Materie


Kurzdarstellung des Materiebegriffs

Materie (von materia) ist 1. ein umgangssprachlicher, 2. ein naturwissenschaftlich-physikalischer und 3. ein philosophischer Begriff. Über lange Zeit hinweg verstand man unter Materie in diesen verschiedenen Bereichen weitgehend das gleiche: Stoff, Körper, etwas im Raum ausgedehntes, das man sehen und anfassen kann.

Auf grund philosophischer Überlegungen, besonders seit Beginn der Neuzeit, dann aber besonders wegen der Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert, insbesondere der Entwicklung der  Relativitätstheorie und der  Wellenmechanik, hat der Begriff Materie heute unterschiedliche Bedeutungen.

Umgangssprachlich ist Materie weiterhin der sichtbare und anfassbare Stoff.

Naturwissenschaftlich-physikalisch ist Materie heute identisch mit Energie, gemäß der berühmten Gleichung Einsteins: E = mc². (Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit hoch zwei.) Atome werden als Kraft- bzw. Energiezentren angesehen. Nach der z. Z. vorherrschenden physikalisch-kosmologischen Theorie ist die Materie erst mit dem Urknall aus dem Nichts entstanden. [1]

Philosophisch spielt der Materiebegriff zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch eine sehr marginale Rolle. Die heutigen philosophischen Strömungen sind meistens  subjektiv idealistisch oder  agnostizistisch. [Diese Behauptung ist aber nicht unumstritten! Das ist meine Interpretation.] Oder sie betrachten Begriffe wie Materie oder Bewusstsein als bloße Wörter. Fragen, ob eines davon primär sei, werden als Scheinprobleme angesehen. Die Zahl der philosophischen  Materialisten unter den professionellen Philosophen befindet sich im Promillebereich. (Besonders seit dem Untergang der »realsozialistischen« Systeme in Osteuropa, in denen der  Dialektische Materialismus die einzig erlaubte Philosophie war.) [2]

Es gibt allerdings unter den philosophisch nichtgebildeten Menschen viele ganz naturwüchsige  Materialisten, bzw. kritische oder naive  Realisten, die sich ihrer Entscheidung für den Materialismus und ihrer Erkenntnistheorie gar nicht bewusst sind. Sie wissen nichts von der Problematik des Materiebegriffs und des  Materialismus, weil sie sich mit solchen Themen nicht beschäftigen und sich häufig sogar explizit weigern, sich damit zu beschäftigen, da sie Philosophie für Kokolores halten. Besonders im naturwissenschaftlich-technischen Mittelbau trifft man viele solcher Leute an.


Materievorstellungen bei verschiedenen Philosophen

Fast jeder Philosoph hatte eine Auffassung davon, was Materie ist. Hier hunderte Philosophen aufzuführen, würde aber den Rahmen des Artikels sprengen. Ich beschränke mich auf die Philosophen, die für die Philosophiegeschichte und die aktuelle Diskussion über den Materiebegriff besonders wichtig sind.

Als sich bei den Vorsokratikern die Philosophie langsam aus dem Mythos löste, suchten viele Philosophen nach einem materiellen Urstoff. Für  Thales war es das Wasser, für  Anaximenes die Luft und für  Heraklit das Feuer. (Viele Philosophiehistoriker sehen in den meisten Vorsokratikern die ersten  Materialisten. Einige  idealistische Interpreten bezweifeln allerdings, dass die Vorsokratiker diesen Urstoff als etwas materielles angesehen haben.)

Die Vorsokratiker  Leukipp und Demokrit begründeten die Atomtheorie und gelten weithin als die Begründer des klassischen  Materialismus. Diese später von  Epikur und Lukrez weiterentwickelte Theorie besagt, dass das Sein aus verschiedenen winzigkleinen unteilbaren Körperchen bestehe, die nicht entstünden und nicht vergingen. Alles Werden und Vergehen sei ein Zusammentreten und ein Sichtrennen von verschiedenen Atomen.

Bei Platon hat die Materie keine wirkliche Existenz. Sie gehört zum Reich der Schatten. (Es gibt davon abweichende  Platon-Interpretationen.)

Bei Aristoteles hat die Materie, der  Stoff, ohne die Formen nur Möglichkeit, keine Wirklichkeit. Die Materie wird aber, im Gegensatz zu den Auffassungen Platons, zu etwas, das den Formen auch einen Widerstand entgegensetzt. (Was erklärt, warum die Welt nicht ideal ist.)

Der christlichen Religion nach wurde die Materie, die materielle Welt von Gott aus dem Nichts geschaffen. Hat aber – einmal geschaffen – eine von Gott und den Menschen unabhängige tatsächliche Existenz. (Fortschrittliche Christen betonen gerne, dass auch der  Urknalltheorie nach die Materie aus dem Nichts entstanden ist.)

Nach Plotin geht aus Gott als dem Ureinen in stufenweiser Abfolge alles hervor, auch die Materie. Sie sei die Welt des Unvollkommenen, Finsteren und Bösen. Ob bei Plotin die Materie – einmal aus Gott hervorgegangen – eine von ihm unabhängige Existenz hat, oder nur ein Moment Gottes ist, ist in der Philosophie umstritten. (Es ist umstritten, ob Plotin Pantheist war.)

 Descartes vertrat einen  Dualismus. Es gebe zwei von Gott geschaffene Substanzen: Die res cogitans (Geist) und die res extensa (Materie) Beide Substanzen seien so getrennt, dass die Materie nie denke oder unmittelbar den Geist bestimme, und dass der Geist nie ausgedehnt sei, nie unmittelbar die Materie bestimme. Lediglich im Menschen (nicht im Tier) gingen diese beiden Substanzen eine Verbindung ein. (Zirbeldrüse)

 Spinoza hat – u. a. auch durch eine kritische Auseinandersetzung mit Descartes – einen Monismus entwickelt. Geist und Materie seien lediglich Attribute der einen ungeschaffenen Substanz.

 Leibniz bezeichnete die Elemente der Wirklichkeit als  Kraftpunkte. Dies wird in der Literatur vielfach als Vorwegnahme der Materiedefinition Einsteins angesehen.

Für die Französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts war Materie das einzig existierende. Die Kenntnis der Materie reiche aus, alles zu erklären. Jede Metaphysik, die hinter der Materie ein selbständiges geistiges Prinzip suche, sei Täuschung, Hirngespinst.

Ähnlich sahen dies die Naturwissenschaftlichen Materialisten des 19. Jahrhunderts.

Im Anschluss an  Leibniz sah Kant in seiner  vorkritischen Zeit  das Wesen der Materie als Kraft. In der  Kritik der reinen Vernunft war für Kant Materie das, was die Sinne affiziert, die  Dinge an sich von denen wir nichts wissen könnten. (Deren Existenz sich Kant aber sicher war.)

Ein Kennzeichen des Neukantianismus war der Verzicht auf das Ding an sich, also auf die Materie. Einer der Wegbereiter des Neukantianismus, Friedrich Albert Lange, meinte, der  Materialismus sei als Forschungsprinzip der Wissenschaft unentbehrlich, aber die Materie sei letztlich ein Begriff des Verstandes.

Nach  Fichte ist die Materie ein Produkt oder noch genauer eine Vorstellung des subjektiven Geistes. Und nichts außerdem. (Siehe  Subjektiver Idealismus.)

 Schelling hatte Fichte entgegengehalten, dass der subjektive Geist ein Produkt der Materie sei, die Materie aber ihrem innersten Wesen nach objektiver Geist. (Siehe  Objektiver Idealismus.) Materie und Geist sind für Schelling identisch.

 Hegel zog nach seiner Überzeugung aus der These Fichtes und der Antithese Schellings die Synthese und sagte, subjektiver Geist und objektiver Geist seien identisch. (Siehe  Absoluter Idealismus.)  Materie bei Hegel ist entfremdeter, unbewusster, sich vergessenhabender Geist. Sie sei eine Art Zwischenprodukt im Verlaufe der dialektischen Selbstentfaltung des  »Weltgeistes«. Für Hegel ist Materie nicht mit dem Geist gleichwertig, sie ist ein Moment des Geistes. (Um Missverständnissen vorzubeugen, sei erwähnt, dass Hegel selbst den Begriff  »objektiver Geist« anders verwendet, als ich das hier mache.)

 Marx und Engels erhoben den Anspruch, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben. Für sie war der Geist ein Produkt der Materie. Materie aber nicht etwa wie bei Schelling objektiver Geist. Materie war für sie das Ursprüngliche im Sein. Marx und Engels Materiebegriff war noch identisch mit dem Materiebegriff der Naturwissenschaft des 19. Jahrhundert. Abgesehen von der Dialektik gründeten sie ihren  Materialismus auf  Leukipp und Demokrit.

Weitgehend war der Materiebegriff von Marx und Engels allerdings nicht deren originäre Schöpfung. Sie hatten ihn von Ludwig Feuerbach übernommen.

Mit den neuen naturwissenschaftlich Theorien konfrontiert, hat Lenin zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, den  Materialismus dadurch zu retten, dass er den Materiebegriff neu definierte. Materie ist nach ihm »eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität.« Materie sei alles, was unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existiere, also auch elektromagnetische Felder, Strahlungen, aber auch Gesetzmäßigkeiten oder soziale Prozesse und alles was in Zukunft noch entdeckt werden sollte. So wollte Lenin erreichen, dass der Materiebegriff nie veralten kann. [Damit hat er aber den Materiebegriff soweit gefasst, dass er jeden Erklärungswert verliert. Lenins Materiebegriff war faktisch die Bankrotterklärung des Materialismus. Wenn alles Materie ist, was nicht menschliches Bewusstsein ist, dann wäre ein Gott oder eine wie auch immer geartete geistige Ursache der Welt per Definition eben Materie.]  Lenin hat allerdings auch mal zwischen physikalischem und philosophischem Materiebegriff unterschieden, ohne das dies für seine Philosophie eine dauerhafte Bedeutung hatte.

Russell kam in Verlaufe seines Philosophierens zu der Auffassung, dass es keinen Grund gebe, zwischen unseren Bewusstseinsinhalten und der Materie einen Unterschied zu machen.

Für Wittgenstein ist – wie für viele andere moderne Sprachphilosophen – die Materie ein Sprachprodukt und Probleme um die Materie Sprachprobleme.

Nach Hans-Peter Dürr existiert in der Quantenwelt primär nur Zusammenhang ohne materielle Grundlage. Materie und Energie würden erst sekundär in Erscheinung treten, als Gischt auf einem Meer, das selbst nicht materiell sei.


Meine Auffassung von der Materie

Die Existenz der Materie vorauszusetzen ist im praktischen Leben und in der Wissenschaft unverzichtbar. Wenn man aber anfängt zu philosophieren, wenn man nach sicherem Wissen sucht, dann wird die Materie zweifelhaft. Sie wird zu Bewusstsein, zu außerhalb von mir erlebtem Bewusstsein. (Näher ausgeführt habe ich dies in meinem Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus.)

Es wurde mehrfach meine Behauptung kritisiert, Materie könne sich in Energie »und damit in Bewegung« auflösen. Das Missverständnis entsteht wahrscheinlich dadurch, das es den Begriff »Bewegungsenergie« gibt und daneben noch weitere Energiebegriffe. Aber nicht nur Bewegungsenergie, jede Energieart ist in letzter Instanz Bewegung und jede Energieart ist in jede andere Energieart umwandelbar. Außerdem bedeutet Bewegung nicht nur Änderung des Platzes im Raum. Näheres in den philolex-Beiträgen Energie und Bewegung.


Zitate zu Materie

David Bohm: »Die Trennung der zwei – Materie und Geist – ist eine Abstraktion.« »Materie bildet daher nur ein winziges Tröpfchen jenes Ozeans an Energie, in welchem sie relativ stabil und manifestiert ist.«

Giordano Bruno: »Wenn also Geist, Seele und Leben sich in allen Dingen vorfindt und in gewissen Abstufungen die ganze Materie erfüllt, so ist der Geist offenbar die wahre Wirklichkeit und die wahre Form aller Dinge.«

Hans-Peter Dürr: »Primär existiert nur Zusammenhang, das Verbindende ohne materielle Grundlage. Wir könnten es auch Geist nennen. Etwas, was wir nur spontan erleben und nicht greifen können. Materie und Energie treten erst sekundär in Erscheinung – gewissermaßen als geronnener, erstarrter Geist.«

Ralph Waldo Emerson: »Die Welt ist materialisierter Geist.«

Friedrich Hebbel: »Der Geist wird wohl die Materie los, aber nie die Materie den Geist

Hegel: »Die Materie hat die Substanz außer ihr; der Geist ist das Bei-sich-selbst-Sein.«

Werner Heisenberg: »Die Elementarteilchen können mit den regulären Körpern in Platons Timaios verglichen werden. Sie sind die Urbilder, die Ideen der Materie.«

Immanuel Kant: »Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos.«

Krishnamurti: »Das Denken ist immer alt, denn das Denken ist die Reaktion der Erinnerung als Wissen und Erfahrung. Das Denken ist Materie.«

Lenin: »In der Welt existiert nichts als die sich bewegende Materie, und die sich bewegende Materie kann sich nicht anders bewegen als im Raume und in der Zeit

Novalis: »Alles ist Materie, was mittels der Organe zu uns kommt.«

Planck: »Es gibt keine Materie, sondern nur ein Gewebe von Energien, dem durch intelligenten Geist Form gegeben wurde.«

Friedrich Schelling: »Der erste, der Geist und Materie mit vollem Bewusstsein als Eines, Gedanke und Ausdehnung nur als Modifikationen desselben Prinzips ansah, war Spinoza

Friedrich Schiller: »Das Schicksal der Seele ist in die Materie geschrieben.«

Arthur Schnitzler: »Wer Materie sagt, sagt Geist, ob er es will oder nicht. Denn sie wäre überhaupt nicht vorstellbar ohne Geist. Und wer Geist sagt, sagt Materie, denn ohne Materie könnte er es nicht sagen, nicht einmal denken


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Anmerkungen

Anm. 1: Wenn das Universum kurz nach dem Urknall die Größe eines Atomkerns hatte, wo war da die riesige Menge an Materie, die es heute im Universum gibt? Die musste sich doch erst bilden. Aber aus was? Der Physik nach aus Energie, aus unvorstellbar viel Energie, die damals zu der Größe eines Atomkerns zusammengeballt war. Diese Überlegungen führen mich dazu, den  Materialismus nicht nur aus philosophischer, sondern auch gerade aus physikalischer Sicht nicht für besonders plausible zu halten. Dann schon eher der  Energismus. Aber was ist eigentlich Energie? Das Vermögen, Arbeit zu leisten. So ließt man es in jedem Lexikon. Danach besteht das Universum aus dem Vermögen Arbeit zu leisten. So gesehen ist die Materie ein Arbeitsprodukt. Sie liegt nicht dem Universum zugrunde, sondern ist sozusagen die zweite Ebene. Der Geist bzw. das Bewusstsein könnte eine weitere noch höhere Ebene sein. Eventuell ist der Geist aber auch das Primäre, das Grundsätzliche. Eventuell existieren Energie, Materie und alles weitere nur im Geist, im Weltbewusstsein. Die Welt, in der wir und erleben, ist ein Bild, das wir uns in unserem Bewusstsein von der Welt machen. Über das, was hinter unserem Bild liegt, darüber können wir letztlich nur Mutmaßungen anstellen. Zurück zum Text

Anm. 2: Nicht jeder agnostizistische Philosoph sieht sich selbst als solchen. Der Kritische Rationalist Hans Albert sagt von sich, er sei Atheist und die Anerkennung des wissenschaftlichen Weltbildes laufe von selbst auf den  Realismus hinaus. Mir ist nicht bekannt, ob sich Albert als Realist sieht. Als konsequenter Fallibilist dürfte er sich eigentlich weder als Atheist noch als Realist bezeichnen. Denn die (nicht mehr in Zweifel gezogene) Festlegung auf eine atheistische und realistische Position hebt den Fallibilismus auf. So sehe ich es jedenfalls. Zurück zum Text


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