Dass die Welt eine Erfindung ist, ist eine Erfindung.



Radikaler Konstruktivismus


Kurzbeschreibung des Radikalen Konstruktivismus

Vom Radikalen Konstruktivismus zu unterscheiden ist der Methodische Konstruktivismus.

Nach Auffassung des Radikalen Konstruktivismus ist die Wirklichkeit – jedenfalls die, die wir erleben, in der wir uns erleben – ein subjektives Konstrukt. Eine Verbindung des Subjekts zur objektiven Realität – soweit eine solche überhaupt in Erwägung gezogen wird – sei so unmöglich wie eine Ontologie. Der Radikale Konstruktivismus ist Skeptizismus, Pragmatismus und  Subjektiver Idealismus. Einige Autoren sagen auch Psychologismus oder  Mystizismus. (Trotz aller Unterschiede gibt es auch eine gewisse Nähe zum Kritischen Rationalismus, auch wenn einige Vertreter dieser beiden philosophischen Strömungen das vehement bestreiten werden.)

Als Vorläufer dieser Philosophie werden genannt: Vico, Berkeley, Hume, Kant, Dilthey, Wittgenstein und Piaget. Letzterer soll den Begriff Konstruktivismus erstmals eingeführt haben.

Die Radikalen Konstruktivisten betrachten sich vielfach selbst nicht als solche, werden von anderen als solche bezeichnet, bzw. betrachten den Begriff Konstruktivismus als unglücklich gewählt.


Vertreter des Radikalen Konstruktivismus

Die verschiedenen Vertreter des Radikalen Konstruktivismus unterscheiden sich in vielen Details.

Förster, Heinz von Extraseite.

Glasersfeld, Ernst von Extraseite.

Maturana, Humberto R. (*1928). Chilenischer Mediziner, Biologe und Philosoph. Vertreter des  Radikalen Konstruktivismus. Seit 1961 Professor an der Universität Santiago de Chile.

Roth, Gerhard (*1942). Deutscher Philosoph und Biologe. Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen. Direktor des Institutes für Hirnforschung. Vertreter des  Radikalen Konstruktivismus.

Varela, Francisco (1946–2001). Chilenischer Biologe und Philosoph. Vertreter des  Radikalen Konstruktivismus Professor für Neurobiologie und Philosophie in Chile, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Mitarbeiter  Maturanas, mit dem er gemeinsam Bücher verfasste. Buddhist. Verbindung zum Dalai Lama.

Watzlawick, Paul (1921–2007). Österreichisch-Amerikanischer Philosoph, Kommunikations-Wissenschaftler, Psychotherapeut und Schriftsteller. Vertreter des  Radikalen Konstruktivismus. Er findet den Begriff Konstruktivismus unglücklich und würde lieber von »Wirklichkeitsforschung« sprechen. Er unterscheidet zwischen Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung. Die Wirklichkeit erster Ordnung sei das, was allgemein Tatsache genannt wird. Die Wirklichkeit zweiter Ordnung sei unsere Bewertung der Tatsachen.


Zitate zu Konstruktivismus

Christiane Floyd: »Der Konstruktivismus lehrt, dass unsere Erkenntnis durch Konstruktion zustandekommt, er macht damit keine Aussage über das Seiende

 Humberto R. Maturana: »Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, buchstäblich dadurch, dass wir sie leben.« »Als lebende Systeme existieren wir in vollständiger Einsamkeit innerhalb der Grenzen unserer individuellen Autopoiëse. Nur dadurch, dass wir mit anderen durch konsensuelle Bereiche Welten schaffen, schaffen wir uns eine Existenz, die diese unsere fundamentale Einsamkeit übersteigt, ohne sie jedoch aufheben zu können.«

Thomas Metzinger: »Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt.«

 Gerhard Roth: »Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Hirn hervorgebracht.« [Mit dieser Aussage ist der Konstruktivismus zumindest partiell durchbrochen. Es wird eine sichere Aussage über die objektive Realität gemacht.] »Die Erinnerung ist eine Fata Morgana in der Wüste des Vergessens.«

Rolf Schulmeister: »Der Konstruktivismus ist keine Theorie des Seins, formuliert keine Aussagen über die Existenz der Dinge an sich, sondern ist eine Theorie der Genese des Wissens von den Dingen, eine genetische Erkenntnistheorie. Für den Konstruktivismus ist Wissen kein Abbild der externen Realität, sondern eine Funktion des Erkenntnisprozesses.«

 Francisco Varela: »Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.« [Erkenntnis ist etwas aktives, nicht passives. Unterschied zu  Heidegger.]

 Paul Watzlawick: »Untersuchung der Art und Weise, wie wir Menschen uns unsere eigenen Wirklichkeiten erschaffen.« [Über den Konstruktivismus.] »Der Radikale Konstruktivismus begreift sich selbst als eine Konstruktion und nicht als eine letzte Wahrheit, er ist eine Möglichkeit, die Dinge zu sehen. Für mich ist [...] allein die Frage ausschlaggebend, welche Konstruktion sich als die nützlichste und menschlichste erweist.


Meine Kritik am Radikalen Konstruktivismus

Da die verschiedenen Vertreter des Radikalen Konstruktivismus – und seine vielen Anhänger und Interpreten – sich in vielen Details unterscheiden, trifft folgende Kritik nicht auf alle seine Vertreter zu, bzw. nicht in dem selben Maße.

Der Grundgedanke, dass wir von der von unserem Denken unabhängigen Realität kein sicheres Wissen haben können, ist weitgehend auch meine Position. Der Naive Realismus ist aus philosophischer und naturwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar. Dass die Radikalen Konstruktivisten in ihrem jeweiligen konkreten Forschungs- und Arbeitsgebieten brauchbare, interessante Gedanken entwickeln, wird ebenfalls von mir nicht in Frage gestellt. Aber aus der konkreten Art und Weise, wie die Radikalen Konstruktivisten ihre Positionen begründen, ergeben sich Widersprüche. Zum Teil schießt man über das Ziel hinaus, zum Teil denkt man nicht konsequent zu ende. (Oder zumindest scheut man sich öffentlich zu ende zu denken.)

Es werden neurophysiologische Vorgänge angeführt und diese als Beweis benutzt, dass die Welt unser Konstrukt sei. Damit werden die neurophysiologischen Vorgänge aber selbst zum Konstrukt. Man benutzt ein Konstrukt als Beweis, dass die Welt ein Konstrukt sei. Wittgenstein stieg auf einer Leiter zu einer Erkenntnis hinauf und als er ankam erkannte er die Nutzlosigkeit der Leiter und warf sie fort. [1] Die Radikalen Konstruktivisten scheinen ihre nutzlos gewordene Leiter nicht fortwerfen zu wollen. Der Skeptizismus kann oder muss konsequenterweise schon viel früher einsetzen. Statt dessen macht man am laufenden Band Aussagen über die objektive Realität – nämlich die über die Funktionsweise des Gehirns und des Nervensystems –, und behauptet anschließend, Aussagen über die objektive Realität seien nicht möglich.

Wieso ist die Welt unsere Erfindung? Wenn sie eine Erfindung ist, dann ist sie meine Erfindung. Wieso sollte die ganze Welt Erfindung sein, ausgenommen die anderen Menschen? Sind aber die um mich herum wahrgenommenen menschlichen Körper meine Erfindungen, wie die um mich herum wahrgenommenen Häuser, Autos, Bäume etc. pp., wieso sollten sich in einigen meiner Erfindungen sich wissende Ichs, ebenfalls erfindende Subjekte befinden? Die Art, wie einige Radikale Konstruktivisten glauben, dem  Solipsismus ausweichen zu können, ist nicht überzeugend.

Wenn die Welt meine Erfindung ist, dann bin ich der »Erfinder«, besser gesagt der Schöpfer der Zauberflöte, in dem Moment, wo ich sie höre, dann bin ich der Schöpfer der Mona Lisa, in dem Moment, wo ich sie sehe. Ich bin Beethoven, Einstein, Goethe etc. Ich habe den Ottomotor erfunden, den Eiffelturm erbaut usw. usf. (Nicht Bill Gates, ich würde diese schlechte Software verbreiten. Aber sein Geld ist nicht auf meinem Konto. ;-)

Wenn die Welt meine Erfindung ist, dann bin ich der »Erfinder« meiner Zahnschmerzen. Wenn Krieg oder Hungersnot herrscht, wenn ich unterdrückt und gefoltert werde, dann ist das alles meine Erfindung. Wenn ich in einem Slum lebe und nicht in einer Villa, dann habe ich mir dies selbst ausgesucht. Im Anbetracht des Zustandes und der Funktionsweise der Welt, also meiner von mir konstruierten Wirklichkeit, wäre ich ein Masochist.

Oder aber, es gibt unabhängig von mir etwas, dass von außen auf mich wirkt – z. B. objektive Lebensumstände und die Schöpfungen der großen Künstler und Wissenschaftler – und ich mache aus den von Außen kommenden Impulsen meine Welt. Erstens auf Grundlage angeborener Regeln und zweitens auf Grundlage individueller Erfahrungen und erworbener Arbeitsweisen meines Gehirns.

Dass die Welt unsere Erfindung ist, ist sowenig beweisbar, wie dass sie ein objektiver Tatbestand ist. Beide Behauptungen sind philosophische  Hypothesen, und wie ich glaube einseitige. Die Welt ist wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Das Verhältnis zwischen Subjektiven und Objektiven kann auch dialektisch gesehen werden. Ob etwas subjektiv oder objektiv ist, ist immer eine Frage der jeweiligen Betrachtung. Aber mit Dialektik können die Radikalen Konstruktivisten wohl nichts anfangen. (Ich sage das mit Vorbehalt, da ich nicht alle ihre Schriften gelesen habe.)

Ich vertrete die Auffassung der Evolutionären Erkenntnistheorie, nach der zwar das menschliche Gehirn unsere menschliche Welt konstruiert, aber die Arbeitsweise des Gehirns hat sich über hunderte Millionen Jahre hinweg entwickelt, immer bezogen auf objektive Tatbestände. Es haben nur die Lebewesen überlebt und ihre Gene weitergegeben, die eine (subjektive) Welt konstruierten, die ihnen das Überleben in der (objektiven ) Welt ermöglichte. Deshalb sagen subjektive Konstrukte – die Überleben ermöglichen – etwas über objektive Tatbestände aus. Aber nicht im Sinne einer Deckungsgleichheit, einer Widerspiegelung!


Ein Radikaler Konstruktivist hat sich in den Alpen verirrt. Kurz vor dem Erfrieren wird er von einem nach ihm ausgesandten Suchtrupp gerettet. Er bedankt sich mit den Worten: »Danke, dass ihr mich noch rechtzeitig erfunden habt.«




Anmerkungen

Anm. 1: »Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)« (Wittgenstein Tractatus, 6.54). Zurück zum Text


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