Bedürfnisse

Bedürfnisse sind ein zentraler Aspekt  menschlicher Existenz. (Das gilt für alle Lebewesen und darüber hinaus für die unorganische Natur. Wenn z. B. zwei Atome oder zwei Moleküle sich verbinden, dann, weil sie ein Bedürfnis danach haben.)

Ein Bedürfnis ist bei Lebewesen der Wunsch, einen gewissen Gefühlszustand zu erreichen bzw. zu erhalten und damit zugleich einen anderen Gefühlszustand zu beseitigen bzw. zu vermeiden. [1] (Und da wir eng mit unserer Umwelt verzahnt sind, bedeutet dies häufig auch ein Streben nach Änderung oder Beibehaltung gewisser Umweltzustände.)

Beispiele:

Häufig wird der Prozess der Bedürfnisbefriedigung für einen größeren Genuss gehalten, als die »fertige« Befriedigung. Dadurch entstehen neue Bedürfnisse, z. B. das Hinauszögern, das Verlängern des Prozesses einer Bedürfnisbefriedigung. Beispiele: Möglichst viel und lange essen (bis hin zum zwischenzeitlichen Erbrechen wie im alten Rom); Hinauszögern des Orgasmus'.

Die Bedürfnisse sind sehr vielfältig und zum Teil widersprüchlich. Nur eine kleine Auswahl um dies zu verdeutlichen:

  1. Natürliche Bedürfnisse wie atmen, trinken, essen, Obdach, Kleidung, Sexualität.
  2. Bedürfnisse, die sich aus der Gesellschaftlichkeit des Menschen ergeben wie Liebe, Beachtung, Anerkennung, Kommunikation, aber auch nach Macht über andere.
  3. Bedürfnisse kultureller Art, Unterhaltung, Sport. (Viele natürliche Bedürfnisse sind auf Grund ihrer konkreten heutigen Ausbildung zu kulturellen Bedürfnissen geworden.)
  4. Geistige Bedürfnisse wie Kunst, Wissenschaft und Philosophie.

Letztere Bedürfnisse halte ich für qualitativ höherstehend, ohne die »niederen« Bedürfnisse deshalb zu verschmähen. Zum großen Teil sind sie überlebenswichtig, können aber auch im Prozess der »Überwucherung des Mittels über den Zweck« (siehe  Vaihinger) verfeinert werden. Z. B. dienten Essen und Sex ursprünglich mal nur der Erhaltung des Individuums und der Art. Heutzutage ist Essen bei vielen Menschen nicht einfach nur Stoffwechsel mit der Natur und Energieaufnahme, sondern Selbstzweck. Geschmack und Ambiente spielen eine große Rolle. Ähnlich ist es mit der Sexualität, die nur noch in Ausnahmefällen zur Erzeugung von Nachwuchs praktiziert wird.

Die Befriedigungen verschiedener Bedürfnisse geraten oft in Widerspruch zueinander. Beispiel: Viel Essen, viel Ruhe und gleichzeitig schlank sein, lässt sich schwer realisieren. In solchen Fällen kommt man nicht herum, sich für das Eine und gegen das Andere zu entscheiden, oder verschiedene Bedürfnisse nur teilweise zu befriedigen.

Das Streben nach Bedürfnisbefriedigung sollte seine Grenzen nur dort haben, wo man anderen Leid zufügt. Jede andere Art der Begrenzung lehne ich ab. (Ob eine bestimmte Art von Bedürfnisbefriedigung anderen Leid zufügt, ist im Einzelnen aber nicht immer genau feststellbar, bzw. umstritten.)


Das wichtigste Ziel aller gesellschaftlicher und individueller Anstrengungen sollte es sein, gesellschaftliche und individuelle Lebensumstände zu schaffen, in denen es den Menschen in immer umfassenderen Maße möglich ist, die ihnen wichtig erscheinenden Bedürfnisse zu befriedigen.



Das schließt nicht aus, dass man auch immer wieder auf's Neue darüber nachdenken sollte, ob man nicht bestimmte Bedürfnisse im Interesse anderer Bedürfnisse aufgeben sollte.

Ich unterscheide zwischen primären und sekundären Bedürfnissen, was besonders auch bei der Begründung von Ethik eine Rolle spielt. (Primäre Bedürfnisse: Liebe, Geselligkeit, Produktivität u. ä. Sekundäre Bedürfnisse: Hass, Ungeselligkeit, Destruktivität, Sadismus u. ä.) Näher ausgeführt habe ich dies in Meiner Philosophie.

Mit den Bedürfnissen und ihrer Befriedigung bzw. der Unmöglichkeit sie zu befriedigen, hängen bewusst oder unbewusst unsere Vorstellungen von  gut und böse,  gerecht und ungerecht zusammen. Die Möglichkeit Bedürfnisse zu befriedigen, empfinden wir als gut und gerecht, die Unmöglichkeit Bedürfnisse zu befriedigen, empfinden wir als böse und ungerecht. Eine total gerechte Welt hätten wir dann, wenn alle Bedürfnisse befriedigt werden könnten. Dies ist aber wegen der Widersprüchlichkeit der Bedürfnisse innerhalb eines Menschen und zwischen den verschiedenen Menschen unmöglich.

In der  kommunistischen Gesellschaft sollte nach  Marx jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten und jeder nach seinen Bedürfnissen von dem Vorhandenem nehmen. Das scheitert u. a. daran, dass die Bedürfnisse eines Menschen im Prinzip grenzenlos sein können und man ohne eine wie auch immer geartete Reglementieren bei der Verteilung der Güter nicht auskommt. Außerdem beziehen sich Bedürfnisse nicht nur auf tote Gegenstände oder Tätigkeiten, sondern auch auf andere Menschen. In diesem Falle ist das Begehrte selbst ein sich wissendes, Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen habendes Wesen, auf das man nicht einfach nach seinen Bedürfnissen zugreifen kann. (Jedenfalls wenn man eine humanistische Ethik zu Grunde legt.)

Wenn die Existentialisten dem menschlichen Leben den Sinn absprechen, dann sage ich: »Der Sinn des Lebens ist die Befriedigung von Bedürfnissen.« Das Problem ist nicht die angebliche Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz, sondern dass viele Menschen sich ihre Existenz nicht erhalten können, weil sie sich elementare Bedürfnisse – Essen, Gesundheit – nicht befriedigen können. Auch Menschen, die die lebensnotwendigen Bedürfnisse befriedigen können, empfinden die Unmöglichkeit bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, häufig als ihr größtes Problem. Beispiele: Man hat einen bestimmten Partner nicht oder nicht mehr. Man wird eine bestimmte Krankheit nicht mehr los. Man kann sich bestimmte Konsumgüter nicht leisten. Und dass am Ende der Tod steht – worauf Existentialisten permanent hinweisen – sollte einen nicht davon abhalten, solange man lebt, seine Bedürfnisse so gut wie geht zu befriedigen. (Was danach kommt, kann man sowieso nicht mit Sicherheit wissen.)


Zitate zu Bedürfnisse

Albert Einstein: »Ein Leben, das vor allem auf die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist, führt früher oder später zu bitterer Enttäuschung.«

Epikur: »Willst du jemanden reich machen, musst du ihm nicht das Gut mehren, sondern seine Bedürfnisse mindern.«

Ludwig Erhard: »Menschen oder eine Gesellschaft, die ohne Wünsche oder Bedürfnisse wären, sind einfach undenkbar.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Menschen gibt, der nicht immer neue Bedürfnisse hat.«

Iring Fetscher: »Die Werbung schenkt uns neue Bedürfnisse und nimmt uns Stück um Stück die eigene Sprache.«

Georg Forster: »Der Sklav seiner Bedürfnisse ist die Beute aller, die ihn umgehen; er schleppt eine Kette, an der man ihn leiten kann, wohin man will.«

Michel Foucault: »Die Bedürfnisse und der Austausch der Produkte, die jene befriedigen können, sind stets das Prinzip der Ökonomie: sie sind ihr Motor und setzen ihre Grenzen. Die Arbeit und ihre Teilung sind nur Auswirkungen davon.«

Mahatma Gandhi: »Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.« »Wahre Zivilisation besteht nicht in der Vervielfachung der Bedürfnisse, sondern in freiwilliger, wohlüberlegter Einschränkung der Wünsche.«

Goethe: »Die Menschheit ist bedingt durch Bedürfnisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig; sind sie befriedigt, so erscheint sie gleichgültig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zuständen.« »Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum Glauben.«

Christian Friedrich Hebbel: »Am Ende existiert der Mensch nur durch seine Bedürfnisse.«

Wilhelm von Humboldt: »Alles, was dem Bedürfnis ähnlich ist, hat die Eigentümlichkeit, dass man es viel weniger genießt, wenn man es hat, als es schmerzt, wenn man es entbehrt.« [!!!]

François de La Rochefoucauld: »Wer klug sein will, soll seine Bedürfnisse in eine Rangordnung bringen und sie gemäß dieser Ordnung befriedigen. Freilich stört uns dabei die Begierde, die uns vielen Dingen zugleich nachjagen lässt, so dass wir Wichtiges verfehlen, weil wir nach Unwichtigem greifen.«

Lichtenberg: »Verminderung der Bedürfnisse sollte wohl das sein, was man der Jugend durchaus einzuschärfen und wozu man sie zu stärken suchen müsste. Je weniger Bedürfnisse, desto glücklicher, ist eine alte, aber sehr bekannte Wahrheit.«

Kartl Marx: »Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. [...] Werden die theoretischen Bedürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein? Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.« [2]

Friedrich Nietzsche: »Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen; unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.« »Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: In Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.«

Blaise Pascal: »Der Mensch ist voller Bedürfnisse. Er liebt nur jene [Menschen], welche sie befriedigen können.«

Arthur Schopenhauer: »Alles Wollen entspringt aus Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leiden.« »Dass das menschliche Dasein eine Art Verirrung sein müsse, geht zur Genüge aus der einfachen Bemerkung hervor, dass der Mensch ein Konkrement von Bedürfnissen ist, deren schwer zu erlangende Befriedigung ihm doch nichts gewährt als einen schmerzlosen Zustand, in welchem er nur noch der Langeweile preisgegeben ist.«

Seneca: »Die natürlichen Bedürfnisse haben ihre Grenzen, die aus einem Wahn entstandenen finden kein Ende.«

Hans Söhnker: »Kein Bedürfnis auf Erden wird so häufig befriedigt wie das Geltungsbedürfnis.«

Jonathan Swift: »Die Lehre der Stoiker, dass wir unseren Bedürfnissen durch Ausrottung unserer Begierden abhelfen sollen, kommt mir ebenso vor, als wenn wir uns die Füße abschneiden sollten, damit wir keine Schuhe brauchen.«

Leo Tolstoi: »Ehe man vom Glück der befriedigten Bedürfnisse redet, sollte man entscheiden, welche Bedürfnisse das Glück ausmachen.« »Je mehr du eines deiner Bedürfnisse befriedigst, umso stärker wird es, und je weniger du es befriedigst, umso weniger macht es sich geltend.« [Das trifft aber nicht auf alle Bedürfnisse zu.]

Franz Werfel: »Der sicherste Reichtum ist die Armut an Bedürfnissen.«

Voltaire: »Eine weitere Ursache unserer Armut sind unsere neuen Bedürfnisse.«


Anmerkungen

Anm. 1: Ein Bedürfnis ist damit ein dialektischer Widerspruch zwischen einem vorhandenen und einem anderen möglichen Gefühlszustand. Da unsere Bedürftigkeit Ursache unserer Tätigkeiten, anders ausgedrückt Bewegungen sind, hat man hier ein gutes Beispiel dafür, wie aus Widersprüchlichkeit Bewegung entsteht. Zurück zum Text

Anm. 2: Und zu Marxens Gedanken hat sich die Wirklichkeit nicht gedrängt. So ist es nun mal. Auch wenn's einem nicht gefällt. Das Kuriose ist, dass die Kommunisten zwar ständig vom Primat des Seins gegenüber dem Bewusstsein, vom Primat der Wirklichkeit gegenüber den Gedanken sprachen, tatsächlich aber versuchten, der Wirklichkeit ihre Gedankengebäude aufzunötigen, was nicht funktionierte. (Diesen Vorwurf kann man allerdings nicht Marx machen, sondern den »Marxisten« des 20. Jahrhunderts. Marx muss man den Vorwurf machen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in der Zukunft falsch eingeschätzt zu haben.) Zurück zum Text


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