaurerloge in Wien war. Seit seiner Kindheit bekannt mit Konrad Lorenz. Stammte aus einer sehr musikalischen (Groß)Familie. Machte selbst  Musik. So sehr ihm auch Bücher wichtig waren, nichts ging ihm näher als die Meisterwerke der klassischen Musik.

Um sich gegen die poetische Weltflucht und den Kulturpessimismus seiner gesellschaftlichen Umgebung (im Gefolge des Untergangs des Habsburger Reiches nach dem 1. Weltkrieg) und gegen intellektuelle Anmaßung abzugrenzen, entschloss Popper sich, Arbeiter zu werden und ein Handwerk zu erlernen. So machte er neben seiner Ausbildung zum Grundschullehrer eine Tischlerlehre. Anschließend war er Hauptschullehrer für Mathematik und Physik in Wien.

Wegen seiner starken philosophischen und wissenschaftlichen Interessen und seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit blieb er dort allerdings nicht stehen, sondern entwickelte sich zu einem der wichtigsten Erkenntnis- und Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Während der Nazizeit nach Neuseeland emigriert, lebte er seit 1946 bis zu seinem Tode in Großbritannien, wo er Professor an der »London School of Economics and Political Sciences« war.

Popper prägte den Begriff »Kritischer Rationalismus«. Dies sei die Form der  Aufklärung in unserer heutigen Zeit. Die rationalistische Einstellung sei aber selbst nicht rational beweisbar. Sie beruhe auf einem irrationalen Glauben an die Vernunft.

Popper mochte nicht als Philosoph bezeichnet werden, da in der Philosophie mehr verzapft worden sei, für das man sich schämen müsse, als auf was man stolz sein könne. (Das ändert aber natürlich nichts an der Tatsache, dass Popper ein Philosoph war.)

Popper ist vielen Linken und Intellektuellen in Deutschland nur im Zusammenhang mit dem sogenannten  »Positivismusstreit« bekannt. Es ist deshalb ein leider nicht totzukriegender Irrtum, dass Popper ein Positivist sei. [1]

Im Gegensatz zu den Positivisten fordert Popper dazu auf, Theorien nicht zu verifizieren, sondern zu falsifizieren. Wenn wir eine Theorie beweisen wollen, dann würden wir das erkennen, was diese Theorie stütze, was ihr widerspreche, würden wir ausblenden. Dies führe im Extremfall zum Dogmatismus. Deshalb sollten wir versuchen, unsere Theorien zu widerlegen. Fehlersuche wird zum Prinzip erhoben. Wenn wir eine Theorie widerlegt hätten, veränderten wir sie. Damit würden wir zwar nie endgültige Wahrheiten erreichen – denn wir würden auch die neue bzw. modifizierte Theorie zu widerlegen suchen – aber wir würden uns der Wahrheit annähern. (Ähnliche Auffassungen findet man bereits bei  Fr. Bacon, Pascal und Hume.)

Im Gegensatz zu den Positivisten, die sagen: »Sätze, die nicht verifizierbar sind, sind sinnlos«, sagt Popper: »Sätze, die sich nicht falsifizieren lassen, sind unwissenschaftlich, aber deshalb nicht gleich unsinnig.« Viele heutige Wissenschaften seien aus vorwissenschaftlicher Mystik hervorgegangen. Außerdem bestehe das Leben nicht nur aus Wissenschaft.

Die Falsifikationstheorie in die politische und gesellschaftliche Praxis übertragen, ist eine konsequent antidogmatische und antikonservative Strategie. Die ständige Fehlersuche führt zu einem reformistischen Vorgehen.

Gewalt sei nur gerechtfertigt zur Beseitigung oder Verhinderung einer Tyrannei. Dabei hat Popper aber die faktische »Tyrannei« bzw. mangelnde Demokratie auch in freien Gesellschaften nicht gesehen bzw. nicht deutlich genug berücksichtigt. (Der Macht großer Firmen und Institutionen ist friedlich oft nichts entgegenzusetzen.) Besonders wohl wegen seiner liberalen Grundhaltung wurde er von der Queen geadelt.

Alles, was das Leben lebenswert mache, habe etwas mit Gefühlen zu tun. Der Verstand solle aber in keinem Lebensbereich völlig fehlen.



Karl Popper ausführlicher




Literatur, Sekundärliteratur, Internetlinks

Literatur: (Auswahl)

Sekundärliteratur:


Einige Aspekte der Philosophie Poppers

Drei Schlüsselerlebnisse in Poppers Jugendzeit führten ihn zu der Auffassung, dass es keine letzten Wahrheiten gibt und der Dogmatismus abzulehnen sei:


Vom Marxisten zum Reformisten

Das Elend des Proletariats und die Grausamkeiten des 1. Weltkrieges führten dazu, das Popper Kommunist wurde. Der Sozialismus schien eine Lösung zu sein für soziales Elend und Kriegsgefahr.

Am 15. Juni 1919 versuchten Arbeiter, angespornt durch die Kommunisten, einige Gefangene zu befreien, die in der Wiener Polizeidirektion in Arrest waren. Bei diesem Versuch wurden zwanzig unbewaffnete Arbeiter erschossen und siebzig schwer verletzt. Popper, der verspätet zu diesem Ereignis dazu kam, war entsetzt. Nicht nur über das brutale Vorgehen der Polizei, sondern auch über die politische Bewegung, zu der er sich zählte. Er war bereit gewesen, für die Herbeiführung einer guten Sachen tödliche Opfer in Kauf zu nehmen. Er kam zu der Auffassungen, über die Sache viel zu wenig nachgedacht zu haben. Man darf zwar sein eigenes Leben einsetzen, aber niemals das Leben anderer. Es für eine Ideologie einzusetzen, sei unverantwortlich.

Die Vorstellung von der geschichtlichen Notwendigkeit des Sozialismus, den es trotz aller unvermeidlichen Opfern durchzusetzen gelte, erschien ihn bald als blanker Aberglaube.


Von Newton zu Einstein

(Zur  Relativitätstheorie und zu den  Unterschieden zwischen der Physik Newtons und der Physik Einsteins sehen Sie bitte den philolex-Beitrag zu Einstein.)

Popper imponierte, dass Einstein seine Theorie der Widerlegung aussetzte, in dem er selbst 1916 dazu aufforderte, sie in der Praxis zu überprüfen. Sterne, die nahe neben der Sonne zu sehen sind (und dies ist nur bei einer Sonnenfinsternis möglich) müssten etwas verrückt zu der Position erscheinen, als zu Zeiten, an denen die Sonne anderswo am Himmel zu sehen ist. Diese These wurde von dem englischen Forscher Eddington während einer Sonnenfinsternis 1919 empirisch bewiesen. [Natürlich nur soweit sich überhaupt etwas beweisen lässt.]

Für Popper, der zu dieser Zeit überzeugter Newtonianer war, wurde die Relativitätstheorie und ihre partielle empirische Bestätigung zu einem ganz entscheidenden Anstoß zur Abkehr von jeglichem Dogmatismus. Später hat er immer wieder betont: Nichts war so sicher bewiesen und in der Praxis erfolgreich wie die Newtonsche Physik. Und trotzdem wurde sie von Einstein widerlegt. Wenn aber Einstein Newton widerlegt, bzw. relativiert hatte, warum sollte dann nicht einst auch Einstein zumindest partiell widerlegt werden? Wenn es nicht einmal hier sicheres Wissen gebe, wo dann?


Bühler statt Adler oder Freud

Beim Kennenlernen der Individualpsychologie Adlers und der Psychoanalyse Freuds bemerke Popper, dass es den Vertretern dieser Theorien nicht darum ging, sich widerlegen zu lassen. Jeder neue Fall wurde nur als Bestätigung der Theorie angesehen. [In diesem Falle möchte aber das gleiche anmerken, wie bei Poppers Kritik an Platon und Hegel: Man kann (und sollte) die Absolutheitsansprüche von Wissenschaftlern und Philosophen ablehnen ohne deshalb ihre gesamte Arbeit für belanglos zu erklären. [2] Freud, Adler und Jung sind drei bedeutende Psychologen des 20. Jahrhunderts. Diese Feststellung bedeutet nicht, dass man jeden Satz von ihnen für richtig halten muss.]

Karl Bühlers Gestaltpsychologie – Der Kopf ist kein Kübel: Die  Gestaltpsychologie betont die schöpferische, organisierende, »gestaltende« Tätigkeit des menschlichen Intellekts, im Unterschied zu einer  Assoziationspsychologie, in der nur sinnliche Wahrnehmungen verknüpft werden. Am Anfang stehe auch beim Menschen Instinkt und Dressur, im Verlaufe seiner geistigen Entwicklung werde er aber zu einem schöpferischen, gestaltenden Wesen. [Das ist das qualitativ Neue gegenüber der Psyche der Tiere. Das  kategoriale Novum wie Nicolai Hartmann es nennt.) Ob Popper diesen Begriff allerdings akzeptieren würde, weiß ich nicht.]

Es gebe keine passive Erfahrung. Sie sei Resultat einer aktiven, schöpferischen Tätigkeit. Diese schöpferische Tätigkeit werde aber von der Erfahrung im Zaum gehalten. [Sollte sie jedenfalls!] Mit dieser These argumentiert Popper später gegen die Auffassung  Humes, dass die Gewohnheit lediglich das passiv erworbene Ergebnis einer repetetiven Verknüpfung von Sinnesdaten sei.

In seiner ersten Veröffentlichung Über die Stellung des Lehrers zu Schule und Schülern plädierte Popper für einen radikalen verantwortungsbewussten Individualismus. Der Lehrer solle den Schüler niemals von einem allgemeinen Gesichtspunkt aus betrachten, sondern als ein einzigartiges Individuum. Der Lehrer solle sich jeder autoritären Anmaßung enthalten.

Das Ergebnis der drei Schlüsselerlebnisse führte Popper zu der Auffassung, dass jede Theorie nur ein Vermutungswissen sei, das sich einer kritischen Prüfung aussetzen müsse. Wissenschaftliche Aussagen seien gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie sich Widerlegungsversuchen aussetzten.


Die Logik der Forschung – Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie

Popper war mit einigen Mitgliedern des  Wiener Kreises (einer Gruppe von  Neopositivisten – wichtigster Vertreter Rudolf Rudolf Carnap) – persönlich bekannt und durch seine Berührung mit dem Wiener Kreis ist er überhaupt erst zum Philosophen und Erkenntnistheoretiker geworden. Aber er war nie Mitglied des Wiener Kreises und seine Schrift Logik der Forschung war – obwohl in der Schriften-Reihe des Wiener Kreises erschienen – eine Kritik zentraler Thesen des Wiener Kreises.

Induktionsproblem: Es gebe kein  Induktionsprinzip. Wir könnten niemals aus singulären Erfahrungen allgemeingültige Sätze ableiten. Allgemeingültige Sätze seien  Hypothesen, Vermutungen, die unser schöpferischer Verstand aufstelle, aus denen wir uns eine Welt erschaffen würden, gleichsam geistigen Netzen mit denen wir versuchten, die wirkliche Welt einzufangen.

Hier besteht eine starke Nähe zu Kant. Im Gegensatz zu Kant betont Popper aber ausdrücklich den Versuchscharakter dieser Verstandesschöpfungen. Kants »Kritik« sei nicht kritisch genug gewesen. Wir wüssten viel weniger als Kant geglaubt habe. [Wir wissen viel weniger als Popper geglaubt hat! Siehe weiter unten  Beschränktheit des Falsifikationsprinzips. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass wir mehr wissen können, als Popper geglaubt hat, z. B. durch die Anwendung eines  Ausschließungsverfahrens in Religion und Philosophie.]

Abgrenzungsproblem: Wenn dem aber so sei, wie lasse sich dann Wissenschaft von metaphyscher, vor und pseudowissenschaftlicher Spekulation abgrenzen? Darin, dass sich Wissenschaft einer kritischen Prüfung unterziehen lasse, an deren Ergebnissen sie scheitern könne. Gerade die Anerkennung der Fehlbarkeit und Widerlegbarkeit unseres Vermutungswissens sei Voraussetzung des Fortschritts unserer  Hypothese. Wir könnten aus unseren Fehlern lernen.

Dogmatiker setzten ihre Auffassungen einer solchen kritischen Prüfung gerade nicht aus. Sie suchten nach Bestätigungen ihrer Theorien, die Dinge und Ereignisse würden so interpretiert, dass sie in die Theorie passten. Widersprechendes würde ignoriert, uminterpretiert oder als untypisch abgetan. Das, was Wissenschaft und Gesellschaft voranbringe, Kritik, würde übel genommen. [Eine Erfahrung, die ich selbst mit Dogmatikern unterschiedlicher Ausrichtung gemacht habe!]

Aber genauso, wie sich Popper gegen den Dogmatismus wandte, genauso wandte er sich gegen Subjektivismus und Relativismus. So stimmte er z. B. Heisenberg nicht zu, der behauptete, dass im subatomaren Bereich keine Kausalität mehr feststellbar bzw. messbar sei. Dem nach seiner Meinung daraus folgenden Zufallsprinzip setzte er später seine  Theorie der Propensitäten entgegen.

Popper übernahm den »semantischen Wahrheitsbegriff« Alfred Tarskis. Es gebe Wahrheit (im Sinne der  Korrespondenztheorie), aber der Mensch könne sich nie sicher sein, ob er sie gefunden habe. Wissenschaft sei Wahrheitssuche nicht der Besitz von Wahrheit. Wahrheit sei wie ein Berggipfel, der oft hinter Wolken verborgen sei, dem wir entgegen strebten, aber nicht unbedingt erreichten. Wahrheit sei wie der magnetische Pol, nach dem der Seefahrer seine Richtung bestimme. Nie sei diese Richtung korrekt. Oft müsse er seine Route ändern. Die Wahrheit sei ein regulatives Prinzip.

Nachdem Popper sich mit führenden Physikern seiner Zeit und den physikalischen Problemen beschäftigt und seine erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen daraus gezogen hatte, kam er letztlich zu dem Schluss, dass die Krise der Physik nicht zu einer Krise des realistischen Forschungsprozesses führen müsse. Aber auf den absoluten Anspruch Wahrheit zu besitzen, müssten wir verzichten.

Im weiteren Verlauf seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen vertrat Popper dann u. a. die Evolutionäre Erkenntnistheorie.


»Ich mag unrecht haben und Du magst recht haben; und wenn wir uns bemühen, dann können wir zusammen vielleicht der Wahrheit etwas näher kommen.«



Gesellschaftsphilosophie

Popper war mehr an Natur, Naturwissenschaft und Wissenschaftstheorie interessiert, weniger an Gesellschaftswissenschaft und Philosophie. Auf Grund der totalitären Regime in Europa und dem 2. Weltkrieg entschloss er sich dazu, seinen »Kriegsbeitrag« in Form einer Kampfschrift gegen den Totalitarismus zu leisten. Seine in Neuseeland geschriebenen Bücher Das Elend des Historizismus und Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde waren eigentlich gegen Hitler und  Stalin geschrieben, aber Popper hasste die beiden zu sehr um ihre Namen zu erwähnen.

Popper kritisierte statt dessen diejenigen, die er als geistige Vorläufer des Totalitarismus ansah: Platon, Hegel und Marx. [Wieso er Nietzsche in diesem Zusammenhang nicht kritisierte, weiß ich nicht. Das war der Philosoph, der den Faschisten am nächsten war.]


Offene Gesellschaft:
»Obgleich nur wenige eine politische Konzeption entwerfen und durchführen können, so sind wir doch alle fähig, sie zu beurteilen.«   Perikles

Geschlossene Gesellschaft:
»Das erste Prinzip von allen sei dieses: Niemand, weder Mann noch Weib, soll jemals ohne Führer sein. Auch soll niemandes Seele sich daran gewöhnen, etwas ernsthaft oder auch nur im Scherz auf eigene Hand allein zu tun. Vielmehr soll jeder, im Kriege oder mitten im Frieden, auf seinen Führer blicken und ihm gläubig folgen. [...] Kurz, er soll seine Seele so in Zucht nehmen, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, unabhängig zu handeln, und das sie dazu völlig unfähig wird.«   Platon


Aus: Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Paradoxa


Offene Gesellschaft: Die gesellschaftlichen Institutionen sollten so beschaffen sein, dass, wenn ein Verbrecher an die Macht kommt, er möglichst wenig Schaden anrichten kann. [3] Das Entscheidende an der Demokratie sei die Existenz freier Institutionen. (Freie Wahlen, verschiedene Arten der Gewaltenteilung, Pluralität verschiedener Parteien und Interessensvertretungen, freie Presse, Demonstrationsfreiheit, Streikrecht, Recht auf Auswanderung u. v. ä. m.) Mit dieser Auffassung vermeidet man nach Popper das Paradoxon der Demokratie. Man werde die freien Institutionen notfalls auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung verteidigen. [Genau das hätte Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland passieren müssen!]

Gewaltanwendung sei nur aus zwei Gründen gerechtfertigt: Zur Verteidigung freier Institutionen, wo sie bereits bestehen und zur Errichtung freier Institutionen, wo es sie noch nicht gibt. Gewalt sei gerechtfertigt um eine Tyrannei zu vermeiden oder eine bestehende Tyrannei zu beseitigen und einen Zustand herzustellen, in dem friedlicher Wandel möglich ist.

Nicht das größte Glück, sondern das geringste Leid: (Unterschied zu Bentham.) Was Glück sei, bzw. was glücklich mache, darüber hätten die Menschen ganz unterschiedliche Vorstellungen. Einem anderem Menschen das aufzwingen, was man selbst für gut hält, womit man selbst glücklich wird oder glaubt, damit glücklich zu werden, kann bei anderen Leid erzeugen. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren Leiden zu lindern. Denn was Leid sei, darauf könnten sich die Menschen viel schneller einigen, als auf das, was Glück sei. Auf welche Weise der Einzelne nach Glück strebt, solle ihm selbst überlassen bleiben. Im engeren Familien- oder Freundeskreis könne man in dieser Richtung Vorschläge machen. Mehr nicht.

[So sehr ich Popper auch im Prinzip zustimme, so sehe ich doch die große Gefahr, dass seine Gesellschaftsphilosophie die Privilegierten schützt und die Unterprivilegierten benachteiligt. Ein solches Vorgehen begünstigt immer den Status quo. Kein Wunder, dass die Queen ihn geadelt hat. Siehe auch weiter unten:  Kritik an Popper, Gesellschaftsphilosophie.]


Kritik an Marx und den Marxisten

Marx hatte angenommen, dass es gesellschaftliche, ökonomische und geschichtliche Gesetzmäßigkeiten gebe, die er in seinen Theorien beschreibe. Er hat viele falsifizierbare Aussagen gemacht. Popper behauptete schon in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, dass die meisten dieser Aussagen inzwischen falsifiziert seien, die Marxisten dies aber nicht zur Kenntnis nehmen würden. Beispiele bei  Marx.

Gegen Marxens Vorstellung der historischen Gesetzmäßigkeiten und des Sozialismus als unabwendbarem Entwicklungsprodukt der Geschichte setzte Popper seine »Stückwerk-Technologie« oder »Sozialtechnik der kleinen Schritte«. [In diesem Punkt stimme ich mit Popper voll und ganz überein. Im gesellschaftlichen und politischen Leben kann man Popper mehr anfangen als mit Marx.]

Popper hat in den 40er Jahren bereits die spätere Entwicklung in Osteuropa, China, Kuba etc. beschrieben, natürlich auch wegen der Kenntnis dessen, was seit 1917 in Russland ablief. Wie Dogmatiker mit edlen Zielen die Macht ergreifen und aus der inneren Logik dieser Entwicklung heraus dann Abschaffung der freien Institutionen und Unterdrückung Andersdenkender folgtem; die Nichterreichung der utopischen Ziele mit anschließendem Herumgewurstel, sprich ineffektiver Stückwerk-Technologie auf unterster Ebene, da keine erlaubte Opposition und freie Diskussion möglich war (leider zum Teil auch noch ist).


Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln – eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können. Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unserer Träume der Weltbeglückung aufgeben. Dennoch können und sollen wir Weltverbesserer bleiben – aber bescheidene Weltverbesserer. Wir müssen uns mit der nie endenden Aufgabe begnügen, Leiden zu lindern, vermeidbare Übel zu bekämpfen, Missstände abzustellen; immer eingedenk der unvermeidbaren Folgen unseres Eingreifens, die wir nie ganz voraussehen können und die nur allzuoft die Bilanz unserer Verbesserungen zu einer Passivbilanz machen.


Karl Popper, Das Elend des Historizismus, Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1964


»Versuch und Irrtum« statt Dialektik

Dialektik: Der dialektische Dreischritt hat nach Popper noch eine gewisse deskriptive Berechtigung. Die Lehre von den Widersprüchen als Triebkraft der Entwicklung lehnte er aber ab. Besonders kritisierte er die identitätsphilosophische Gleichsetzung von Denken und Wirklichkeit. [Dort wo Hegel glaubte, das Sein schlechthin zu erkennen, sollte er kritisiert werden. Das dialektische Denken als Mittel, Entwicklungen in der Welt unserer Erscheinungen zu erklären, halte ich aber für eine gute Sache. Popper hat große Teile dessen, was Dialektik ausmacht, scheinbar überhaupt nicht in den Blick bekommen. Ich schreibe »scheinbar«, da ich bei weitem nicht alles gelesen habe, was Popper geschrieben hat. Ich drücke das deshalb vorsichtig aus.]

Gegen die Dialektik (der Geschichte) stellte Popper seine »Trial-and-error-Methode«. Wir machen einen Versuch, ein bestimmtes Problem zu lösen oder ein bestimmtes Phänomen zu erklären. Dann suchen wir nach den Fehlern in dem Versuch. Anschließend machen wir einen erneuten Versuch, der den Fehler des ersten Versuchs vermeidet. Auch der zweite Versuch wird irgendwo fehlerhaft sein. Nach Beseitigung dieser Fehler machen wir einen weiteren Versuch usw. usf. Auf diese Weise kommen wir nie zu einer letzten Wahrheit aber wir nähern uns durch Fehlerkorrektur der Wahrheit an, bzw. wir finden einen gangbaren Weg um ein Problem zu lösen.


Ständige Selbstkritik und reformatorisches Vorgehen statt absoluter Wahrheitsansprüche.


Sprachphilosophie

Nach Popper ist die Forderung, dass vor einer sinnvollen Diskussion zuersteinmal die verwendeten Begriffe definiert werden müssen, inkonsequent, da sie zu einem endlosen Regress führen würde. (Wir definieren Begriffe mit anderen Begriffen, die wir wiederum definieren müsste usw. usf.) Deshalb verzichten Wissenschaftler in der Regel darauf ihre Begriffe zu definieren, z. B. in der Physik die Begriffe »Licht« oder »Energie«. Je weniger über den Sinn von Wörtern diskutiert werde, um so nützlichere Erkenntnisse gebe es auf einem Forschungsgebiet. Die Präzision einer Sprache hänge gerade davon ab, dass sie ihre Begriffe nicht mit der Aufgabe belaste, präzise zu sein. ( ! ) [Das ist ja geradezu dialektisch! Auch wenn Popper das wohl von sich gewiesen hätte.] Popper bringt als Beispiele noch »Düne« und »Wind«. Wieviel Zentimeter muss ein Sandberg hoch sein, damit er eine Düne ist? Wie schnell muss sich die Luft bewegen, damit diese Bewegung ein Wind ist? »Ein Philosoph, der sich sein Leben lang mit der Sprache beschäftigt, ist wie ein Zimmermann, der seine ganze Arbeitszeit damit verbringt, seine Werkzeuge zu schärfen.« (Magee, 53) [Das Schärfen der Werkzeuge ist aber deshalb nicht etwa verzichtbar!] In der Ablehnung der Sprachphilosophie unterscheidet sich Popper von Wittgenstein II.


Die Theorie der drei Welten

Welt 3: Die (nicht unbedingt beabsichtigten) Schöpfungen des menschlichen Geistes sind z. B. Sprachen, Religionen, ethische Systeme, Gesetzeswerke, Gebräuche, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, regelmäßig wiederkehrende Verhaltensweisen, das objektivierte Wissen der Menschheit in Form des Geschriebenen, Gedruckten und auf Magnetbänder gespeicherten etc. (Heute diverse weitere elektronische Speichermedien.) Sind diese objektiven Dinge bzw. Strukturen einmal vom Menschen hervorgebracht, wird der Mensch wiederum von ihnen geformt. [In einem dialektischen Wechselspiel! Auch wenn Popper das Wort nicht mag. – Popper behauptet, das auch die Folge der natürlichen Zahlen eine menschliche Konstruktion ist. Das erinnert an  Kant. Es erscheint mir aber plausibel, dass die Mathematik etwas beschreibt, dass auch unabhängig von uns Menschen existiert. »2 x 2 = 4« ist eine  »platonische Idee«. Ansonsten sehe ich nur die Möglichkeit, dass wir im  hegelschen Sinne sowohl der  »Weltgeist« sind, der die mathematischen Beziehung schafft, als auch der subjektive Geist, der diese Beziehungen entdeckt. Ob die mathematischen Regeln im Sein schlechthin bzw. in allen Teilen des Seins gelten, ist eine andere Frage.]


Objektive Erkenntnis

Objektive Erkenntnis: Traditionelle Erkenntnistheorie habe sich immer mit Erkenntnis als einem subjektiven Zustand beschäftigt, als etwas, dass mit Bewusstsein zu tun habe. Mit dieser Tradition will Popper brechen. Er vertritt die Auffassung, dass wissenschaftliche Erkenntnis etwas objektives, nicht etwas subjektives sei. Sie gehöre der »Welt 3« an, nicht der »Welt 2«. Das Wissen, das die Menschheit als ganzes habe, könne kein einzelner Mensch haben. Wissen in Bibliotheken, Archiven und Dokumentationen sei meist in keinem Menschenkopf vorhanden. [Das trifft teilweise bestimmt zu aber nicht durchgängig.] Selbst ein einzelner Mensch habe nicht ständig im Bewusstsein, was er alles (potentiell) weiß. Wissen im objektiven Sinne sei Wissen ohne einen Wissenden. [Aber wissenschaftliche Erkenntnis gehört doch partiell der »Welt 2« an.] [4]


World of Propensities

Nach Poppers Theorie der »World of propensities«, ist die Welt weder ein ungeordnetes Chaos, noch ein bis ins letzte hinein determiniertes Gebilde. Deshalb habe der Mensch die Möglichkeit zu verantwortungsvollem und gestaltendem Handeln. Heisenbergs  Unschärferelation setzte er die Theorie der physikalisch realen Verwirklichungstendenzen gegenüber.

Sind alle Wolken Uhren oder sind alle Uhren Wolken? Für den Deterministen seien alle Wolken letztendlich Uhren, weil alle Vorgänge, sowenig wir auch in der Lage seien es vorauszusagen, in ihrem Verhalten bis ins letzte vorherbestimmt seien. Für Popper als Indeterministen sind alle Uhren in letzter Instanz Wolken, weil selbst ihr Verhalten nicht mit letzter Sicherheit voraussagbar sei.

Popper sagt, der weitere Verlauf der Geschichte werde wahrscheinlich stark von unseren zukünftigen wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängen. Da wir aber heute nicht wissen könnten, welche Erkenntnisse wir morgen haben werden (sonst hätten wir sie ja heute schon), könnten wir den Verlauf der Geschichte nicht vorhersagen. Wie die Zukunft aussehen werde, hänge davon ab, wofür wir uns einsetzten. [Genauer, welche Gruppen von Menschen sich mit ihren Vorstellungen durchsetzen werden.] Unser Handeln habe aber auch immer unbeabsichtigte Nebenfolgen, die wir nie ganz voraussehen könnten. Als Indeterminist lehnte Popper die Vorstellung ab, es gebe unabänderliche historische Gesetzmäßigkeiten. Sein Buch Das Elend des Historizismus schrieb er gegen den negativen Fatalismus von  Oswalt Spengler und dem positiven Fatalismus von  Karl Marx.


Der Positivismusstreit

1961 begann der Streit mit  Adorno über Methodenprobleme der Sozialwissenschaften. Zu großen Teilen war dies eine Neuauflage der von Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgelösten Kontroverse um die Werturteilsfreiheit. Popper vertrat im Großen und Ganzen die Auffassungen Webers.

 Wertfreiheitspostulat für den Begründungszusammenhang: Nach Popper dürfen bei der Wahrnehmung und bei der kritischen Prüfung Wertvorstellungen des Wissenschaftlers keine Rolle spielen, durchaus aber bei der Beurteilung von Fakten und bei Zielvorstellungen.

Popper hat nicht verlangt, dass Wissenschaftler keine Wertvorstellungen, keine Interessen haben dürfen. Das dürfen und sollen Sie! Aber Wertvorstellungen dürfen nicht zu Erkenntnisschranken werden, bzw. sie dürfen nicht erkenntnisleitend sein in dem Sinne, dass die Wünschbarkeit einer Sache mit ihrer Realisierbarkeit gleichgesetzt wird. Beispiel: Wenn man bei der Beschreibung der Lebenslage aller Menschen dieses Planeten jede Menge Not und Elend konstatiert, subjektiv empfundenen Leidensdruck – nicht etwa, dass die Menschen nicht so sind, wie man es gerne hätte –, dann ergibt sich aus einer solchen Beschreibung niemals die Forderung nach einer gerechteren, sozialeren oder sozialistischen Weltordnung. Eine solche Forderung ergibt sich aus den Wertvorstellungen eines Menschen. Werte sind aber logisch nicht begründbar. Wenn es meinen Wertvorstellungen entspricht, die kapitalistische Gesellschaft durch eine sozialistische zu ersetzen, dann ergibt sich daraus nicht die Erkenntnis, das eine sozialistische Gesellschaft möglich ist. Was den Wertvorstellungen Adornos nach richtige Bedürfnisse, wahres menschliches Sein und Verhalten etc. ist, sagt überhaupt nichts über den tatsächlichen Menschen und seine tatsächlichen Bedürfnisse aus.

[Hier liegt das Grundproblem aller linken Politik und Wissenschaft. Man hat sich explizit geweigert, objektiv, vorurteilsfrei die Realisierbarkeit seiner Ziele zu untersuchen. Die Frage nach der Realisierbarkeit wurde als illegitim abgetan, als eine Parteinahme für die ungerechten bestehenden Verhältnisse. Das Ergebnis dieses Vorgehens war: Das Scheitern aller linker Strategien.]


Meine Kritik an Popper

Zuersteinmal möchte ich vorausschicken, dass Popper auf meine politische und philosophische Entwicklung einen ganz entscheidenden Einfluss gehabt hat, was nicht bedeutet, dass ich ihm in allen Punkten folge. (Konkreteres in den nächsten Absätzen.) Meine Abkehr von linksdogmatischen Vorstellungen fiel in die Zeit, als ich Poppers Schriften kennenlernte. Ohne falsche Bescheidenheit möchte ich aber sagen, dass ich zu vielen seiner Auffassungen unabhängig von ihm gelangt war. Ich habe mich deshalb zeitweilig als Anhänger Poppers betrachtet. Es gibt keinen, mit dem ich sowohl in der Breite wie im Grundsätzlichen mehr übereinstimme. (Zusatz März 2007: Diesen Satz habe ich zu einer Zeit geschrieben, als ich Russells Auffassungen erst zu einem kleinen Teil kannte. Inzwischen kann ich sagen, dass mich mit Russell wohl noch mehr verbindet als mit Popper.) Zwischen meinen Auffassungen und denen Poppers gibt es aber auch eine ganze Reihe von Differenzen, weshalb ich mich heute nicht mehr als sein Anhänger verstehe.

Auch meine weitere Entwicklung wurde durch Poppers Theorien stark beeinflusst, auch wenn diese dann in Richtungen verlief und Ausmaße annahm, die Popper wohl nicht gebilligt hätte. Mein »Ausschließungsverfahren«, dass ich in Religion, Mythos, Philosophie etc. benutze, habe ich in Anlehnung an das Falsifikationsprinzip Poppers entwickelt. (Siehe Näheres hierzu in meine Aufsätze Gedanken zur Erkenntnistheorie und Kurze Zusammenfassung meiner Philosophie. – Popper selbst wendet die Falsifikationsmethode nicht im Bereich der Religion, der Metaphysik u. ä. an.)

Gesellschaftsphilosophie: Popper sagt, Gewalt sei nur gerechtfertigt zur Beseitigung oder Verhinderung einer Tyrannei. Aber auch in freien und demokratischen Gesellschaften gibt abgemilderte Formen von Tyrannei, bzw. von nicht existierender Demokratie z. B. im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich. Der Vermögende ist dem Nichtvermögenden gegenüber mächtiger, trotz aller Freiheit und politischer Demokratie. Was nützt mir meine Freiheit und mein Wahlrecht, wenn ich nichts zu essen oder keine Wohnung habe? Die Mehrheit der Bevölkerung ist abhängig beschäftigt und im Arbeitsleben gibt es keine Demokratie und Freiheit. Man kann in den demokratischen Ländern zwar den Bürgermeister seiner Stadt wählen, aber nicht den Chef des Betriebes, in dem man arbeitet. Wer teilhaben will am materiellen Wohlstand, ist gezwungen, auf seine Freiheit und seine demokratischen Rechte partiell zu verzichten.

Und selbst von Seiten der staatliche Institutionen gibt es ein gewisses Maß faktischer Tyrannei. Wenn sich ein einfacher Mensch mit einer großen staatlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Institution anlegt, dann gibt es trotz aller formalen Rechtsgleichheit ein Machtgefälle, dass es dem einfachen Menschen oft faktisch unmöglich macht, sein Recht durchzusetzen. Selbst im Rahmen der Gesellschaftsphilosophie Poppers wäre hier also Gewalt von Seiten der Unterprivilegierten erlaubt. So konsequent ist Popper aber nicht gewesen. (Mir ist jedenfalls keine entsprechende Äußerung bekannt.)

Konkretes Beispiel: Streik und Aussperrung sind keine gleichwertigen Instrumente im Arbeitskampf. Streik ist ein Mittel der abhängig Beschäftigten, mit dem sie der wirtschaftlichen Macht der Arbeitgeber etwas entgegensetzen. Aussperrung ist dagegen ein Mittel, dass die wirtschaftliche Übermacht der Arbeitgeberseite noch erhöht.

Erkenntnistheorie: Philosophie und Wissenschaft würden nach Popper Ihre Attraktivität verlieren, wenn sie den Versuch aufgeben würde, die Welt, unser Dasein und unser Wissen zu erklären. Man hat Popper vorgeworfen (z. B. von Seiten der Frankfurter Schule), er selbst habe diesen Anspruch aufgegeben, da er keine Wahrheiten, sondern nur noch Fehler suche. Ich meine, dass das Aufstellen von Vermutungen ein Versuch ist, die Rätsel der Welt zu lösen. Auch wenn man weiß oder zu wissen glaubt, dass endgültige Wahrheit dem Menschen versagt bleibt.

Er gab  Kant recht: Die Gesetze der theoretischen Physik seien nicht von der Natur abgelesen, sie seien Schöpfungen unseres Verstandes, mit denen wir versuchten, die Natur einzufangen. Etwas ähnliches dann bei  Ditfurth. Ich meine aber, dass es ein großer Unterschied ist, ob man sagt unsere angenommenen Naturgesetze seien Schöpfungen des menschlichen Verstandes, oder ob man sagt, jegliche Naturgesetzlichkeit sei eine Schöpfung des menschlichen Verstandes. In der Welt seien unabhängig vom Menschen gar keine Gesetze. In diesem Falle wäre man nämlich ein  (inter)subjektiver Idealist, kein  Agnostiker.

Ein etwas zu eingegrenzter Wissenschaftsbegriff: Bei komplexen Vorgängen z. B. in der Gesellschaft oder in der Psyche eines Menschen werden oft komplexere Erklärungen angeboten, die nicht eindeutig falsifizierbar (oder verifizierbar) sind, z. B. »Nachfragemodelle« oder »Modelle des knappen Geldes« in der Wirtschaftswissenschaft oder die Psychoanalyse. Solchen Erklärungen jegliche Wissenschaftlichkeit abzusprechen, geht mir zu weit. Es werden auf diese Weise viele ernsthafte Forscher »exkommuniziert« und viele Aktivitäten an den Universitäten faktisch – jedenfalls an diesem Ort – als illegitim betrachtet. So wertvoll das Falsifikationsprinzip auch ist, es ist nicht immer anwendbar. Wichtig ist, dass man seine Erklärungen nicht zu Dogmen erhebt, dass man in Erwägung zieht, dass die Erklärungen falsch sein können.

Popper hat bei seiner Erklärung der Anziehungskraft, die totalitäre Anschauungen auf große Teile der Bevölkerung ausüben, sehr interessante sozialpsychologische Überlegungen angestellt, die um den Begriff »Last der Kultur« kreisen. (Magee, 97) Freiheit bringe Unsicherheit, Verantwortung für das eigene Schicksal mit sich. Wir neigten dazu uns die Last abnehmen zu lassen. Wir sehnten uns nach dem strengen aber gütigen Vater, der für uns entscheide etc. Diese Überlegungen – so wertvoll sie auch sein mögen –, sind so wenig falsifizierbar wie Freuds Überlegungen in seinem Buch Das Unbehagen in der Kultur. Hat Popper bei seinen Überlegungen eigentlich immer deutlich getrennt zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Äußerungen? Und als was hat er seine nichtwissenschaftlichen Äußerungen angesehen?

Die Falsifikationstheorie selbst ist schon nicht falsifizierbar. Sie kann sich lediglich in der Praxis bewähren. Aber so oft sie sich auch bewähren mag, man kann nicht voraussehen, ob sie sich irgendwann mal nicht mehr bewährt. (So wie man eben auch nach Beobachtung hunderter weißer Schwänen nicht sicher sein kann, dass man nicht irgendwann doch mal einen schwarzen Schwan sieht.)

Über die Beschränktheit des Falsifikationsprinzips habe mich an anderer Stelle näher geäußert. U. a. in meinem Aufsatz Gedanken zur Erkenntnistheorie. Dass ich skeptischer bin als Popper, habe ich ausführlich in meiner Schrift Meine Philosophie dargestellt. (Kurze Wiedergabe: Popper behauptet mit seiner Erkenntnistheorie nicht nur dem Dogmatismus, sondern auch dem Skeptizismus zu begegnen. Durch das Ausschließen von falschen Auffassungen würden wir uns der Wahrheit annähern. Wenn unser Wissen aber letztendlich ein Gewebe von Vermutungen bleibt, dann können wir auch nur vermuten, uns der Wahrheit angenähert zu haben. Der Skeptizismus ist im Rahmen der popperschen Erkenntnistheorie nicht überwindbar. Überwindbar ist der Skeptizismus aber partiell, wenn man das Ausschließungsverfahren auf die Gebiete der Philosophie und Religion ausdehnt.)

Das Induktionsprinzip ist eine legitime wissenschaftliche Methode, solange sie nicht unkritisch benutzt wird, solange man keine Dogmen daraus ableitet. Der praktische Nutzen von Wissen, das auf dem Wege des Induktionsverfahren gewonnen wird, ist für mich offensichtlich. Aus der Tatsache, dass bisher alle Menschen nach einer gewissen Lebenszeit gestorben sind, kann geschlossen werden, dass alle Menschen sterblich sind, jedenfalls in dem Sinne, was wir im allgemeine »sterben« nennen. (metaphysische Spekulationen über ein wie auch immer geartetes Fortexistieren klammere ich hier aus.) Als Popper auf eine entsprechende Frage dem Interviewer antwortete: »Wir beide sind ja zumindest noch nicht gestorben«, dann war dies kein ernstzunehmendes Argument. Sollte sich Popper tatsächlich auf eine solche Position versteift haben, dann macht er letztlich den gleichen Fehler wie Hegel, als der, auf Widersprüche zwischen seiner Philosophie und der Wirklichkeit hingewiesen, antwortete: »Um so schlimmer für die Wirklichkeit.« Nun hat Popper an anderer Stelle aber auch gesagt, es sei egal, wie wir zu einer Theorie kommen, wichtig sei, wie wir mit ihr umgehen.

Poppers Kritik an Marx (in der Offenen Gesellschaft ...) ist treffend und vernichtend. (Was den Geschichtsdeterminismus, die empfohlenen Methoden und einige seiner Ziele anbetrifft. Das humanistische Grundanliegen Marxens hat Popper aber nicht in Frage gestellt.) Bei seiner Kritik Platons und Hegels sieht das allerdings anders aus. Dort, wo diese beiden großen Philosophen Propagandisten totalitärer Gesellschaftskonzeptionen sind, müssen sie natürlich kritisiert werden. Aber weder die Philosophie Platons noch die Hegels erschöpfen sich darin. Über Platon schreibt Popper auch positives. Er nennt ihn »den größten Philosophen aller Zeiten« (Magee, 103). Über Hegel ist mir keine positive Äußerung von ihm bekannt. Auch Hegel reduziert sich nicht darauf ein Propagandist des gesellschaftlichen Totalitarismus zu sein.

Was ich nicht ganz verstehe, ist, dass Popper auch die Entstehung neuer Qualitäten sieht, aber gegen die Dialektik wettert. Aber wahrscheinlich tut er dies nur deshalb, weil er ein eingeschränktes Bild von der Dialektik hat. Die Dialektik mit Absolutheitsanspruch verbunden wie bei Hegel, lehne auch ich ab. Aber die Dialektik als eine kühne Vermutung zur Erklärung von Phänomenen, die sich mit der zweiwertigen Logik oder mit der Theorie rein quantitativer Entwicklungen nicht erklären lassen, ist höchst interessant.

Auch wenn man die Absolutheitsansprüche von dogmatischen Philosophen oder Wissenschaftlern ablehnt, kann man trotzdem viele ihrer Gedanken als interessante  Hypothesen, als Grundlagen weiterer Überlegungen und praktischen Handelns ansehen. Popper sagt selbst, dass metaphysische Gedanken sinnvoll sein können, z. B.  Demokrits Metaphysik der Atome, Descartes Spekulation über die Materie und Newtons Gedanken über einen absoluten Raum und eine absolute Zeit. Ich füge dem hinzu, dass auch die  Ideenlehre Platons und die Spekulation  Hegels über den Rückkehrprozess des Weltgeistes ihren Wert haben. Und insbesondere hat auch die von Hegel entscheidend ausgebaute dialektische Denkweise ihren Wert.


Kommentare anderer Philosophen zu Popper

Carnap erklärte, dass die Grundauffassungen des Wiener Kreises und die Poppers ziemlich ähnlich waren, Popper aber dazu neigte, die Unterschiede überzubetonen. Das hat er Andersdenkenden gegenüber häufig so gemacht und das war wohl auch sein größter Fehler.

Lorenz: »Der Karli Popper hat bei uns immer die Rolle des Weißen gespielt, der an den Marterpfahl gebunden wurde. Er war ungeschickt, er konnte schlecht laufen und schlecht schießen und war von rührender Gutartigkeit.«


Was an Popper zu begrüßen ist, das ist seine konsequent antidogmatische und antikonservative Grundhaltung, dass er die Kritik zum zentralen Element der Erkenntnis-, Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie gemacht hat. Dass er dabei dann Andersdenkende und deren Gedanken zum Teil in übertriebener Weise abgelehnt hat, schmälert seine Leistung nicht.




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Anmerkungen

Anm. 1: Gemeinsam mit den Positivisten hat Popper jedenfalls den »Wahrheitsverzicht«. Deshalb wurde er von vielen als Positivist bezeichnet. Gerade der »Wahrheitsverzicht« war es, den Adorno ihm zum Vorwurf gemacht hat. Wenn man die Grundaussage des Positivismus – der sich nicht im logischen Positivismus des Wiener Kreises erschöpft, da kommen ja auch noch Comte, Spencer und Mill hinzu – im Wahrheitsverzicht sieht und nicht im Induktions- und Verifikationsprinzip und in der Bezeichnung der Metaphysik als unsinnig, dann kann man Popper im weitesten Sinne dem Positivismus zurechnen. Zumindest gibt es Ähnlichkeiten. Allerdings sollte man bei einer solchen Zuordnung die Unterschiede zwischen Popper und den originären Positivisten zur Kenntnis nehmen. Zurück zum Text

Anm. 2: Was Popper auch nicht getan hat, aber er hat ihren Theorien jegliche Wissenschaftlichkeit abgesprochen, was mir zu weit geht. Wenn er z. B. behautet, dem freudschen Strukturmodell »ES, ICH, Über-Ich« käme die gleiche Wissenschaftlichkeit zu wie einer Sammlung griechischer Sagen, dann schießt er mit seiner Kritik über jedes vernünftige Maß hinaus. Allerdings ist diese Aussage im Rahmen seines eingeschränkten Wissenschaftsbegriffs konsequent. Sie wird dadurch aber nicht richtig. Zurück zum Text

Anm. 3: Die gesellschaftlichen Institutionen im Sowjetsystem sind bzw. waren so beschaffen, dass, wenn ein Verbrecher an die Macht kommt, er ein Maximum an Schaden anrichten kann bzw. konnte. Was Stalin und Mao grässlich bewiesen haben. Andere hatten das »Glück« einen Tito oder Castro zu bekommen. Für die verlief es etwas weniger arg. (Die kamen zwar auch ökonomisch nicht voran, wurden aber zumindest nicht noch zusätzlich von staatlicher Seite terrorisiert und zu Millionen umgebracht.) Zurück zum Text

Anm. 4: Außerdem halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass – wenn sich die Menschheit nicht in nächster Zeit ausrottet – in Zukunft erheblich leistungsfähigere Gehirne als unser menschliches entstehen werden, die immer größere Teile der Erkenntnis in ihre »Welt 2« überführen können. (Leistungsfähigere Gehirne können entstehen 1. durch eine durch Gentechnik erreichte Vergrößerung des menschlichen Gehirns, 2. durch Schaffung von künstlichen Gehirnen – sprich der Weiterentwicklung der heutigen Computer zu neuronalen Netzen –, die ab einem bestimmten Entwicklungspunkt Bewusstsein entwickeln, oder 3. durch eine Kombination von 1. und 2.) Das könnte bis zu einem Punkte gehen – zugegebenermaßen eine sehr kühne (und gegenwärtig nicht zu falsifizierende) Vermutung – wo es nur noch ein einziges Gehirn gibt, das alle Erkenntnis in seine »Welt 2« überführt hat. Welt 1, 2 + 3 würden dann wieder eine Welt sein. (Sehen Sie hierzu meine an Hegel anknüpfende philosophische  Hypothese von der Welt(all)geschichte als Rückkehrprozess des Weltgeistes.) – Zurück zum Text


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