»Die Natur verfahre mit uns wie ein Schurke, der Unschuldige auf eine angenehme, im Grunde jedoch verlorene Mission schicke. Je klüger jemand im Leben werde, desto mehr nähere er sich dem Grabe.« Stanislaw Lem [1]




Peter Möller

Gegen die Idealisierung der Natur

Was für ein Idyll: Ein See umgeben von Wald und Flur. Das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen, das Quaken der Frösche, hier ein Graureiher, dort kreist ein Adler. Und auf der Wiese spielen kleine Füchse. Sind sie nicht goldig? Oh, du himmlische Natur!

Dies Idyll entpuppt sich bei näherem Hinsehen allerdings als ein großes Schlachtfeld. Dort wird ständig und unter Qualen gestorben! Der Vogel, dessen Zwitschern uns eben noch erfreute, wird Sekunden darauf vom Adler bei lebendigem Leibe zerrissen. (Wir merken nichts davon. Inzwischen zwitschern andere Vögel.) Die zirpende Grille verschwindet im Magen des Frosches und dieser verschwindet im Magen des Graureihers und er hat noch Glück, dass er erstickt, bevor die Magensäure ihn zersetzt. Einer der jungen Füchse beansprucht die gesamte Beute der Mutter für sich (ein gerissenes Kaninchen, dessen Junge nun im Bau verhungern oder erfrieren), die Geschwister bekommen nichts zu fressen, das interessiert ihn nicht, genauer: davon weiß er gar nichts.

Wer die Natur für ein »Paradies« hält, der müsste einen Metzger für einen Engel halten.



Die Idealisierung des Naturzustandes beruht auf einer Verkennung der Realität. Die Natur ist ein großes Restaurant, in dem jedes Lebewesen sowohl Gast als auch die angebotene Speise ist. Jeder Gast versucht nicht nur, die anderen Gäste zu fressen, sondern den Erfolgreichen die Beute abzujagen und sie dafür notfalls zu erschlagen.


Die Natur ist nur idyllisch für den Beobachter von außen, der wir modernen Menschen ja schon in einem beträchtlichen Maße sind.



Natur, das sind nicht nur die – aus unserer Sicht – niedlichen Tiere und schönen Pflanzen, das sind auch nicht nur die Stechmücken und Wanzen, das sind die Krankheitserreger, das ist die Pest und die Pocken, Typhus und Diphtherie. Für viele Menschen sind diese Krankheiten heute keine Gefahr mehr, weil wir modernen Menschen Kulturwesen geworden sind, die mit Hilfe von Wissenschaft und Technik diese Krankheiten besiegt haben.

Die Natur stattet uns mit Trieben aus, viele von uns haben aber keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, die aus diesen Trieben sich ergebenen Bedürfnisse zu befriedigen, was Unglück zur Folge hat, zum Teil so großes Unglück, dass Menschen sich umbringen.

Natur bedeutet altern, bedeutet Verschleiß, bedeutet, dass wir mit Siebzig vergreisen, dass unsere Gelenke nicht mehr richtig funktionieren, dass einige von uns nur noch unter Schmerzen gehen können, bei anderen funktionieren Augen und Ohren nicht mehr richtig etc. Die Idealisierung der Natur bedeutet letztendlich die Idealisierung von Verfall, Krankheit, Schmerzen und Tod.


Die Natur besteht zu einem großen Teil aus Scheiße.


»So funktioniert die Welt nun mal?« Nein! Die Welt funktioniert zur Zeit so. Ob sie für alle Ewigkeit so funktionieren muss, dass ist eine ganz andere Frage.

Auch die Idealisierung des »Urzustandes der Menschheit« beruht auf einer Verkennung der Realität. Es wird darauf hingewiesen, dass die Menschen in Übereinstimmung mit der Natur gelebt hätten, dass das ökologische Gleichgewicht gewahrt gewesen sei. Aber auch die Steinzeitmenschen haben Kriege geführt, ganze Tierherden über Klippen stürzen lassen, obwohl sie nur wenige Prozente des Fleisches, der Felle etc. verwerten konnte. Außerdem bedeutete die Urgesellschaft niedriger Lebensstandart aber harte Knochenarbeit, ständige Lebensgefahr, sehr geringe Möglichkeiten Krankheiten zu bekämpfen, Schmerzen zu lindern etc.

Die wenigsten Menschen, die den »Urzustandes der Menschheit« idealisieren, ziehen die Konsequenz daraus, sich in eine Landkommune zu begeben oder sich in Gegenden der Erde anzusiedeln, in denen noch weitgehend der Naturzustand herrscht. Das bedeutet nämlich das Ende der Bequemlichkeit, des Luxus. Man sitzt in seiner zentralgeheizten Wohnung, sieht fern, ließt mit Hilfe der Brille Bücher und wettert gleichzeitig über die Technik, ohne die es dies alles nicht geben würde. [2]


Weitere philolex-Beiträge, in denen die Idealisierung der Natur kritisiert wird:



Zitate zu Natur

Anaxagoras: »Die Natur kennt keine Vernichtung, nur Metamorphose

Ludwig Anzengruber: »Nicht die Natur, nur der Mensch kennt Erbarmen, aber nicht oft lässt er es walten.«

Francis Bacon: »Wir können die Natur nur dadurch beherrschen, dass wir uns ihren Gesetzen unterwerfen.«

Ludwig Börne: »Hätte die Natur so viele Gesetze, als der Staat, Gott selbst könnte sie nicht regieren.«

Bertolt Brecht: »Die Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte.«

Charles Darwin: »Alle Natur befindet sich im Krieg miteinander oder mit der äußeren Natur.«

Richard Dawkins: »Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. In der Minute, in der ich diesen Satz niederschreibe, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe gefressen; andere laufen bebend vor Angst um ihr Leben; wieder andere werden langsam und von innen heraus durch gefräßige Parasiten zugrunde gerichtet.«

Epikur: »Tiere und kleine Kinder sind der Spiegel der Natur.«

Ernst von Feuchtersleben: »Der Natur ist so viel abzulernen: die Ruhe, die Unermüdlichkeit, die stete Produktion, die Dauer im Wechsel, die Grandiosität, die fortbildende Entwicklung.«

Ludwig Feuerbach: »Die Natur antwortet nicht auf die Klagen und Fragen des Menschen; sie schleudert unerbittlich ihn auf sich selbst zurück.«

Galileo Galilei: »Das Buch der Natur ist mit mathematischen Symbolen geschrieben.«

Goethe: »Wo fass ich dich, unendliche Natur? // Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens.« [Grabscher ;-)] »Wohl ist alles in der Natur Wechsel, aber hinter dem Wechselnden ruht ein Ewiges.«

Friedrich Hebbel: »Der Mensch kann die Natur nicht erreichen, nur übertreffen; er ist entweder über ihr oder unter ihr.« »Auf Selbstgenuss ist die Natur gerichtet, und alle ihre Geschöpfe sind nur Zungen, womit sie sich schmeckt.«

Hegel: »Werden, Entwicklung, Entfaltung ist das allgemeine Gesetz der menschlichen Dinge, wie das der Natur.«

Heraklit: »Die Natur liebt es, sich zu verbessern.«

Herder: »Alles ist in der Natur verbunden: Ein Zustand strebt zum anderen und bereitet ihn vor.«

Thomas Hobbes: »Der Naturzustand der Menschen, bevor man sich zur Gesellschaft vereinigte, war Krieg; und dieser nicht in gewöhnlicher Weise, sondern als Krieg aller gegen alle.«

Lessing: »In der Natur ist alles mit allem verbunden, alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere.«

Lichtenberg: »Die Natur hat bei dem Bau des Menschen ihren Plan auf 90 Jahre angelegt. Er selbst aber fand es für besser, ihn nach seinem eigenen Plan zu bearbeiten.« [Warum sollte sich der Mensch auch von der Natur vorschreiben lassen, wie lange er zu leben hat.]

Kant: »Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgendeiner Absicht gut. Die ganze Natur überhaupt ist eigentlich nichts anderes, als ein Zusammenhang von Erscheinungen nach Regeln; und es gibt überall keine Regellosigkeit.«

Marcus Aurelius: »Alles was du siehst, wird die Natur bald verwandeln und aus diesem Stoff andere Dinge schaffen und aus deren Stoff wiederum andere, damit die Welt immer verjüngt werde.«

Paul Mommertz: »Das Tier passt sich der Natur an, der Mensch passt die Natur sich an.« [Im Rahmen seiner Möglichkeit. Und die werden hoffentlich noch beträchtlich wachsen.]

Nietzsche: »In der Natur fühlen wir uns so wohl, weil sie kein Urteil über uns hat.« »Man soll nicht falsche Personen erfinden z. B. nicht sagen ›die Natur ist grausam‹. Gerade einzusehen, dass es kein solches Zentralwesen der Verantwortlichkeit gibt, erleichtert!« [Ob die Natur grausam ist, lässt sich wie vieles anderes auch dialektisch mit Ja und Nein beantworten.]

Rousseau: »Zurück zur Natur!« [Rousseau gehört zu den Philosophen, die ich am wenigsten mag!]

Schelling: »Wir haben eine ältere Offenbarung als jede geschriebene, die Natur.«

Johannes Scherr: »Werden, wachsen, blühen, welken, vergehen! Das ist das ewige Gesetz der Natur und der Geschichte.«

Schiller: »Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott

Schopenhauer: »Es gibt nur eine Heilkraft, und das ist die Natur; in Salben und Pillen steckt keine.« [Das stimmt heutzutage zumindest für einen Großteil der Salben und Pillen nicht.] »Es ist nicht genug, dass man verstehe, der Natur Daumenschrauben anzulegen; man muss die auch verstehen können, wenn sie aussagt.« »Der Natur liegt bloß unser Dasein, nicht unser Wohlsein am Herzen.«

Albert Schweitzer: »Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.«

Kurt Tucholsky: »Es gibt keine richtige Art, die Natur zu sehen. Es gibt hundert.«

Iwan Sergejewitsch Turgenjew: »Die Natur ist kein Tempel, sondern eine Werkstatt, und der Mensch hat darin zu arbeiten.«

Friedrich Theodor von Vischer: »Natur, du seltsam Ding! An einem Ende gemein, am andern seelisch fein und doch geschlossener Ring.«

Carl Vogt : »Die Naturgesetze sind rohe, unbeugsame Gewalten, welche weder Moral noch Gemütlichkeit kennen.«

Oscar Wilde: »Nichts ist offensichtlicher, als dass die Natur die Vernunft hasst.«

Zhuang Zhou: »Das Wirken der Natur zu erkennen, und zu erkennen, in welcher Beziehung das menschliche Wirken dazu stehen muss: das ist das Ziel.«


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Anmerkungen

Anm. 1: Stanislaw Lem, Sternentagebücher, S. 223, Suhrkamp 1978. Ein paar Absätze weiter heißt es dann allerdings auch: »Statt ›memento mori‹ sollte man immer wieder sagen ›estote ultores‹, strebt die Unsterblichkeit an, selbst um den Preis des Verlustes eures traditionellen Äußeren ...« So sehr ich auch die Anstrengungen zur Lebenszeitverlängerung begrüße und den Tod als nicht wünschenswert erachte, so halte ich doch die Unsterblichkeit auf Basis einer  materialistischen Weltanschauung für unmöglich. (Näheres hierzu in meinen Aufsatz Ist der Tod überwindbar?) Im Übrigen möchte ich noch anmerken, dass die Mission, auf die uns die Natur schickt, nur für Wenige eine angenehme ist, für viele Menschen ist sie eine extrem unangenehme. Zurück zum Text

Anm. 2: Ich halte mich hin und wieder gerne in der Natur auf! Ich fahre mit dem Rad aus Spaß durch Wald und Flur, an Flüssen und Seen entlang. Aber ich mache mir keine Illusionen darüber, wie es um die Lebewesen bestellt ist, die nur in der Natur leben. So schön ein Ausflug in die Natur auch ist, ich bin froh eine Wohnung zu haben, Ärzte, Supermärkte etc. Alles dies und vieles angenehme mehr haben die Lebewesen in der Natur nicht. Zurück zum Text


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