Herbert Spencer (18201903) war der bedeutendste englische Philosoph des 19. Jahrhunderts. Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr hatte Spencer mit Philosophie nichts zu tun. Er war Ingenieur, Erfinder und Journalist. Dann wurde er einer der Hauptvertreter des Evolutionismus. Er benutzte vor Darwin Formulierungen wie »Kampf ums Dasein« und »Überleben der Tüchtigsten«. Spencer war in einem starken Maße Sozialdarwinist, was aber nicht so verstanden werden darf, dass er mit Nietzsche vergleichbar wäre. Im Gegensatz zu diesem vertrat Spencer den Liberalismus und Altruismus. (Letzteres ist allerdings umstritten, da es von Spencer auch sehr unsoziale Aussagen gibt.)
Positivismus: Unser Denken habe sich im Umgang mit den Erscheinungen entwickelt. Es sei nicht fähig uns darüber hinaus zu Letztem und Absolutem zu führen. Anstatt uns mit Unerkennbarem zu beschäftigen, sollten sich die Menschen auf das beschränken, was ihnen möglich sei: Die Erscheinungen ordnen. Dies in stets wachsendem Umfang zu machen, sei die Aufgabe der Philosophie. (Wie Comte.)
Statisches und dynamische Prinzip: Das statische Prinzip sei die Erhaltung der Kraft. Das dynamische Prinzip sei das Gesetz der Entwicklung.
Vom Boden des Entwicklungsgedankens aus untersuchte Spencer alle Erscheinungsgebiete und Wissenschaften. In seinem Hauptwerk System der synthetischen Philosophie beschrieb er die Entwicklung der Welt vom anfänglichen Chaos über alle Zwischenstufen bis zur menschlichen Kultur. Dabei ging es ihm darum, aus der Entwicklung auf den verschieden Gebieten allgemeine Gesetze abzuleiten. Das oberste Gesetz sei folgendes:
»Die Entwicklung ist eine Integration der Materie, die von einem Aufwand an Bewegung begleitet wird; während ihres Verlaufs geht die Materie aus unbestimmter, zusammenhangloser Homogenität in bestimmte, zusammenhangvolle Heterogenität über, und die aufgewendete Bewegung erleidet eine gleichlaufende Umformung.« Zitiert nach Störig, S. 481 |
Auf allen Erscheinungsgebieten vom Makrokosmos bis in den Mikrokosmos, im Weltall wie im subatomar Bereich, bei den unorganischen und organischen molekularen Verbindungen, in der Natur, in der menschlichen Gesellschaft, im Denken der einzelnen Individuen u. v. m., bedeute Entwicklung Anhäufung getrennter Teile zu Massen, Gruppen, Ganzheiten, Strukturen. Dadurch entstehe ein schützendes Geflecht von Zusammenhang und Abhängigkeit. Die Beweglichkeit der Teile gehe zurück, das Leben des Ganzen werde gefördert. Gleichzeitig gehe aus der Eintönigkeit des Urzustandes eine ungeheuere Vielfalt der Erscheinungen auf allen Gebieten hervor. Millionen Arten von Molekülen, Millionen Arten von Lebewesen, [Milliarden von DNS-Ketten, die jede für sich einzigartig ist, kann man heutzutage hinzufügen], Milliarden Individuen mit einzigartigem Charakter, eine Wissenschaft zeuge hundert weitere, eine Sprache zeuge hunderte Dialekte usw.
Neben dem Prozess der Integration gebe es den entgegengesetzten, den der Dissolution. Es gebe einen Zyklus von Entstehen und Vergehen.
In der Religion entstünden nach dem Gesetz der Integration aus dem einfachen Geisterglauben ( Animismus) über den Polytheismus der Monotheismus mit einem einheitlichen Gottesbegriff.
Die Gesellschaft gleiche einem Organismus. Auch in ihr gelte das allgemeine Entwicklungsprinzip.
Es gebe oberflächliche Entwicklung in der Gesellschaft, die nicht bedeutend seien, wie politische Veränderungen von Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Entscheidend sei die Entwicklung von der primitiven zur industriellen Gesellschaft. Diese sei friedlich und demokratisch. Staatsabsolutismus und Militarismus verschwänden. Die Durchlässigkeit der sozialen Schichten wüchse, die Frauen emanzipierten sich, die Menschen lösten sich von der Religion und wendeten sich der tatsächlichen Welt zu.
Spencer kritisierte den Sozialismus und die Anfänge des Sozialstaats: Diese Gesellschaftsformen seinen absolutistisch. Sie beinhalteten zwei Bedrohungen:
Die Grundsätze der Moral seien wandelbar. Bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten gab es sehr unterschiedliche.
Wenn Spencer Gäste nicht abweisen konnte, dann verstopfte er sich die Ohren und hörte ihnen geduldig zu. [Gute Methode!]
Spencer war ein Dogmatiker. Er nahm nur das wahr, was in seine Theorien passte. (Verifikation statt Falsifikation.) Mit den wissenschaftlichen und philosophischen Auffassungen anderer setzte er sich nicht oder so gut wie nicht auseinander.
Die industrielle Gesellschaft hat Spencer wohl etwas zu optimistisch angesehen, was Friedfertigkeit, Demokratie, Abkehr von der Religion anbetriffft, obwohl er, was die vorherrschenden Tendenzen anbetrifft, durchaus Recht hat.
Der »reale Sozialismus« im 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass Spencer mit seiner Kritik am Sozialismus gar nicht so verkehrt lag. Es herrschte dort diktatorisch eine pyramidenförmig aufgebaute Kaste von Funktionären, die von der Bevölkerung nicht gewählt, nicht kontrolliert und nicht abgesetzt werden konnte. Inzwischen sind die sozialistischen Systeme fast überall an ihrer wirtschaftlichen Ineffizienz zugrunde gegangen. In den wenigen Ländern, wo es noch solche Systeme gibt, herrscht allgemeine Armut bis hin zu Hungersnöten. (Wie in Nordkorea, wo es an der Tagesordnung ist, dass man an den Straßenrändern verhungerte Kinder findet.)
Sozialer Wohlfahrtsstaat und Wettbewerb lassen sich aber durchaus kombinieren, wie die moderne westliche Gesellschaft zeigt. (Mehr die europäische, weniger die amerikanische Form dieser Gesellschaft.) Die Gefahren, auf die Spencer hinweist, sollte man als politisch Handelnder aber Ernst nehmen und bei seinen Entscheidungen in Rechnung stellen. Das ist vielen Linken dringend anzuraten. So wie Liberalen und Konservativen wiederum anzuraten ist, sich klarzumachen, was eine nur auf Wettbewerb und Leistung orientierte Gesellschaft für negative Begleiterscheinungen hätte: Inhumanität und gesellschaftliche Instabilität. Die Wahrheit bzw. der richtige Weg liegt auch hier, wie so oft, wohl irgendwo in der Mitte. (Der gegenwärtige Sozialstaatsabbau trifft nicht auf meine Zustimmung.)
Man vergleiche mal den in England sehr populären Spencer mit dem in Deutschland sehr populären Nietzsche. Dann hat man vielleicht eine gute Erklärung für die verschiedenen nationalen Schicksale dieser beiden Länder.
Viele der folgenden Zitate sind von mir selbst aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Es kann also passieren, dass Sie diese Zitate anderswo etwas anders formuliert finden.
»Bildung jeder Art hat doppelten Wert, einmal als Wissen, dann als Charaktererziehung.«
»Ein für die kommunistische Theorie tödliches Argument ist die Tatsache, dass der Wunsch nach Eigentum eines der Elemente unserer Natur ist.«
»Selbstlosigkeit ist ausgereifter Egoismus.«
Evolution: »Ein Wechsel von einer unbestimmten, unzusammenhängenden Homogenität zu einer bestimmten, zusammenhängenden Heterogenität, begleitet von einer Umwandlung der Bewegung und einer Integration der Materie.«
»Dinge die wir leidenschaftlich verfolgen, bringen nur geringes Glück, wenn sie erreicht sind; das meiste unserer Freude kommt aus unerwarteten Quellen.«
»Die Gesellschaft besteht zum Nutzen ihrer Mitglieder, nicht ihre Mitglieder zum Nutzen der Gesellschaft.«
»Was der Käfig ist, für das wilde Tier, das ist das Gesetz für den selbstsüchtigen Menschen.«
»Genie kann erklärt werden als die Fähigkeit, mit geringer Mühe das zu vollbringen, was der gewöhnliche Mensch selbst unter Aufwand größter Mühe nicht vollbringen kann.«
»Glück ist das mächtigste Stärkungsmittel.«
»Das Glück liegt im Wünschen. Erfüllung ist zugleich Zerstörung.«
»Zu dem Eifer, die Wahrheit zu entdecken, muss der Eifer kommen, sie für das Glück der Menschheit zu gebrauchen.«
»Das große Ziel der Bildung ist nicht Wissen, sondern handeln.«
»Leben ist die dauernde Anpassung innerer Beziehungen an äußere.«
»Ein lebendes Ding unterscheidet sich von einem toten Ding durch die größere Menge an Veränderungen, die in jedem Moment stattfinden.«
»Meinung wird letztlich durch Gefühle und nicht durch den Intellekt bestimmt.«
»Teilnahme am politischen Leben ist die Pflicht eines jeden Bürgers, ihre Nichterfüllung ist zugleich kurzsichtig, undankbar und gemein.«
»Regierung ist vom Wesen her amoralisch.«
»Alte Regierungformen entwickeln sich schließlich so unterdrückerisch, dass sie selbst auf die Gefahr der Herrschaft des Terrors hin gestürzt werden müssen.« [Das ist eine Einladung zur Revolution!]
»Die republikanische Form der Regierung ist die höchste Form von Regierung: deshalb benötigt sie aber auch die höchste Form menschlicher Natur und die ist gegenwärtig nirgends existent.«
»Jeder Sozialismus beinhaltet Sklaverei.«
»Der Mensch ist entweder Opfer seines Schicksals oder Meister seiner Bestimmung.«
»Für gewöhnlich sehen wir in einer Steuer keine Verminderung der Freiheit, und doch ist sie offensichtlich eine.« [Ohne Steuern gebe es keine Freiheit! Freiheit muss geschützt werden, und das geht ohne Steuern nicht. Über einzelne Steuerarten und über die Höhe der Steuern kann man natürlich streiten.]
»Jede Ursache produziert mehr als eine Wirkung.«
»Das schließliche Resultat davon, die Menschheit vor den Wirkungen von Verrücktheit zu schützen, ist, die Welt mit Verrückten zu füllen..«
»Wir alle verachten Vorurteile, aber wir sind alle voreingenommen.«
»Wissen ist die niederste Art nicht vereinigten Wissens; Wissenschaft ist teilweise vereinigtes, Philosophie völlig vereinigtes Wissen.«
»In der Wissenschaft ist es wichtig, seine Ideen zu ändern und zu wechseln, wenn Wissenschaft fortschreitet.«
»Wer sich nie mit wissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hat, weiß nicht ein Zehntel von der Poesie, von der er umgeben ist.«
»Wie oft rufen falsch gebrauchte Wörter irreführende Gedanken hervor.«
»Zivilisation ist der Fortschritt von einer unbestimmten, unzusammenhängenden Homogenität zu einer bestimmten, zusammenhängenden Heterogenität.«
»Der weise Man muss daran denken, dass er, während er ein Nachkomme der Vergangenheit ist, ein Vorfahre (Ursache) der Zukunft ist.«