Erich Fromm

Erich Fromm (1900–1980) war ein deutsch-amerikanischer Psychologe jüdischer Abstammung, dessen Schriften auch soziologische und philosophische Untersuchungen und Aussagen beinhalten. Unter den Vorfahren Fromms befanden sich viele jüdische Schriftgelehrte. Die Kindheit und Jugend in Frankfurt am Main war geprägt durch jüdische Orthodoxie, durch Abgrenzung zum Reformjudentum und Assimilationsbestrebungen. Eine humanistische Interpretation der Schriften und der Traditionen des Judentums leiten seine Lösung von der jüdischen Orthodoxie Mitte seiner 20er Jahre ein. Seine spätere stark ethisch-moralische Argumentationsweise ist wohl ein Resultat der Dominanz der Religion in seinen frühen Jahren.

Fromm war seit den späten 20er Jahren mit der Frankfurter Schule bzw. dem Frankfurter Institut für Sozialforschung verbunden. Zwischen Fromm und Horkheimer entwickelte sich eine zunehmende gegenseitige wissenschaftliche Beeinflussung und Förderung. Fromm emigrierte 1934 in die USA. Wegen unterschiedlicher Auffassungen – besonders zwischen Fromm und Adorno – schied Fromm 1939 aus dem Institut für Sozialforschung aus. [1] Nach Ende des 2. Weltkrieges blieb Fromm – seit 1940 amerikanischer Staatsbürger – in Amerika. In der Folgezeit Lehrstuhl in Mexiko City und Lehraufträge in den USA. Engagierte sich für die Sozialistische Partei der USA und für die amerikanische Friedensbewegung. Seit den 60er Jahren war Fromm auch wieder in Europa mehr bekannt und gelesen.

Fromm will der Philosophie nicht ihren Eigenwert streitig machen, aber er relativiert sie. Der Mensch philosophiere nie, ohne vom Unbewusstsein so oder so bestimmt zu sein. [2]

Fromms »conditio humana«:
  1. Darwins Erkenntnis der natürlichen Bedingtheit des Menschen,
  2. Marx' Erkenntnis der sozio-ökonomischen Bedingtheit des Menschen und
  3. Freuds Erkenntnis der Bedingtheit durch das Unbewusste.

Vor dem Hintergrund dieser drei »Bedingtheiten« ist Fromms Beitrag zur Philosophie der »Versuch, den Humanismus angesichts der biologischen, soziologischen und psychologischen Erkenntnisse nicht religiös, theologisch, metaphysisch, positivistisch oder nihilistisch, sondern mit Hilfe seines kombinatorischen sozialpsychologischen Ansatzes ganzheitlich human-wissenschaftlich zu begründen.« (Rainer Funk: Erich Fromm: Radikaler Humanismus – humanistischer Radikalismus. Siehe  Sekundärliteratur.) [3]

Fromms analytische Sozialpsychologie ist eine Kombination aus Psychoanalyse und Soziologie.


Erich Fromm ausführlicher


Einige Aspekte der Auffassungen Fromm

Als Einleitung zu diesem Abschnitt empfehle ich den Aufsatz über die Frankfurter Schule.

Fromm war beeinflusst von den Philosophen Maimonides, Cohen, Aristoteles, Meister Eckhart, Spinoza und Marx, später auch von Thomas von Aquin. Es sind deren Schriften vom Menschen als handelndem Wesen, die er rezipiert. Fromm vertritt die Werte und Normen der klassischen  Tugendethik. Des weiteren ist Fromm stark beeinflusst worden von den psychologischen Theorien Freuds, aber nicht im Sinne einer orthodoxen Übernahme. In seinen späteren Jahren hat er in vielen Details andere Positionen als Freud vertreten. (Genaueres weiter unten.)

Charaktertheorie: Fromm behauptete das Unbewussten werde in Abhängigkeit von der ökonomischen und gesellschaftlichen Lebenspraxis geprägt. Er verknüpfte seine psychoanalytischen und sozialpsychologischen Erkenntnisse mit den Tugendlehren des  Aristoteles und  Spinozas.

Fromm suchte nach den psychischen Kräften, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Er entwickelte eine eigene analytische Methode der Sozialpsychologie, mit der er das Unbewusste gesellschaftlicher Größen erforschen wollte. Es gebe ein vom gesellschaftlichen Sein geprägtes gesellschaftliches Unbewusstes, einen Gesellschaftscharakter [So wie auch jedes Volk einen bestimmten Volkscharakter hat.], der die tierische Instinktsicherheit ersetze. Dieser Gesellschaftscharakter sei das Zwischenglied zwischen der ökonomischen Basis einer Gesellschaft und der psychischen Struktur des Einzelnen. Mit diesen Auffassungen glaubte Fromm erklären zu können, warum Menschen, die sich in der gleichen Lebenslage befinden, auch gemeinsame unbewusste Bestrebungen (Charakterzüge) und Ideale hätten. [4]

Ethik: Klassische Tugendethik. Aber nicht nur um allgemein verbindliche Ethik ging es Fromm. Man müsse auch die Möglichkeit zur Ethik im jeweils konkreten Menschen berücksichtigen. [Ein höheres Können beinhaltet auch ein höheres Sollen?] Fromm wollte den Menschen immer als ein ganz konkretes spezifisches Subjekt sehen. [Ähnlichkeit zu Adornos Skepsis gegen alles Allgemeine?]

Autorität, die Folgebereitschaft der Individuen erklärte Fromm als sado-masochistisches Verhalten. [5]

Verwirklichung und Transzendierung der Individualität:»Ich glaube, dass der Mensch sich das Erlebnis des ganzen universalen Menschen nur vergegenwärtigen kann, wenn er seine Individualität verwirklicht, und dass er es niemals erreichen wird, wenn er sich auf einen abstrakten gemeinsamen Nenner zu reduzieren sucht. Die paradoxe Lebensaufgabe des Menschen besteht darin, seine Individualität zu verwirklichen und sie gleichzeitig zu transzendieren, um zum Erlebnis der Universalität zu gelangen. Nur das ganz entwickelte individuelle Selbst kann das Ego aufgeben.« (Aus Fromms »humanistischen Credo«, 14. Absatz.) [Dem kann ich als Ideal durchaus zustimmen. Aber die Frage bleibt, können das die Menschen überhaupt bzw. wieviele von ihnen können das.]

»Ich glaube, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht in erster Linie eine Sache der Intelligenz, sondern des Charakters ist.« (Aus Fromms »humanistischen Credo«, 20. Absatz.) [Der klassische Wahrheitsbegriff »Adequatio intellectus et rei« wird damit ja wohl aufgegeben. Die Art und Weise, wie Fromm ihn aufgibt, unterscheidet sich allerdings von der Art und Weise wie Positivisten oder Pragmatisten ihn aufgeben.  Meine Kritik dazu weiter unten.]

In seinem 1955 erschienenen Buch The Sane Society (dt. Wege aus einer kranken Gesellschaft) entwickelte Fromm seine Ansichten zur Gesellschaftstheorie und machte Vorschläge zu einem humanistischen Sozialismus als drittem Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

Mit dem 1956 veröffentlichten, aber erst später weltweit populär gewordenen Buch Die Kunst des Liebens wurde Fromm auch in Europa bekannt als ein humanistischer Denker, der an die Fähigkeit des Menschen zu Vernunft und Liebe glaubt. [Das Buch besteht in einem beträchtlichen Maße nicht aus Beschreibungen der Realität, sondern aus Vorschlägen und Forderungen, letztlich aus Wünschen Fromms. Und ich habe nicht den Eindruck, dass das, was Fromm in diesem Buch schreibt, bei der Masse seiner Leser nennenswerte Auswirkungen auf ihr praktisches Leben hat.] Hinweis auf eine Zusammenfassung dieses Buches unten in der  Linksliste.

In einer Zeit großer Vorurteile und Unkenntnis der Theorien von Marx wollte Fromm mit seinem Buch Das Menschenbild bei Marx den amerikanischen Studenten ein nicht vom Sowjetmarxismus geprägtes Wissen über Marx vermitteln. In diesem Buch bemerkt Fromm u. a., dass es die Liebe sei, die uns erst an eine unabhängig von uns existierende Außenwelt glauben lässt. (In diesem Punkt gibt es eine Ähnlichkeit zu  Platon und  Feuerbach.)

Anfang der 60er Jahre glaubte Fromm eine neue Orientierung des Charakters zu entdecken: Der heutige Mensch werde immer mehr von allem Toten, Leblosen, Mechanischen, Zerstörerischen, Leichenhaften angezogen. Die Nekrophilie beschrieb Fromm erstmals 1964 in seinem Buch Die Seele des Menschen. Ihre Bedeutung für die Frage der menschlichen Aggression untersuchte er in den Jahren nach 1968 und veröffentlicht seine Ergebnisse in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973). [Ist die Beschäftigung vorwiegend mit technischem z. B. Auto oder Computer bereits Nekrophilie?]

Der Nekrophilie stellte Fromm die Biophilie entgegen, die Liebe zum Leben, zum Lebendigen. Im Gegensatz zu  Freud, bei dem Lebens- und Todestrieb gleichrangig sind, ist für Fromm die Biophilie die primäre Potenz, [kann als Wunschdenken ausgelegt werden] während die Nekrophilie eine bösartige Entartung darstelle, die eintrete, wenn die erste Möglichkeit vereitelt werde. [In diesem Punkt stimme ich Fromm zu. Aber ich sehe diese Aussage nicht als eine Wahrheit an, sondern als eine plausible  Hypothese. Näher ausgeführt habe ich dies im 9. Kapitel Meiner Philosophie. (Primäre und sekundäre  Bedürfnisse.)]

»Der Mensch muss die Kräfte der Natur und Gesellschaft unter seine bewusste und vernünftige Kontrolle bringen, jedoch nicht unter die Kontrolle einer Bürokratie, die Dinge und Menschen verwaltet, sondern unter die Kontrolle freier, assoziierter Produzenten.« (Aus Fromms »humanistischen Credo«, 22. Absatz.) [Dem liegt das illusiorische marxistische Menschenbild zugrunde. Ich würde mich sehr freuen, wenn das funktionieren würde. Aber in der Praxis hat die große Mehrheit der Menschen die Fähigkeit zu einem solchen Verhalten vermissen lassen. Ein positiver Unterschied zu Adorno und Horkheimer ist hier, dass der Mensch die Kräfte der Natur unter seine vernünftige Kontrolle bringen soll. Die  »Frankfurter« sehen darin einen fundamentalen Fehler in der Menschheitsentwicklung.]

In seiner 1976 erschienene Schrift Haben oder Sein arbeitete Fromm die These zweier verschiedener Denk- und Verhaltensweisen näher aus. Ein Haben-orientierter Mensch schöpfe seine Identität aus dem, was er habe, z. B. materielle Güter, religiöse Überzeugungen, Titel etc., oder auch aus dem, was er nicht habe. Ein Seins-orientierter Mensch schöpfe seine Identität aus dem, was er sei, wie er denke, handle. Ein Seins-orientierter Mensch wüchse, produziere, sei schöpferisch, lebe. Ein Haben-orientierter Mensch besitze etwas faktisch totes. (Siehe auch  Marcel.)

[Im Prinzip stimme ich damit überein! Ich führe selbst ein weitgehend seins-orientiertes Leben. Aber: Haben ist oft die Voraussetzung für Sein! Um Fromms Theorien verstehen zu können, braucht man eine gewisse Menge an Bildung, anders ausgedrückt, man muss Bildung haben. Man muss Zeit und Konzentrationsvermögen haben. Wer ein (finanzielles) Vermögen hat, wer sich um die materiellen Grundlagen seines Lebens nicht zu kümmern braucht, hat mehr Zeit für seinsorientiertes Verhalten.]

Fromm und Reich: Fromm versuchte wie Wilhelm Reich eine Verbindung von psychoanalytischen und marxistischen Gedanken, gab aber der Sexualität eine geringere Bedeutung. War insgesamt auch viel weniger dogmatisch als Reich. War Reich mehr in der Stundentenbewegung der späten 60er und frühen 70er Jahre und bei diversen linken Splittergruppen beliebt, so hat Fromm eine etwas breitere Leserschaft. Er ist der ernsthaftere und fundiertere Wissenschaftler von beiden. Unter den Studenten der aufkommenden Umweltbewegung in den späten 70er Jahren hat er eine wichtige Rolle gespielt.


Zitate Fromms

»Der springende Punkt ist, ob man Autorität HAT oder eine Autorität IST.«

»Rationale Autorität fördert das Wachstum des Menschen, der sich ihr anvertraut, und beruht auf Kompetenz. Irrationale Autorität stützt sich auf Machtmittel und dient der Ausbeutung der ihr Unterworfenen.«

»Das Hier und Jetzt ist Ewigkeit

»Man spricht von ›Freizeitaktivität‹, treffender könnte man sagen ›Freizeitpassivität‹.«

»Gelehrte sind Menschen, die sich von normalen Sterblichen durch ihre anerworbene Fähigkeit unterscheiden, sich an weitschweifigen und komplizierten Irrtümern zu ergötzen.« [Er ist doch selber ein Gelehrter. Also müsste er das auch auf sich selbst beziehen.]

»Die Gier ist immer das Ergebnis einer inneren Leere.«

»Ohne Glaube wird der Mensch steril, hoffnungslos und bis ins Innerste seines Wesens furchtsam.« [»Glauben« muss man aber nicht unbedingt religiös verstehen. Man kann auch an eine bessere Zukunft glauben du sich sogar für sie einsetzen. Ich mache das hier.]

»Glück ist kein Geschenk der Götter; es ist die Frucht einer inneren Einstellung.« [Sobald die nötigsten materiellen Bedürfnisse befriedigt sind. Erst dann.]

»Der Mensch ist weder gut noch böse. Glaubt man an seine ausschließliche Gutheit, so wird man unausweichlich die Tatsachen in einem rosigen Licht sehen und schließlich bitter enttäuscht sein. Glaubt man an das andere Extrem, so wird man als Zyniker enden und für die vielen Möglichkeiten zum Guten in sich und anderen blind werden.«

»Für jene, die glauben, dass ›haben‹ eine höchst natürliche Kategorie innerhalb der menschlichen Existenz ist, mag es überraschend sein, wenn sie erfahren, dass es in vielen Sprachen kein Wort für ›haben‹ gibt.« [Das sagt lediglich, dass sich die Sprachen nicht bei allen Menschen schon so weit entwickelt hat, dass sie für alles, was es gibt, auch Wörter hat. Haben gibt es schon im Tierreich. Näheres hier.]

»Habgier und Frieden schließen einander aus.«

»Man kann die Angst, sich auch nur wenige Schritte abseits von der Herde zu befinden und anders zu sein, nur verstehen, wenn man erkennt, wie tief das Bedürfnis ist, nicht isoliert zu sein.«

»Der Konsument ist der ewige Säugling, der nach der Flasche schreit.« [Das Baby braucht die Flasche so wie alle Menschen konsumieren müssen. Sonst sind sie nach kurzer Zeit tot.]

»Nicht nur Medizin, Technik und Malerei sind Künste ; Leben an sich ist eine Kunst.«

»In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon, dass zwei Wesen eins werden und trotzdem zwei bleiben.«

»[...] kann Lust dennoch kein Wertkriterium sein. Denn es gibt Menschen, die an der Unterwerfung und nicht an der Freiheit Lust empfinden, für die nicht Liebe, sondern Hass, nicht produktive Arbeit, sondern Ausbeutung Lust bedeutet.«

»Die Lust an der Macht hat ihren Ursprung nicht in der Stärke, sondern in der Schwäche..« [So sieht es auch  Alfred Adler. Aber mach das mal  Nietzsche klar.]

»Marx geht es wie der  Bibel: Er wird viel zitiert und kaum verstanden.«

»Man liebt das, wofür man sich müht , und man müht sich für das, was man liebt.«

»Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der, welcher viel gibt. Der Hortende, der ständig Angst hat, etwas zu verlieren, ist psychologisch gesehen ein armer Habenichts, ganz gleich, wieviel er besitzt. Wer dagegen die Fähigkeit hat, anderen etwas von sich zu geben, ist reich.«

»Die Schwierigkeiten, Rückschläge und Kümmernisse des Lebens als Herausforderung anzusehen, deren Überwindung uns stärkt, anstatt sie als ungerechte Strafe zu betrachten, die wir nicht verdient haben, das erfordert Glauben und Mut .«

»Der Unterschied zwischen Sein und Haben entspricht dem Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft, die zum Mittelpunkt Personen hat, und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht.«

»Der freie Mensch lebt notwendigerweise in Ungewissheit

»Vernunft ist die Fähigkeit, objektiv zu denken

»›Vernünftig‹ ist in den Augen der meisten Menschen, worüber sich die meisten Menschen einig sind; ›vernünftig‹ hat für die meisten nichts mit Vernunft zu tun..« [Das ist wie mit  logisch. Viele Menschen haben einfach nicht die nötige Ausbildung, um das zu wissen.]

»Die Vitalität selbst ist das Resultat einer Vision. Wenn es keine Vision mehr gibt von etwas Großem, Schönem, Wichtigem, dann reduziert sich die Vitalität, und der Mensch wird lebensschwächer.«

»Wahrheit wird niemals durch Gewalt widerlegt.«

»Das höchste Ziel im Seinsmodus ist TIEFERES WISSEN, im Habenmodus MEHR WISSEN.« [»Mehr wissen« kann Voraussetzung für »tiefer wissen« sein. Näheres  hier.]

»Wissen beginnt mit der Erkenntnis der Unzuverlässigkeit der Wahrnehmungen, mit der Zerstörung von Täuschungen, mit der ›Ent-täuschung‹.«


Kritik an Fromm

Manche kritische Anmerkung steht schon direkt unter den Absätzen mit der Beschreibung von Fromms Auffassungen.

Zuersteinmal möchte ich vorausschicken, dass ich mit Fromm erheblich mehr anfangen kann als mit Adorno !!!

Trotz seiner späteren Trennung von der Frankfurter Schule sind Ähnlichkeiten unverkennbar. Die  Kritik an der Kritischen Theorie trifft deshalb zu großen Teilen – aber eben nicht in allen Punkten – auch auf Fromm zu.

Fromm und viele andere »linke« Wissenschaftler hantieren bewusst oder unbewusst mit einem sehr eingeschränkten Erkenntnisbegriff. Es geht bei ihnen faktisch um philosophische, soziologische, psychologische, kulturwissenschaftliche usw. Theoriebildungen. Was sie Erkenntnis nennen, ist eigentlich das Produzieren von Weltanschauungen! Was Wunder, das dort Interessen und Charakter eine Rolle spielen. Zusätzlich und manchmal sogar ausschließlich – und das wird von diesen Wissenschaftlern nicht bemerkt oder ignoriert – spielen aber auch bewusste und unbewusste Wert- und Wunschvorstellungen eine Rolle. Ansonsten ließe sich nicht erklären, warum Mitglieder privilegierter Schichten linke Sozial- und Humanwissenschaftler werden. Und ohne diese Wert- und Wunschvorstellungen ließe sich auch nicht erklären, warum die Theorien dieser sehr gebildeten und intellektuell sehr leistungsfähigen Menschen oft an den Realitäten völlig vorbeigehen.

Ob über das Produzieren von Weltanschauungen hinaus Interessen und Charakter eine Rolle spielen, mag bei den verschiedenen Wissenschaften und bei verschiedenen Forschungsgegenstände unterschiedlich sein. Es wird doch wohl keiner bestreiten wollen, das 2 x 2 = 4 sind unabhängig von den Interessen und dem Charakter eines Menschen. (Ob die Regeln der Mathematik das Sein schlechthin betreffen oder nur Teile des Sein, die Frage klammere ich hier aus.) Auch physikalische und chemische Prozesse können erkannt werden, ohne dass dort Charakter und Interesse eine Rolle spielen. Genau das Gleiche ist es mit technischen Erfindungen. Bei der Beschreibung komplexerer Vorgänge fließen Interpretationen ein, die von Charakter und Interesse beeinflusst sind, was dann besonders in Human- und Gesellschaftswissenschaften eine Rolle spielen kann. (Beispiel: Ob man mehr Freud, Jung oder Adler zuneigt, mag durch Charakter und Interesse beeinflusst sein.) Sinnvollerweise sollte man gerade bei solchen Erklärungen von  Hypothesen sprechen. Aber auch hier kann man sich zumindest bemühen, die eigenen Interessen und den eigenen Charakter nicht zu  Erkenntnisschranken werden zu lassen. Ansonsten ließe sich ja – das kann man nicht oft genug erwähnen – gar nicht erklären, warum viele Mitglieder der privilegierten Schichten humanistisch oder sozialistisch denkende Menschen geworden sind.

Bei Fromms Beschreibung des Wissenschaftsbetriebs findet man die typisch marxistische Überbewertung der  Basis und die Unterbewertung der Eigendynamik, die menschlicher Geist und  »Überbauelemente« entwickeln können.

Wahrheit und Charakter: Gibt es für Fromm überhaupt soetwas wie »Wahrheit« unabhängig von subjektiven Konstrukten? Zum Vergleich: Für  Popper: gibt es Wahrheit, aber der Mensch könne sich nie sicher sein, ob er sie gefunden habe. Die Wahrheit sei ein regulatives Prinzip. Was für einen Charakter hat (bzw. hätte) Fromm Popper zugeschrieben? Wer nicht Fromms Auffassungen teilt, hat einen falschen Charakter?


Literatur und Sekundärliteratur


Literatur: (Auswahl)

Sekundärliteratur:

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Anmerkungen

Anm. 1: »Zu unvermittelt standen hier Optimismus, psychoanalytische Praxis und die Betonung von Spontaneität und Positivität gegen radikalen Geschichtspessimismus, ästhetische Interessen, Ironie, Negative Dialektik und Kritik.« (Helmut Wehr) Ich würde noch hinzufügen, dass Adorno schon in seinem 1. Habilitationsversuch die Bedeutung des »Unbewussten« weitgehend verharmlost hatte, während bei Fromm das gesellschaftliche und individuelle Unbewusste eine beträchtliche Rolle spielt. Horkheimer hatte wegen seiner Grundüberzeugungen und Grundmentalitäten letztlich doch eine größere Nähe zu Adorno als zu Fromm. Zurück zum Text

Anm. 2: [»Bestimmt« oder »beeinflusst« kann verschiedenes bedeuten. Beeinflusst durch das Unbewusste, dem stimme ich zu. Bestimmt im Sinne von determiniert, eine Marionette des Unbewusstseins geht mir zu weit. Der Mensch kann sein Unbewusstsein erkennen und sich dann auch bewusst über es erheben, zumindest zum Teil, mindestens kann er sich darum bemühen. (Das geht ein bisschen in die Richtung Adorno. Aber Adorno wertet zwar die Bedeutung des Unbewussten ab, überbewertet dafür aber Interesse und Schichtzugehörigkeit.) Kann man Fromm »Psychologismus« vorwerfen? Wird der Mensch zu einer Marionette seines Unbewusstseins?] Zurück zum Text

Anm. 3: [Die natürliche, biotische Bedingtheit des Menschen ist ein Gesichtspunkt, der bei den Linken immer zu kurz gekommen ist, letztlich auch bei Fromm.] Zurück zum Text

Anm. 4: [Sollte man dann nicht von einem »Schichtencharakter« statt von einem »Gesellschaftscharakter« sprechen? Bzw. von beidem? Die Einheitlichkeit sozialer Schichten existiert nur tendenziell, nicht durchgehend. Z. B. Sozialdemokraten und Kommunisten in der Arbeiterbewegung, Liberale, Konservative, Reaktionäre und Faschisten unter den Selbständigen und Unternehmern etc. Trotz aller Gemeinsamkeiten der Menschen generell und der Menschen in bestimmten Lebenslagen, hat doch jeder Mensch seine ganz spezifische biotische, psychische und gesellschaftliche Konstitution bzw. Situation, ist ein erkenntnisbegabtes, mit Willensfreiheit ausgestattetes Wesen. Deshalb reagieren Menschen auf gleiche Lebensbedingungen oder Ereignisse unterschiedlich.

Außerdem kommt hier zum Ausdruck, das zwar die Psyche (Bewusstsein und Unbewusstsein) und die Gesellschaft (Soziologie und Ökonomie) untersucht wird und daraus Sozialpsychologie entsteht, aber die Natur des Menschen vernachlässigt wird. Man kann den Menschen allein mit der Biologie nicht hinreichend erklären, aber man wird auch nie menschliches Fühlen und Verhalten hinreichend erklären können, wenn man die Biologie ausklammert. Wobei dieser Vorwurf Fromm weniger gemacht werden kann, als vielen anderen »linken« Gesellschafts- und Human-Wissenschaftlern.

Ich sehe das folgendermaßen: Es gibt einen Schichtencharakter, einen Gesellschaftscharakter und einen Volkscharakter. Aber kein Individuum geht zwangsläufig in diesen Charakteren auf. Wenn man eine statistische Erhebung macht, dann wird man feststellen, dass in bestimmten Gesellschaften, bestimmten Schichten und bestimmten Völkern gewisse Charakterzüge und Verhaltensweisen vorherrschend sind. Aber man wird immer auch Individuen finden, die völlig aus der Reihe tanzen, und man wird sehen, dass die Individuen in unterschiedlich starkem Maße die Charakterzüge der »übergeordneten« Charaktere aufweisen. Charaktere können sich ändern. Wenn über längere Zeit hinweg sich die Lebenslage der Mitglieder einer bestimmten Schicht ändert, ändert sich auch der Schichtcharakter. Z. B. wurden aus einstigen Proletariern durch Verbesserung ihrer materiellen Lebensumstände Kleinbürger. Aus liberalen Bürgern können bei Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Stellung Reaktionäre und Faschisten werden. Änderungen können auch abrupt eintreten durch außergewöhnliche Ereignisse. Nach 1945 hat sich der Volkscharakter der Deutschen geändert. Die Menschen sind in unterschiedlich starkem Maße dazu fähig, die biotischen, psychischen, gesellschaftlichen und weiteren Determinanten ihres Verhaltens zu entdecken und sich bewusst über sie zu erheben. Dies ist in der Praxis aber immer nur einer kleinen Minderheit von Menschen gelungen.] Zurück zum Text

Anm. 5: [Das mag ein Aspekt von Autorität und Folgebereitschaft sein. Aber auch hier wieder die Vernachlässigung der Biologie. Der Mensch hat eine Naturgeschichte. Schon Millionen Jahre vor dem Entstehen der Menschen sind unsere Vorfahren Herdentiere gewesen, die ihrem Leittier gefolgt sind. Die biologische Erklärung ist hier mindestens so wichtig, wie die psychologische. Nun haben auch Tiere bereits eine Psyche. Aber das Verhalten eines Herdentieres seinem Leittier gegenüber als »sadomasochistisch« zu bezeichnen, ginge ja wohl in die Lächerlichkeit. Ich will aber keineswegs hier einen Biologismus oder Sozialdarwinismus vertreten. Man sollte hier an  Nicolai Hartmanns Kategorial-Analyse und Schichtungsgesetze denken. »Die wiederkehrenden Kategorien wandeln sich, werden vom Charakter der höheren Schicht überformt.« So wird auch der Folgetrieb der Herdentiere bei den Menschen überformt, aber bei den verschiedenen Menschen in unterschiedlich starkem Maße.] Zurück zum Text


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