Es geht nicht um Pfennige,
es geht um die Sterne.



Peter Möller

Meine Lebenserinnerungen

Einleitung

Heute Nachmittag habe ich einen Artikel über Sartre gelesen. Als ich las, dass Sartre seine Kindheit verabscheute, habe ich mir wieder einmal – wie häufig beim Lesen der Lebensläufe bedeutender Personen – gesagt, »den seine Kindheit hätte ich gerne gehabt. Schlimmes kann ich darin nicht entdecken.« Und ich bin dann vom Schreibtisch aufgestanden, in meiner Wohnung hin- und hergelaufen und habe (laut) an meine Kindheit gedacht, an meine Jugend- und Studentenzeit, mich über meine Fehler geärgert etc. (Ich lebe allein. Da führt man gelegentlich Selbstgespräche. Ist etwas neurotisch, aber auch ein guter Ausgangspunkt Schriftsteller zu werden.) Dann bin ich ca. zwei Stunden mit dem Rad durch die Stadt gefahren und habe weiter über mein Leben nachgegrübelt.

Und dann habe ich mich dazu entschlossen meine Memoiren zu schreiben. Ob das auf dem Alexanderplatz war oder beim »eisernen Ikarus« am Geländer über der Spree, weiß ich nicht mehr. [1] Ich habe im Laufe meines Lebens viele hundert Lebensläufe bedeutender Personen gelesen, besonders viele Rowohlt Bildmonographien. (In früheren Zeiten Bücher, später mehr im Internet.) Da bleibt es vielleicht nicht aus, dass man irgendwann mal seine eigene Lebensgeschichte zu »Papier« bringen möchte. (Die Formulierung »zur Festplatte bringen« hat sich noch nicht durchgesetzt.)

Nun bin ich mir völlig darüber im Klaren, dass ich keine bedeutende Persönlichkeit bin. Ich habe nicht so populäre Bücher geschrieben wie Sartre, ich habe keine Kunstwerke geschaffen, ich bin keine Größe in Politik, Sport oder Showbusiness, meine Taten haben (jedenfalls bisher ;-) keine großen geschichtlichen Ereignisse verursacht etc. Deshalb schreibe ich diese Memoiren zuerst einmal für mich selbst, aus Spaß und zur Selbsterkenntnis. Wenn man sowieso des Öfteren über sein Leben nachgrübelt, dann ist es sinnvoll, man macht es einmal schriftlich und systematisch. Es ist sinnvoll, sich hin und wieder mal darauf zu besinnen, woher man kommt und welchen Lebensweg man gegangen ist. Wenn man seine Geschichte nicht kennt, weiß man nicht, wer man ist. (Das trifft für die Geschichte eines Einzelne genauso zu, wie für die Geschichte eines Volkes, einer Kultur, einer Organisation etc.) [2]

Da ich vorhabe, diese Lebenserinnerungen irgendwann einmal ins Internet zu stellen, werden sie aber auch von anderen Menschen gelesen werden. Von wie vielen, das ist eine andere Frage. Denen, die sie lesen, sage ich:

Hallo! Guten Tag!

Hier sind die Memoiren eines nicht besonders bedeutenden Menschen, der aber immerhin ein etwas ungewöhnliches Leben hatte. Die Art, wie ich gelebt habe, aber auch meine Fehler können andere vielleicht zum Nachdenken anregen, jüngere Menschen können vielleicht für ihr eigenes Leben, dass sie zu großen Teilen noch vor sich haben, etwas lernen. Der Text kann aber auch einfach nur unterhaltsam sein. So wie ich die Welt – trotz ihres zum Teil katastrophalen Zustandes und ihrer zum Teil grausamen Funktionsweise – vielfach von der humoristischen Seite sehe, so sehe ich auch mein Leben, obwohl es in vielen Punkten nicht so gelaufen ist, wie ich es mir heute wünsche, vielfach von der humoristischen Seite.

Heute ist der 30. März 2002, der Samstag zwischen Karfreitag und Ostersonntag. [3] Heute Nacht werden die Uhren um eine Stunde vorgestellt, auf Sommerzeit. Vor zwei Monaten bin ich 50 Jahre alt geworden, werde allerdings immer noch als junger Mann angesprochen. Ich sehe nicht aus wie 50. [4] Liegt vielleicht auch an der Art, wie ich mich kleide. Aber was nützt mir das? Erste Verschleißerscheinungen lassen sich nicht mehr übersehen. Und wenn man an dem Entwicklungspunkt angekommen ist, wo es an vielen Stellen des Körpers nicht mehr so funktioniert, wie man es in früheren Jahrzehnten für selbstverständlich hielt, dann beginnt man, die Dinge aus der Perspektive des Endes seines Lebens zu sehen und zu beurteilen.


Mein Leben wurde durch einige Ereignisse maßgeblich mitbestimmt, die lange vor meiner Entstehung passierten. Ich beginne meine Geschichte deshalb mit der Schilderung von Begebenheiten, die ca. 130 Jahre vor meiner Geburt stattfanden. [5]



Kurze Inhaltsangabe

1. Kapitel
Meine Vorfahren
Über die Katholisch-Apostolische Kirche und meine Vorfahren, die mit dieser Kirche eng verbunden waren, über die Offenbarung des Johannes und über meine Eltern.

2. Kapitel
Die religiöse Phase meiner Kindheit
Über die ersten zwölf Jahre meines Lebens. Die religiöse Prägung, meine Augenprobleme, über schlechtes Essen und mangelnde Reinlichkeit, über das Tabu Sex, über meine soziale Herkunft aus der Arbeiterschaft, über die frühe Schulzeit, über schlechte Bildung, was ich damals las, über meine Oma Sandmann und über Minderwertigkeitsgefühle.

3. Kapitel
Die Phase der Verwahrlosung
Wie meine Mutter ihre Familie verließ, über mangelnde Betreuung, über Freunde und Bekannte meiner späten Kindheit, über Badeanstalt und ersten Mädchenfrust, wie ich ohne Abschluss die Volksschule verließ und über die ersten Jahre meiner Berufstätigkeit als faktischer Hilfsarbeiter.

4. Kapitel
Religion
Wie in meiner Kindheit erste Zweifel an den anerzogenen Glaubenssätzen aufkamen, wie ich mich von der Religion wegentwickelte und wie ich heute zur Religion stehe.

5. Kapitel
Augen
Über meinen Augenunfall, die daraus entstehende Sehbehinderung und was für Auswirkung das auf mein sonstiges Leben hatte. – Einige grundsätzliche Bemerkungen zu meiner Kindheit, zu meinen Eltern und zu Kindererziehung.

6. Kapitel
SDAJ
Wie ich Kommunist wurden, wie ich in die DKP-Jugendorganisation SDAJ kam, über den neuen Freundes- und Bekanntenkreis, über politische Aktivitäten, Reisen in die DDR und über die Entstehung des Jugendzentrums »Startloch«.

7. Kapitel
Das Mädchen-Problem
Über meine Verklemmtheit und meine Probleme mit Mädchen. Über falsche Selbsteinschätzung und falsche Vorstellungen davon, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren.

8. Kapitel
Schule und Weiterbildung
Wie ich begann mich zu bilden und über politische Schulung in der SDAJ.

9. Kapitel
Biesdorf
Über meine Erlebnisse an der SED-Parteischule für westdeutsche Genossen.

10. Kapitel
Bruch mit der SDAJ
Über meine Reaktion auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns, über die Reaktion der SDAJ auf diese Reaktion, über den ersten qualitativen Sprung in meiner intellektuellen Entwicklung, über Stalinismus und Eurokommunismus, über die Gründe für meinen Austritt aus der SDAJ und über Rufmordkampagnen.

11. Kapitel
HWP
Über mein Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, über marxistische Staatstheorie und Geschichte der Sowjetunion. Über London und über Vereinsamung.

12. Kapitel
Die Grünen
Wie ich Gründungsmitglied der Grünen wurde, über die Hamburger Grünen in den ersten zwei Jahren ihrer Existenz, über die »Gruppe Z« und das Unvermögen ihrer Opponenten, über die grüne Hochschulgruppe an der Universität Hamburg, über meine Kritik an radikalökologischen Konzepten und warum ich die heutigen Grünen für eine »grüne FDP« halte.

13. Kapitel
Universität Hamburg
Über mein Studium an der Universität Hamburg, über mein Ungarnreferat, über Bücher, Bücher, Bücher (seid verschlungen, Millionen ;-) wie ich Selbstdenker wurde und wie ich die Dissertation verpasste. Über Krankheit und über den Abbau meiner Verklemmtheit.

14. Kapitel
SPD
Warum ich Sozialdemokrat wurde und warum ich keine politische Karriere gemacht habe. (Und warum ich auch heute noch Single bin.)

15. Kapitel
Freiburg
Über meine Zeit in Freiburg, über Parapsychologie, über den Schwarzwald, über den »Steppenwolf« und »Meine Philosophie«, über meine kabarettistischen Aktivitäten als »Sven Zprottenkopp« und über den Untergang des Realen Sozialismus.

16. Kapitel
Berlin
Über meine ersten Jahre in Berlin, wie es im »Osten« aussah, über kabarettistische Aktivitäten, wie ich heutzutage zur SPD und zur Politik insgesamt stehe, über Arbeit und Arbeitslosigkeit und wie ich einfach nicht erwachsen wurde.

17. Kapitel
Über die Notwendigkeit höherer Arten
Wie ich zu der Auffassung gelangte, dass die Menschheit nur die Wahl hat eine Durchgangsphase oder eine Sackgasse der Evolution zu sein, über meine positive Bewertung der Gentechnik, über Selbstevolution und über Transhumanismus.

18. Kapitel
Wie das philolex entstand
Aus philosophischen Aufsätzen und Uni-Aufzeichnungen werden Internetseiten, meine Homepage als meine Modelleisenbahn.

19. Kapitel
Abschließende Gedanken
Über Fehler und allgemeine Grundzüge meines Lebens.

Anmerkungen


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1. Kapitel
Meine Vorfahren

Meine Vorfahren waren, mütterlicherseits seit mindestens fünf, väterlicherseits seit vier Generationen, in der Katholisch-Apostolischen Kirche. Und da die Mitglieder dieser Kirche fast nur untereinander geheiratet haben, gab es in der Verwandtschaft fast niemanden, der nicht zu dieser Kirche gehörte. (Die Katholisch-Apostolische Kirche war nach den Auffassungen meiner Verwandten natürlich keine Sekte. Sekten sind immer die anderen Sekten.)

Entstanden war diese Kirche in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in England. Gegründet wurde sie von weltfremden Fanatikern und Phantasten, denen die allerkleinsten Zugeständnisse der großen Kirchen an die wirkliche Welt, an das wirkliche Leben schon zu weit gingen. Sie glaubten an die baldige Wiederkehr Christi und wollten die Menschheit auf dieses Ereignis vorbereiten. Die Gründer dieser Kirche waren überzeugt, nicht mehr sterben zu müssen, da sie vorher in den Himmel geholt würden. (Sie starben aber alle, was die nachwachsenden Generationen in dieser Kirche aber nicht davon abhielt, ihrerseits nun zu glauben, dass sie nicht mehr sterben müssten.)

Es waren Menschen aus der englischen Oberschicht, die die Katholisch-Apostolische Kirche gründeten. Bankiers, Parlamentsabgeordnete, Rechtsanwälte, hohe Beamte, Geistliche verschiedener Kirchen. Die Gründung dieser Kirche war auch eine Reaktion auf den durch die Französische Revolution geförderten Atheismus und die beginnende soziale Bewegung. So sprach man sich u. a. gegen »Hass und Neid gegenüber Reichtum, Rang und Verdienst« aus. Und man verurteilte die »Leugnung göttlicher Wahrheiten«.

Mit anderen Worten: Während andere Menschen die soziale Bewegung begründeten, der wir heutigen Europäer den Sozialstaat und den materiellen Wohlstand zu verdanken haben, oder andere damit begannen das moderne wissenschaftliche Weltbild zu begründen, da wendeten sich diese Reaktionäre gegen jeden sozialen und wissenschaftlichen Fortschritt.

Nachdem durch »Weissagungen«, »Zungenreden« und ähnlichen Humbug zwölf neue »Apostel« (und einige »Propheten«) ernannt worden waren, dehnte sich diese Kirche auf den europäischen Kontinent aus, besonders nach Deutschland. Ihren Höhepunkt hatte sie um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert, als der letzte dieser »Apostel« starb.

Nur die Apostel hatten das Recht Geistliche (Priester etc.) zu ernennen. Schon als die ersten Apostel 1855 wider Erwarten starben, kamen Stimmen auf, die forderten, man müsse nun neue Apostel ernennen, damit der Kirche nicht irgendwann die Geistlichen ausgehen. Dies wurde aber von den (anfänglich) überlebenden Aposteln abgelehnt. Diejenigen Gemeinden innerhalb dieser Kirche, die trotzdem neue Apostel ernannten – und dies geschah in Deutschland – wurden ausgeschlossen und haben als »Neuapostolische Kirche« überlebt. (Ich habe später, Ende meiner 20er Jahre, mal einiges über die Geschichte dieser Kirche und dieser Spaltung gelesen.) Meine Vorfahren gehörten zu denen, die sich an die Anordnungen der Gründerapostel hielten. Diesen Gemeinden gingen dann mit der Zeit tatsächlich die Geistlichen aus und die Katholisch-Apostolische Kirche ist deshalb inzwischen so gut wie ausgestorben.

In der Katholisch-Apostolischen Kirche spielte Die Offenbarung des Johannes, ein Teil der Bibel, eine große Rolle. Meine Vorfahren und Verwandten glaubten, dass sie zu den Erstlingen gehören, die vor oder während der »Großen Trübsal«, einer gewaltigen göttlichen Strafaktion gegen die Menschen, in den Himmel geholt werden. (Da kommt eine Wolke vom Himmel, da gehen die Erstlinge rauf und dann hebt die ab, wie ein Fahrstuhl. So wurde es mir in meiner Kindheit erzählt. – Und irgendwo gibt es dann eine Art »Mutterwolke«, wo sich die einzelnen Wolken treffen. Da wir auf einer Kugel leben, heben die einzelnen Wolken in ganz verschiedene Richtungen ab. Aber soweit dachten meine Ahnen nicht. ;-) Ich habe später mal, als es schon das Internet gab, diese Offenbarung dort gefunden und zum ersten Mal zur Gänze gelesen und dabei nur fortwährend den Kopf geschüttelt. Eine psychopathische Rachephantasterei auf dem Niveau von Grimms Märchen! Man muss schon ganz schön naiv sein, um das ernst nehmen zu können. Meine Vorfahren waren naiv genug. Sie glaubten, sie würden zu den hundertvierundvierzigtausend gehören, auf dem Berge Zion mit dem Namen des Vaters geschrieben an ihrer Stirn. (14:1 des Machwerks) [6]

In dieser Offenbarung werden die Ortsvorsteher christlicher Gemeinden »Engel« genannt. Das ist wohl der Grund dafür, dass auch die Katholisch-Apostolischen ihre Gemeindevorsteher Engel nannten. Mein Ur- und Ururgroßvater mütterlicher-großmütterlicherseits waren solche Engel und auch weitere Ahnen und Urahnen waren führend in dieser Kirche tätig. [7] (Die Ahnen mit dem Nachnamen Schwarz waren ursprünglich in Ostpreußen beheimatet.)

Friedrich Wilhelm Schwartz, der in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Hamburg führend an der Gründung der Neuapostolischen Kirche beteiligt war, bzw. ihre spätere Gründung entscheidend mit bewirkte, war mit meinen Ahnen verwandt. [8] Die Spaltung ging also mitten durch die Familie. Da Hamburg eine Hochburg der Neuapostolischen war, kamen aus dem ganzen Reich (im 19. Jahrhundert gab es ein solches noch in Deutschland) »Rechtgläubige« nach Hamburg um dort die Kirche wieder aufzubauen und von den ehemaligen Gemeindemitgliedern möglichst viele zurückzugewinnen.

So kam mein Urgroßvater, der vorher in der Katholisch-Apostolische Kirche in Berlin eine höhere Stellung inne hatte, nach Hamburg. Meine Oma mütterlicherseits, Dorothea Sandmann, geb. Schwarz, wurde 1898 in Hamburg geboren. Wann die anderen Großeltern nach Hamburg kamen, weiß ich nicht. Ich erinnere aber, dass mir in meiner Kindheit erzählt wurde, sie seien auch wegen dieser Spaltung nach Hamburg gekommen. Mein Opa mütterlicherseits, Walter Sandmann (Beruf Buchhalter, nach der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre Gärtner) wurde 1893 in Greifenhagen bei Stettin geboren. Mein Opa väterlicherseits, Paul Willy Ernst Möller, war 1886 in Magdeburg geboren (Beruf Büroangestellter, Vorfahren Schuhmachermeister), meine Oma väterlicherseits, Johanna Helene Auguste Möller, geb. Otto, 1892 in Angermünde. (Vater Feldwebel. Zwei ihrer Brüder sind im 1. Weltkrieg gefallen. Mein Vater erzählte, seine Mutter käme aus Stralsund. Vielleicht ist ihr Vater dorthin versetzt worden.) [9]

Meine Mutter, Ruth Möller, geb. Sandmann, wurde 1925 in Hamburg geboren als das erste Kind dieser »Engel«-Tochter. Bei der Geburt wurde ihr die Schädeldecke verletzt. Sie war eine Zangengeburt. Ihr wurden keine Überlebenschancen gegeben und so kam ein »Engel« um sie notzutaufen. (Wäre sie vor der Nottaufe gestorben, wäre sie in die Hölle gekommen! Es wimmelt in der Hölle von abgetriebenen Föten und Fehlgeburten, die dort für alle Ewigkeit gequält werden.) Ich weiß nichts genaues über diese Geburt, aber ich habe später meine Oma kennengelernt und ich könnte mir vorstellen, dass diese »Engel«-Tochter sexuell dermaßen verklemmt war, dass die Geburt ihres ersten Kindes eine psychische Katastrophe für sie war. Man stelle sich mal vor, da muss man die Beine spreizen (!), vor anderen Menschen (!!), die dann alles sehen können. (Herzstillstand !!!) Wo es doch in der Offenbarung über die Erstlinge heißt: »Diese sind's, die mit Weibern nicht befleckt sind.« (14:4 des Machwerks. – Nun frage ich mich, wie machen es eigentlich die Weiber, jedenfalls, die, die zu den Erstlingen gehören wollen, nicht mit sich befleckt zu sein? Stellen die sich so hin, dass alles von ihnen wegtropft?)

Meine Mutter war – wahrscheinlich wegen dieses Geburtsschadens – ihr Leben lang nicht besonders lernfähig, nicht besonders klug. Sie hörte in ihrer Kindheit ständig: »Du bist ja blöd! Du kannst ja nichts!« etc. (Sehr christliches Verhalten von meinen Großeltern, besonders von meiner Großmutter.) Sie hatte in ihrer Kindheit »Krämpfe«, wie sie später ihren Kindern erzählte. Was das genau für eine Krankheit war, weiß ich nicht. Aber u. a. dadurch ist sie nur wenige Jahre zur Schule gegangen und war extrem ungebildet. Und leichtgläubig. Um ein Beispiel zu wählen: Wenn es passiert wäre, dass irgendein fremder Mensch an der Wohnungstür geklingelt hätte, ihr irgendeine Story erzählt hätte, dass er sein Geld verloren hat und nun seine kranke Frau nicht besuchen kann etc. dann hätte meine Mutter ihm 10 Mark gegeben, obwohl sie selbst arm war. Sehr leicht auszunutzen. Naiv gutmütig aber trotzdem egoistisch, wie sich später zeigte. (Und um es vorwegzunehmen, das entschuldigt nicht alles, was sie später gemacht hat.) Meine Mutter konnte an die Offenbarung glauben. Für sie war es schon ein Geheimnis, dass eine Wolke aus Wasser (in unterschiedlichen Aggregatzuständen) besteht. Immerhin wusste sie, dass die Erde eine Kugel ist. (Aber sie glaubte, am Südpol sei es ganz heiß.)

Mein Vater, Werner Möller, wurde 1924 in Hamburg geboren. Von seiner Kindheit weiß ich wenig. Er hat auch so gut wie nie über sie gesprochen. (Außer natürlich, dass sie noch mit 50 Pfennig zum Jahrmarkt gegangen sind und trotzdem noch 10 Pfennig wieder mit nachhause gebracht haben.) Sein Vater war Unterdiakon in der Katholisch-Apostolischen Kirche. (Meine Oma: »Mein Vater war Engel. Was ist sein Vater? Unterdiakon.« Das entspricht ungefähr dem Unterschied zwischen dem Chef eines Unternehmens und dem Pförtner.)

Mein Vater war nach dem Besuch der Volksschule von 1940 bis 1943 Kaufmannsgehilfe-Lehrling und hat scheinbar beim Lehrherren gewohnt. (»Und wenn nachts um 12 einer geklingelt hatte und für fünf Pfennig Senf wollte, dann musste der Lehrling aufstehen und für fünf Pfennig Senf verkaufen. So war das damals.« So erzählte es mein Vater später, als ich Lehrling war und mich wohl über irgendetwas beschwert hatte. Bei den kursiven Wörtern ging immer der erhoben Zeigefinger nach vorne. – Vielleicht war das nur eine Geschichte, die mein Vater als Lehrling von den älteren Kollegen erzählt bekam.)

Soweit ich mich erinnere, war die Rede davon, dass sich mein Vater, bevor er 1943 Soldat wurde, verlobt hatte und während er als Flak-Soldat im Krieg war, seine Verlobte bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen ist. (Deshalb sage ich u. a. in meinen Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus [10], dass es mich ohne den 2. Weltkrieg nicht geben würde, da das Spermium und die Eizelle, aus denen ich einst hervorgegangen bin, sich nie getroffen hätten.)


*   *  *

»Na, jetzt hat er ja doch noch eine gekriegt. Aber was für eine.« So Gemeindemitglieder laut meiner Mutter über meinen Vater und ihre Heirat. (Es war alles von christlicher Nächstenliebe geprägt!)

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2. Kapitel
Die religiöse Phase meiner Kindheit

Irgendwann Ende April / Anfang Mai 1951 trafen sie sich dann aber. Jenes eben erwähnte Spermium und jene eben erwähnte Eizelle. Das Spermium drang in die Eizelle ein und nun begann ein Prozess, den ich viele Jahre später mal als »Ontogenese« [11] näher kennenlernte und am 29. Januar 1952 wurde ich geboren. In Hamburg-Barmbek.

Meine Kindheit zerfällt in zwei Phasen, die gegensätzlicher eigentlich nicht sein können. Viele Kinder hatten eine Kindheit wie ich in einer dieser beiden Phasen, ein solches »Lebensschicksal« gibt es oft. (Wenn es in unserem Land und unserer Zeit auch nicht die Regel ist.) Aber dass ein Kind hintereinander diese beiden recht unterschiedlichen »Lebensschicksale« hat, das kommt wahrscheinlich nur sehr selten vor. Die erste Phase war geprägt durch religiöse Sektiererei, die zweite Phase war geprägt durch völlige Verwahrlosung.

Die ersten ca. 12 Jahre meines Lebens – ich kann das heute nicht mehr so genau sagen, ich habe damals nicht auf den Kalender gekuckt – waren stark durch Religion geprägt, durch regelmäßige Kirchgänge, Tischgebete, abendliche Andachten, Bibellesungen, Gebete. Ein häufig gehörter Spruch war: »Jeden Tag kann der Herr kommen.« Ein anderer Standartspruch von Oma und Mutter: »Die Männer wollen immer nur das Eine.« (Was das war, dieses »Eine«, wusste ich nicht. Das war für mich ein großes Rätsel.) [12]

Ich hatte von klein auf an schlechte Augen. Das rechte Auge schielte nach innen. Ungefähr im Alter zwischen vier und fünf war ich in augenärztlicher Behandlung. Mir wurde über längere Zeit hinweg mal das linke, mal das rechte Auge zugeklebt. Mit dem Linken sah ich dann auch einigermaßen, aber das Rechte war immer extrem sehschwach. (Soweit ich es inzwischen mitbekommen habe, ist das Auge selbst völlig in Ordnung, aber die zu diesem Auge gehörenden Hirnteile haben in der frühen Kindheit nicht Sehen gelernt. Deshalb sage ich über diesen Teil meiner Sehbehinderung, dass ich keinen Augenschaden, sondern einen Gehirnschaden habe ;-) Ich bin faktisch einäugig und habe damit kein räumliches Sehen. (Viele Jahre später, als ich schon erwachsen war, wurde mir irgendwann mal klar, dass dies wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ich bestimmte Sportarten nicht konnte und mich vor einigen geradezu fürchtete.)

Sobald ich lesen konnte, wurde ich dazu aufgefordert selbst in der Bibel zu lesen. Da ich schlechte Augen hatte, konnte ich die dort ver(sch)wendete Schrift nicht richtig entziffern. Die dortigen Buchstaben hatte ich in der Schule nicht gelernt und in der Familie hatte sie mir auch keiner beigebracht. Ich erinnere mich an eine Begebenheit, wo ich mit meiner Mutter und ihrem jüngeren Bruder Horst, der mein Patenonkel war, zusammensaß und ich versuchte die Wörter in der Bibel zu entziffern. Mein Onkel drängte mich und meine Mutter sagte: »Aber wenn er es doch nicht erkennen kann.« Und mein Onkel verärgert: »Dann kann er später nie die Bibel lesen!« Und so kam es auch. Die Bibel habe ich auch nie gelesen. (Ganz stimmt das allerdings nicht. Auszugsweise habe ich später einiges aus der Bibel gelesen. Aber ich habe sie nie ganz von Anfang bis Ende gelesen. – Heutzutage weiß ich, dass die Bibel ein ganz interessantes Buch sein kann, wenn man sie nicht als eine Sammlung göttlicher Offenbarungen und absoluter Wahrheiten ansieht, sondern als ein historisches Dokument. Und sie kann auch sehr lustig sein.) [13]

Mein Vater war Lagerarbeiter, später Lagerverwalter, und meine Mutter war Hausfrau, später Reinmachefrau und Fabrikarbeiterin. Wir wohnte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, im Stuvkamp 10, Parterre, in dem Hamburger Arbeiterstadtteil Barmbek. Ich hatte zwei ältere Schwestern und sechs Jahre nach meiner Geburt kam noch eine Nachzüglerin.

Unsere Familie war arm. Ein Lagerarbeiter verdiente in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wenig, noch weniger als heute. Und es mussten vier Kinder und eine Ehefrau ernährt werden. Meine Mutter arbeitete nicht. Sie war der Auffassung, dass eine Mutter ins Haus zu ihren Kindern gehört. (Später hat sie dies leider vergessen.) Trotz Wirtschaftswunder, selbst innerhalb eines Arbeiterwohngebietes waren wir, gemessen an den Nachbarn, arm. Und es wurde auch noch der »Zehnte« an die Kirche abgegeben. Das brauchte niemand zu überprüfen. Ein Gläubiger wie mein Vater machte so etwas von selbst. Am Eingang der Kirche hingen zwei Kästen. Auf einem Stand »Zehnter«, auf dem anderem »Opfer«. Dort warfen die Mitglieder unserer Kirche brav ihr Geld ein. (Zusätzlich dazu bezahlte mein Vater noch Kirchensteuer! Da wir formell Mitglieder der evangelischen Kirche waren.)

Nur Sonntags gab es Fleisch. Wochentags gab es Kartoffeln mit Gemüse oder Milchsuppen. Die Kartoffeln und die Milchsuppen waren soweit ich mich erinnere jeden zweiten Tag angebrannt. Meine Mutter hatte es einfach nicht gepackt, aufzupassen.

Ich war »krüsch«. Später habe ich erfahren, dass man dieses Wort in Süddeutschland nicht kennt. Ich war ein schlechter Esser. Was auf den Tisch kam, habe ich fast nie gemocht. Wie ich heute weiß, lag es an dem, was es gab und wie meine Mutter es zubereitete. Das einzige, was ich gerne aß, war trocknes Brot. Ich aß von den Scheiben erst das innere und die Kruste zum Schluss. Wenn es etwas gibt, was ich aus meiner frühen Kindheit erinnere, dann dass ich mit einer Scheibe trocknem Brot durch die Wohnung lief, das Innere herauspulte und mein Opa Sandmann fragte mich: »Ach, und wer soll die Kruste essen?« Und ich sagte: »Die ess' ich doch zum Schluss, weil die am besten schmeckt.« Mein Opa hatte zu dieser Zeit schon total kaputte Zähne und konnte keine Kruste essen. Deshalb schien er zu glauben, dass auch jeder andere Mensch Krusten verschmäht. (Er ist scheinbar nie zum Zahnarzt gegangen. Wie er die letzten zehn / fünfzehn Jahre seines Lebens mit seinen Zahnstümpfen durchgehalten hat, ist mir heute schleierhaft. Nur von Zigarren kann man ja nicht leben.)

Besonders schlimm war es für mich, wenn es Sonntags Fisch gab. Ich brauchte nur zu sehen, dass ein Fisch zubereitet wurde und geriet in Panik. (Ich habe im Thesaurus nach einem anderen Wort gesucht, um nicht zweimal das Wort »Panik« zu benutzen. Aber es gab keines, das angemessen wäre.) Ich mochte keinen Fisch und keine Senfsoße. Was aber viel schlimmer war, ich bekam nach ein, zwei Bissen Gräten in den Mund, was mir so unangenehm war, dass ich einen starken Brechreiz verspürte. Meine Eltern hatten keinerlei Problembewusstsein, keine Sensibilität für so was. »Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!« Wenn ich mich dann zum Essen an den Küchentisch setzen musste, war ich schon völlig panisch. Ängstlich wäre ein viel zu schwacher Ausdruck. Wenn ich dann unter Androhung von Schläge begann den Fisch zu essen, brauchte ich nur ein bisschen Gräte am Gaumen oder der Zunge verspüren und ich spuckte alles aus, trotz der Strafe, die man mir androhte. Erst dann hatten meine Eltern ein Einsehen und ich brauchte nicht weiter zu essen.

Ich war in meiner Kindheit immer untergewichtig. [14]

Meine Mutter hatte ihren Kindern nicht beigebracht sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Mein Vater war reinlicher als meine Mutter, aber hat dies nicht an seine Kinder weitergegeben. Er war der Auffassung, dass dies die Aufgabe unserer Mutter sei. Schließlich ging er arbeiten und schaffte das Geld rann. Und wenn die Mutter ihren Kindern keine Reinlichkeit beibrachte, dann hatten die eben Pech. Die Unterwäsche, in der wir auch schliefen, da es keine Schlafanzüge gab, wurde einmal die Woche gewechselt. Bei den Nachbarskindern im Stuvkamp – wo nur Arbeiter und kleine Angestellte lebten – hießen wir »Dreckmöller«. (Ich habe mich später in andere soziale Schichten hineinentwickelt und wenn ich jemanden erzählte, dass ich in meiner Kindheit nicht gelernt habe mich zu waschen und die Zähne zu putzen, dann konnte das keiner begreifen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass es mir nicht geglaubt wurde.)

Meine Eltern hatten nichts dagegen getan, dass ich Nägelbeißer war. Dadurch hatte ich meistens natürliche Zahnstocher im Mund, was sich langfristig als positiv erwies. Die abgekauten Nägel behielt ich stundenlang im Mund und spielte damit. Die Zahnzwischenräume der Schneidezähne wurden so von Speiseresten befreit. Ich habe heute noch ca. zwei Drittel meiner Zähne, (allerdings so gut wie keinen ungeflickt) obwohl ich in den ersten beiden Jahrzehnten meines Lebens praktisch keinerlei Zahnpflege hatte. Wenn ich später nicht andere Wege gegangen wäre als meine Eltern, dann hätte ich im Alter von 30 Jahren keinen einzigen Zahn mehr gehabt.


Bis zu meinem sechsten Lebensjahr bin ich häufig nachts zu meiner Mutter heimlich ins Bett gekrochen. Mein Vater durfte das nicht wissen. Der wollte das nicht. Ich erinnere mich an mehrere Fälle, wo er mich ziemlich wütend verscheuchte, als ich ins Wohnzimmer geschlichen kam, wo meine Eltern auf der Ausziehcouch schliefen. Einmal wachte ich nachts auf, weil mein Vater meine Mutter ziemlich verärgert fragte: »Was will der denn schon wieder hier?« Das war mir unverständlich. Ich war so klein, ich nahm fast keinen Platz weg und ich lag immer auf der anderen Seite von meiner Mutter. Und mein Vater war ansonsten eigentlich nicht so abweisend.

Und dann fand ich ein Paket mit ca. acht Zentimeter großen quadratischen Wattebäusche, die mir meine Mutter aber sofort wegnahm. »Wofür brauchst du die?« »Sei nicht so neugierig!« »Aber ich will doch nur wissen, wozu du die brauchst!« Bestimmte Fragen wurden einfach nicht beantwortet.

Ich erinnere, dass ein Mädchen aus der Nachbarschaft erzählte, die Kinder würden aus dem Bauchnabel der Mutter herausgezogen. Worauf unsere Mutter meine zwei älteren Schwestern und mich zusammenrief und uns dann in feierlichem Ernst erzählte, dass der Mann sein Glied in die Scheide der Frau steckt, dann im Bauch der Mutter ein Kind wächst, das dann zwischen ihren Beinen herauskommt. Dass der Zeugungsvorgang Spaß machen kann, davon war keine Rede. Im weiteren Leben habe ich von meinen Eltern auch nie etwas über Sex erfahren.

Ich habe noch als junger Erwachsener geglaubt, dass nur Männer Sex wollen und brauchen. Die Männer wollen was von den Frauen. Die Frauen kommen auch ohne Männer aus und ohne mich sowieso.

Als ich schon erwachsen war, und über diesen Bereich bereits mehr wusste, als meine Eltern jemals in ihrem Leben, da hat meine Mutter das eine und andere mal erzählt. Z. B. wie zum ersten Mal ihre Tage hatte. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr passierte und ihr jüngerer Bruder Horst ging zu meiner Großmutter und sagte ihr: »Ruth blutet zwischen den Beinen.« Meine Oma gab meiner Mutter dann eine Binde und als die fragte, was mit ihr sei, antworte meine Oma: »Ach, das ist nichts. Denk nicht darüber nach.« So wurde in unserer Familie damit umgegangen. Das waren die 30er Jahre. Da war ein solches Verhalten noch weit verbreitet. Nicht nur bei religiösen Fanatikern.

Ich habe nie an den Klapperstorch geglaubt. Auch nicht an den Weihnachtsmann. Meine Eltern und Großeltern waren so bibeltreu, dass sie den Kindern nichts erzählten, was nicht in der Bibel stand. Vom Klapperstorch und Weihnachtsmann steht da nichts. Ergo hätten solche Geschichten die Kinder nur abgelenkt vom richtigen Glauben, nämlich an Gott, und dass uns Jesus bald in den Himmel holt.


Ich habe die Weihnachtsgeschichte auswendig gelernt. »Es begab sich aber zu der Zeit das ein Gebot ausging etc.« Ich war gut in Rechnen. (Bis zur 7. Klasse hatte ich fast immer Einsen.) Obwohl mich niemand in diese Richtung hin gefördert hatte. Meine beiden älteren Schwestern (eine vier, die andere zwei Jahre älter) konnten ihre Textaufgaben nicht lösen und meine Mutter konnte ihnen nicht helfen. Ich konnte die lösen. Ich konnte auch meine Mutter und meine Schwestern in Schach, Mühle, Dame etc. schlagen. Nur mein Vater war besser als ich.

Ich hatte Begabungen. Aber diese wurden nicht erkannt und nicht gefördert. In einer anderen Familie, mit sensibleren Eltern, gebildeteren, ehrgeizigeren hätte ich auf dem Gymnasium sein können. Ich hätte in meiner Kindheit mit meinem Gedächtnis mehrere Fremdsprachen lernen können. Aber auf die Schulbildung ihrer Kinder haben meine Eltern nie ein großes Augenmerk gehabt. Solche Dinge spielte in ihrer geistigen Welt keine Rolle.

Meine Eltern waren nicht nur ungebildet und unehrgeizig, sie waren eben auch fanatisch und naiv gläubig. Das Einzige, was auf dieser Welt wirklich zählte, war fromm zu sein, sich als würdig zu erweisen in den Himmel zu kommen. Und gemessen an der dann bestehenden ewigen Glückseligkeit spielte der kurze Zeitraum auf der Erde ja nun wirklich keine Rolle. Bei den Geschwistern meiner Eltern waren die meisten allerdings genauso gläubig, haben aber trotzdem mehr darauf geachtet, dass die Kinder etwas lernen.


Zu meinen Großeltern väterlicherseits hatte ich so gut wie keine Beziehung, außer dass ich Sonntags in der Kirche häufig neben meiner Oma Möller saß. Aber in der Kirche kommuniziert man ja nicht miteinander. Nur einmal im Jahr am 2. Weihnachtsfeiertag besuchten wir sie. Mein Opa Möller hatte am 26. Dezember Geburtstag. (Am gleichen Tag wie Mao Tse Tung. Das erfuhr ich allerdings erst sehr viel später. ;-)

Aber zu meiner Oma Sandmann, geborene Schwarz, hatte in meiner frühen Kindheit sehr viel Kontakt. Bis ungefähr zu meinem 12. Lebensjahr war ich sehr häufig und sehr gerne bei ihr. In vielen Punkten ist ihr Einfluss auf meine heutige psychische Struktur stärker, als der meiner Eltern. Als wir noch in Barmbek wohnten, bin ich jeden Tag zu ihr gegangen – sie wohnte ca. 500 Meter von unserer Wohnung entfernt – und ich bekam von ihr täglich einen halben Liter Milch. (Vielleicht bin ich auch deshalb heute klüger, als es ihr recht wäre.) Als wir dann in Rahlstedt wohnten, bin ich einmal die Woche mit dem Rad zu ihr gefahren und habe dann dort übernachtet. Ich habe für sie die Treppe saubergemacht und dafür fünf Mark bekommen. Das war für mich damals viel Geld.

Einmal bat sie mich ein Marmeladenglas oder ähnliches aufzuschrauben. »Ich kann das mit diesem Arm nicht.« Ich schraubte es auf. »Aber du bist doch viel stärker als ich!« »Aber du bist neuer.« »Ich bin aber schon zehn!« (Oder neun oder elf. Das kann ich nicht mehr erinnern.) »Ha, ha. Soll ich dir mal sagen, wie alt ich bin? Ach, vergiss es. Als ich so alt wie du war, habe ich auch nicht verstanden, was das bedeutet.« Meine Oma war zu der Zeit ungefähr so alt, wie ich jetzt bin. (2010) Ich hörte in meiner Kindheit auch häufig – wenn man mit irgendetwas nicht zufrieden war: »Dafür habt ihr euer ganzes Leben noch vor euch.« Ja und? Was sagte denn das? Das ist doch völlig normal, dass man noch sein ganzes Leben vor sich hat. (Außerdem glaubten meine Verwandten, dass sie noch die ganze Ewigkeit vor sich hätten. Im Anbetracht dieses Glaubens war es noch merkwürdiger, Kindern so etwas zu sagen.)

Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten nicht zusammen. Sie kamen nicht miteinander aus, durften sich aber auch nicht scheiden lassen. Das war in unserer Kirche streng verboten. Scheinbar kam meine Oma aber mit sehr vielen Menschen nicht gut aus. Es gab damals in Hamburg noch zwei Katholisch-Apostolische Gemeinden. Eine in Barmbek und eine in Altona. Meine Oma fuhr immer nach Altona, obwohl sie in Barmbek wohnte. Sie mochte die Barmbeker nicht. Die gesamte übrige Verwandtschaft ging in Barmbek in die Kirche, in der Finkenau. Irgendwann schnappte ich mal auf, dass jemand über meine Oma sagte: »Hoffentlich hat sie im Himmel auch einen anderen Raum als die Barmbeker.«

Ich war Sonntags oft bei meiner Oma und dann war auch häufig mein Opa da. Einmal geschah folgendes: Er sagte: »So, ich gehe jetzt. Du bist heute mal wieder unerträglich.« Und sie sagte: »Aber Peter bleibt bei mir.« Und er sagte: »Aber nur, weil er noch zu klein ist, um zu merken, was du für eine bist.« Er hatte wohl recht. Wenn ich meiner Oma als Erwachsener begegnet wäre, hätte es einmal einen großen Krach gegeben und anschließend wäre ich exkommuniziert gewesen. Sie starb 1969. So musste sie nicht mehr miterleben, dass ich Kommunist wurde. Zum Ende ihres Lebens, als ich mich schon als Kommunist verstand ohne organisiert zu sein, nahm sie das nicht ernst. Ich sei nur im Flegelalter. Sie schimpfe sehr häufig auf die »Bolschewisten«. (Auch auf den Zaren, der so grausam war. »Aber«, fügte sie dann hinzu »die Russen brauchten eine harte Hand.«) Es hätte sie wohl hart getroffen, wenn sie es mitbekommen hätte, dass ihr Lieblingsenkel Bolschewist wurde.

Meine Oma hatte einen Verfolgungswahn. Sie glaubte ihre Nachbarin würde sie durch die Wände hindurch mit speziellen Apparaten beobachten und sie hätte Mikrophone unter den Holzfußboden geschoben um sie zu belauschen. Die Wände waren mit Decken verhängt und Schranktüren blieben offen, um möglichst viele Sichtbarrieren zu haben. Ich sagte mal zu meiner Oma: »Wenn die durch die Wände gucken kann, dann kann sie doch auch durch die Schranktüren gucken.« Aber da wurde meine Oma sehr wütend. Man durfte sie darauf nicht ansprechen. Einmal waren wir sogar bei dieser Nachbarin und haben am Abend dort ferngesehen. Meine Oma hatte noch lichte Momente und die Nachbarin bemühte sich auch, meiner Oma ihre Harmlosigkeit zu beweisen. Aber der Wahn hat sich dann doch durchgesetzt.

Meine Oma hat mir den Glauben eingeimpft – ohne das je ein Wort darüber gesprochen worden wäre –, dass, wenn man zur Toilette geht, man eine Sünde begeht. Verstandesmäßig habe ich dies längst überwunden, gefühlsmäßig aber nicht. Diese Macke ist unabänderlich in meiner psychischen Struktur eingebrannt und führt dazu, dass ich immer ein ungutes Gefühl haben, wenn ich auf eine öffentliche Toilette gehe. (Besonders wenn daneben weitere Kabinen sind, in denen andere »Sünder« ihrer verabscheuungswürdigen Tätigkeit nachgehen.) Zur Toilette geht man so unauffällig wie möglich, so leise und verstohlen wie möglich und spricht darüber nicht. (Wenn sie auf Toilette war, durfte ich nicht in die Nähe der Toilettentür kommen.)

Meine Oma wäre nie auf die Idee gekommen, den Lieben Gott zu kritisieren. Völlig undenkbar! Aber wenn es da etwas gab, das besser hätte sein können, dann, dass beim Menschen auf die Knie direkt der Bauch folgt und alles dazwischen nicht existieren würde. (Vielleicht sieht der Auferstehungsleib so aus. Die Menschen sind im Himmel geschlechtslos und verdauen tun sie auch nichts. Das bisschen Manna schwitzen sie aus. Das trifft allerdings nur für den christlichen Himmel zu. Nicht für den moslemischen.) [15]

Als ich älter wurde, ertappte ich mich des Öfteren dabei, dass ich auf den Po eines Mädchens kuckte. Das war ganz unwillkürlich. Der Po von Mädchen unterscheidet sich etwas von dem Po von Jungen. Der Unterschied ist für asexuelle Wesen wahrscheinlich unbedeutend, fast nicht wahrnehmbar. Aber für mich als »Hetero« hatten diese weiblichen Pos irgendwas erregendes. Aber natürlich wusste ich, dass man auf Pos nicht kuckt. Das war ein ganz ekelhafter, verabscheuungswürdiger Körperteil. Da könnte man sich ja gleich einen »Kackehaufen« ansehen. Igitt!


Nachdem 1958 noch ein viertes Kind geboren wurde – ich hatte mir einen Bruder gewünscht, es wurde aber eine dritte Schwester – war die Wohnung nun endgültig zu klein. Die nächsten zwei Jahre schlief ich in der Küche, da in das Kinderzimmer kein viertes Bett passte. Mein Vater suchte nach einer größeren Wohnung und mit Unterstützung eines Onkels meiner Mutter, der bei der Wohnungsbaugesellschaft »Neues Hamburg« einen mehr oder weniger hohen Posten hatte (was der dort genau war, weiß ich gar nicht) bekamen wir ein Reihenhaus. (Sozialer Wohnungsbau.)

(Dieser Onkel, Werner Schwarz, ein jüngerer Halbbruder meiner Oma Sandmann muss allerdings ziemlich gut verdient haben, denn er hatte ein eigenes Haus und viele Kinder, die alle ihr eigenes Musikinstrument hatten. Häusliche Musik war da an der Tagesordnung und eine seiner Töchter, Hanna Schwarz, wurde später eine berühmte Opernsängerin.)

Im Spätherbst 1960 zogen wir nach Rahlstedt, genauer nach Großlohe, in den Mehlandsredder 39a. Großlohe war eine Neubausiedlung am Rande der Stadt, die man seit Ende der 50er Jahre aus dem Boden gestampft hatte, wo vorher Feld und Wiesen waren. Einen Kilometer entfernt war die Landesgrenze zu Schleswig-Holstein.

Ich war in der 2. Klasse als wir umzogen. Bis Ende der 3. Klasse war mein Klassenlehrer Herr Schulze. Er kam scheinbar mit den Kindern nicht richtig zu recht. Die Kinder mochten ihn nicht. Er galt als schlechter, doofer Lehrer. Ich hatte in Rechtschreibung ständig Fünfen und Sechsen. Er schrieb mir im Schulheft die Wörter, die ich falsch geschrieben hatte, an den Zeilenanfang und ich musste sie dann so oft nachschreiben, wie Platz in der Zeile war. Wozu ich aber nicht die geringste Lust hatte, weshalb ich es entweder gar nicht oder nur widerwillig machte. (Mit regelmäßigen Übungen hätte ich mindestens eine Drei oder Vier schaffen können.)

Ich war Legastheniker, kannte aber dieses Wort natürlich nicht. Meine Eltern kannte es auch nicht. Ob von den Lehrern an der Schule es irgendjemand kannte, weiß ich nicht. In Rechnen war ich immer einer der Besten und hatte meistens Einsen. Die Noten in den anderen Fächern waren überdurchschnittlich gut. Konkretes erinnere ich allerdings nicht mehr. – Ich bin heute noch Legastheniker. Hätte mein Textverarbeitungsprogramm keine automatische Rechtschreibkontrolle, würde es hier nur so wimmeln von Rechtschreibfehlern. Ich tröste mich damit, dass auch Einstein Legastheniker war. (Auch »seine« Rowohlt Bildmonographie habe ich gelesen.) Es gibt eben Menschen, die stehen über solchen blöden Rechtschreibregeln. Rechtschreibung ist Konvention, Logik und Mathematik nicht. (Einspruch diverser Philosophen !!! Z. B. Poincaré, Ayer, Quine.)

Ein Klassenkamerad aus dieser frühen Zeit war Uwe W., dessen Familie in der Reihenhausreihe Mehlandsredder 37 wohnte. Dort habe ich häufig abends mit Uwe auf dem Teppich vor dem Fernseher gespielt (meine Eltern hatte bis in den zweite Hälfte der 60er Jahre keinen Fernseher) und im Vorabendprogramm »Gestatten, mein Name ist Cox« gesehen. Das ist die früheste Fernsehserie, die ich erinnere. Günter Pfitzmann, der dort die Hauptrolle – soweit ich erinnere einen Privatdetektiven – spielte, ist der erste Schauspieler, den ich kannte.

Einmal fragte mich Uwe auf dem Heimweg von der Schule, ob wir jetzt gleich spielen und ich sagte zu ihm: »Aber wir haben doch Schularbeiten auf.« Und er sagte: »Ich mach die nicht.« Und erstaunt fragte ich: »Wieso machst du die nicht?« »Nee, ich mach die nicht.« Bis zu diesem Zeitpunkt – ich war wahrscheinlich neun Jahre alt – war es für mich selbstverständlich, dass ich tat, was der Lehrer (oder andere Erwachsene) anordneten. Jetzt lernte ich, dass man gar nicht tun muss, was der Lehrer verlangte. Man konnte es auch einfach lassen.

Ich habe später oft darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn ich diesen Freund in meiner frühen Kindheit nicht gehabt hätte, wenn ich nur mit Kindern Umgang gehabt hätte, denen ein ähnliches Pflichtbewusstsein anerzogen wurde wie mir. Wann wäre ich zum ersten Mal auf die Idee gekommen, meine Schularbeiten nicht zu machen? Den Anordnungen von Erwachsenen nicht Folge zu leisten? Es ist nicht feststellbar. Zumindest hätte ich wohl einige Jahre länger regelmäßig meine Schularbeiten gemacht. – Mit Uwe war ich den größten Teil der 60er Jahre nicht mehr befreundet. Warum erinnere ich nicht mehr.

Einmal waren wir mit der Klasse bei Hagenbeck. (Das ist der Zoo in Hamburg. Das Wort »Zoo« kannte ich in meiner Kindheit gar nicht.) Später fragte ich meine Mutter mal: »Können wir nicht mal zu Hagenbeck gehen?« Und meine Mutter: »Nach Hagenbeck? Hä! Wer soll denn das bezahlen? Du hast ja vielleicht Vorstellungen. Nach Hagenbeck. Hä, hä.« So richtig zynisch sagte sie das. Als wenn es eine Zumutung wäre, wenn ein kleiner Junge den Wunsch äußert, in den Zoo zu gehen. (Da war meine Mutter schon wesentlich eher eine Zumutung.)


Abends »las« ich in der Hamburger Morgenpost, die mein Vater von der Arbeit mit nach Hause brachte, die Comix. Phantom (Urwaldheld), Gordon (Weltraumheld), Kuddl Dutt (Popeye) Mandra (Zauberer), Willy Wacker (Andy Cap) und weiteres. Ansonsten interessierte mich nichts aus der Zeitung. Selbst Boulevard-Blätter waren über meinem Niveau. (Nun war ich allerdings auch noch ein Kind, und Kinder aus allen sozialen Schichten lesen gerne Comix.)

Dann waren meine Eltern scheinbar irgendeinem Buchclub beigetreten und es waren zwei große Bücher von Wilhelm Busch da. In denen habe ich sehr häufig geschmökert. (Die besten seiner Gedichte waren da allerdings gar nicht drin. Die habe ich erst als Erwachsener kennengelernt.)

Und dann bekam ich meine ersten Karl May Bücher. In meiner Kindheit habe wahrscheinlich so an die vierzig Karl May Romane gelesen. Karl May hatte in seinen Büchern sehr stark den Lieben Gott eingebaut und das entsprach erheblich mehr den Auffassungen meiner Eltern, als das, was Wilhelm Busch schrieb und malte.

Dann las ich Pipi Langstrumpf. Die Bücher gehörten meiner ältesten Schwester. Ich erinnere mich daran, dass meine Oma mit meiner Mutter schimpfte, dass sie uns so was lesen ließ. »Das ist heidnisch! Kommt da etwa irgendwo der Liebe Gott drin vor?«

Irgendwann hatte sich meine Mutter an der Tür ein Abo für Micky-Maus-Hefte aufschwatzen lassen. Das war noch in Barmbek. Nach ein paar Heften war aber schon wieder Schluss. Aber nun kannte ich Micky Maus, Goofy, Donald Duck etc. und wenn immer ich später bei Schulkameraden, Freunden usw. Micky-Maus-Hefte sah, stürzte ich mich auf sie. In meiner Kindheit gab es außer Süßigkeiten nichts schöneres als Comix.

Ich hatte damals allerdings schon die Angewohnheit bestimmte Dinge logisch zu hinterfragen. Mir fielen Dinge auf, die anderen nicht auffielen, bzw. wo andere keine Probleme mit hatten. Donald hatte immer nur eine Jacke an, keine Hose. Das störte ihn auch gar nicht. Aber wenn man ihm die Jacke wegnahm, dann störte es ihn plötzlich, dass er keine Hose anhatte. Dann stand er da mit gekreuzten Armen vor seinem Schritt. (Später fiel mir auf, dass Daisy Hackenschuhe trug, was ich noch unpassender fand. Eine Frau, die eine Jacke anhat und Hackenschuhe, aber keine Hose. Das ist ja nicht gerade was für Kinder. ;-)

Mit mir darf man nicht vor dem Fernseher sitzen. Ich habe die Angewohnheit beim Ansehen von Filmen ständig zu sagen: »Das ist doch völlig unlogisch. So würde sich im wirklichen Leben doch kein Mensch benehmen.« etc. Den meisten anderen Menschen gehen solche Kommentare auf den Geist. Die meisten wollen gar nicht, dass die Geschichten in sich schlüssig sind.)


Einer meiner ersten Spielkameraden in Großlohe war Bernd G. Er wohnte in der Reihenhausreihe Mehlandsredder 41. Er war wohl auch der erste, der mich dort verhauen hatte. Aber als Kind war man deshalb jemanden ja nicht auf ewig böse.

Soweit ich es erinnere, wohnte in der gleichen Reihenhausreihe auch die Familie Scholz. Einer ihrer Söhne wurde später erst Stamokap-Juso und später dann Generalsekretär der SPD. Gegenwärtig (2011) ist er stellvertretender SPD-Vorsitzender und 1. Bürgermeister von Hamburg. In meiner Kindheit hatte ich mit dem wenig zu tun. Er war sechs Jahre jünger als ich. Für Kinder ist das eine Ewigkeit. Im »Startloch« (siehe weiter hinten) hat man ihn hin und wieder mal gesehen. (Die Jusos an der Basis sagte aber schon damals: »Der spielt in einer höheren Liga.«)

Zwischen den Reihenhausreihen 39 und 41 war eine Sandkiste, gleich neben unserem Haus, wo ich in den nächsten Jahren viel gespielt habe. Nicht mit Pufferformen, sondern mit Autos, Panzern, später mit dem Ball. Und natürlich haben wir Indianer gespielt und uns aus Holz alle möglichen Waffen gebastelt.

Meine früheste »sexuelle« Erinnerung (das Wort kannte ich nicht, noch weniger wusste ich, was das ist) war, dass ich im Bett, bzw. auf der Couch in der Küche – in Barmbek noch – an Schulkameradinnen dachte und mich dabei aufgeregt herumdrehte. Jahre später – ich war wohl um die zehn Jahre alt – erzählte mir Bernie auf der Treppe vor unserem Reihenhaus wie man onaniert. (Ohne das dieses Wort benutzt wurde.) »Wenn man bei seinem Schwanz vorne so immer hin und her macht, dann bekommt man schöne Gefühle.« Das habe ich am Abend dann gleich ausprobiert und es klappte. Ich bekam tatsächlich schöne Gefühle. Wenn ich nun abends im Bett an Klassenkameradinnen denken musste, dann wusste ich, was ich dagegen tun konnte.

Von der 4. bis zur 7. Klasse hatte ich den gleichen Klassenlehrer. Herr Tiede, den wir gut fanden. Heute weiß ich, dass er rabiate unsensible pädagogische Methoden drauf hatte, die ich damals aber natürlich noch nicht problematisiert hatte. Er ohrfeigte die Kinder. Wenn Kinder zu spät kamen, konnte er sehr wütend und ausfällig werden und sprach davon, dass die bei ihm unten durch seien etc. Von einem Lehrer müsste man Kindern gegenüber eigentlich etwas mehr Souveränität und Gelassenheit erwarten können. Damals waren wir Jungs – wohl besonders aus Hamburg – große Uwe-Seeler-Fans. Herr Tiede sagte (über die Fußballspieler des HSV): »Die kommen ja alle aus ganz dummen Familie.« Die Kinder, die er unterrichtete, auch. Sein Vater war Postobersekretär oder so was ähnliches. Ist ja auch nicht die Welt. Aber wenn sich jemand was einbilden will, dann reicht's. Über den Arbeitern stand er.

Einmal rief er mich nach vorne und ich musste mir vor der ganzen Klasse die Fingernägel saubermachen. Damals glaubten Pädagogen noch, dass ein solch erniedrigender Vorfall erzieherische Wirkung habe und sich ein Kind anschließend immer die Fingernägel reinigt. Bei mir hat es nicht zu mehr Sauberkeit geführt, nur zu einer Verstärkung meiner Minderwertigkeitsgefühle.

Die hatte ich reichlich. Ohne diesen Begriff zu kennen. Ich habe geschielt. Ich war der Schwächste. Alle konnten mich verhauen, aber ich konnte niemanden verhauen. (Ich hatte allerdings auch nie ein Bedürfnis danach.) Ich konnte nicht Fußball spielen. Beim Auslosen der Mannschaften war ich immer der oder einer der letzten, die gewählt wurden. [16] Im Sport war ich eine Niete. Ich bekam nie eine Urkunde bei den Wettbewerben. Ich hatte bei vielen Turnarten Angst. Ich war feige. Am Reck Drehungen zu machen, war schon ein Horror für mich. Beim Bockspringen kann hinzukommen, dass ich wegen meiner faktischen Einäugigkeit kein räumliches Sehen habe. Das hat aber niemanden interessiert. Von einem Pädagogen müsste man eigentlich erwarten können, dass er einen sehr ängstlichen Jungen, der am untersten Ende der Hackordnung steht, eine besondere Behandlung angedeihen lässt. Die gab es nicht. Mit diesem Problem musste ich alleine fertig werden. Ich wurde damit aber nicht fertig. Auch mein Vater hat sich nie dafür interessiert. Er war selbst feige. Ich war sozial und wohl auch genetisch vorbelastet. (Mit dieser Feigheit hing auch zusammen, dass ich mich so lange es ging vor dem Besuch des Zahnarztes drückte und selbst kleinen Hunden auswich.) [17]


Abschließend zur ersten Phase meiner Kindheit kann ich sagen: Ich war geliebt und umsorgt. Ich war zwar untergewichtig, dafür wurde ich mit Religion überfüttert. Ich hatte so gut wie keine Reinlichkeit gelernt und wurde auch geschlagen, wenn ich nicht essen wollte oder gekokelt hatte. Aber ich glaube, zur damaligen Zeit wurde in vielen Familie mehr geprügelt als bei uns. Wir waren arm und hatten deshalb vieles nicht, was die Nachbarskinder hatten, z. B. Urlaubsreisen gab es bei uns nie. Aber: In der Zeit, wo der Mensch seine psychische Struktur herausbildet, die ihm zur zweiten Natur wird, haben die positiven Elemente eindeutig überwogen. Meine Eltern und Großeltern waren ja nicht etwa böse, nicht grausam. Sie waren einfach nur fürchterlich dumm. Und fanatisch gläubig. Meine Mutter war darüber hinaus schmutzig und faul.

Auf Grund dieses »Geliebt-und-umsorgt-Seins« konnte ich eine psychische Struktur herausbilden, die es mir ermöglichte, die Primären Bedürfnisse des Menschen auch subjektiv als Primäre Bedürfnisse zu erleben. Und zwar mein ganzes Leben hindurch. Auch zu Zeiten, in denen meine Lebensumstände Sekundäre Bedürfnisse hervorriefen. Auch in dieser Zeit konnte ich zwischen diesen beiden Bedürfnisgruppen unterscheiden. [18] Es gibt leider viele Menschen, die in ihrer frühen Kindheit so sehr kaputt gemacht wurden, dass sie ihr ganzes weiteres Leben, wie auch immer ihre Lebensumstände sein mögen, die Primären Bedürfnisse des Menschen subjektiv nicht als die primären erkennen können.

Ob das allerdings zu meinem Vorteil war, ob ich nicht mit einer Dominanz der Sekundären Bedürfnisse besser durchs Leben gekommen wäre, dass ist eine andere Frage.

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3. Kapitel
Die Phase der Verwahrlosung

Als ich um die zwölf Jahre alt war, begann nun aber ein gänzlich anderer Abschnitt meiner Kindheit. Es kam zum ersten Bruch in meinem Leben. (Ich hatte später noch drei weitere.) [19]

Die 2. Phase meiner Kindheit begann, als ich ungefähr zwölf Jahre alt war und endete um meinen 18. Geburtstag herum. Die letzten Jahre dieses Zeitraums würden andere wohl schon als Jugendzeit bezeichnen. Ich zähle sie zu meiner Kindheit, weil ich dies auf Grund meiner ganz spezifischen individuellen Entwicklung für angemessener halte und weil am Ende dieses Zeitraumes Ereignisse stattfanden, die dann tatsächlich einen gänzlich anderen Lebensabschnitt einleiteten, den ich als meine Jugendzeit ansehe. (Und ich werde weiter hinten darauf eingehen, dass ich nach meiner Einschätzung eigentlich nie richtig erwachsen geworden bin und mein ganzes späteres Leben irgendwie zu einer Verewigung meiner Jugendzeit wurde. Auch deshalb zähle ich die Zeit von 15 bis 18 nicht zu meiner Jugendzeit.)

Als ich um die elf/zwölf Jahre alt war, musste meine Mutter einmal mit mir zum Jugendamt. Dort wurde ich gewogen und untersucht. Dann fragte eine Beamtin meine Mutter: »Sagen sie mal, geben sie dem nichts zu essen?« Und meine Mutter ganz aufgebracht: »Natürlich kriegt der was zu essen. Aber er isst schlecht.«

Ich wurde verschickt, weil ich untergewichtig war. Nach Heiligenhafen an der Ostsee. Daran habe ich schöne Erinnerungen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich verreist. Ich war am Strand. Ich sammelte Muscheln, Bernsteine und Donnerkeile. (So nannten wir damals die Fulgurite, die beim Blitzeinschlag in den Sand am Strand entstanden.) Wir machten Geländespiele. Es gab viele leckere Sachen zu essen – Morgens Puddingsuppen und jeden Tag Fleisch – und am Ende der Verschickung hatte ich zugenommen. Ich erinnere nur den verordneten Mittagsschlaf als unschön. Und: Es gab keine Bibellesungen, keine Gebete und Sonntags gingen wir nicht in Kirche.

Soweit ich mich erinnere, begann während meiner Abwesenheit meine Mutter damit, zu den Nachbarn drei Häuser weiter zu gehen, bzw. es wurde zu dieser Zeit intensiver.

Die Warlichs wohnten im vierten Haus unserer Reihenhausreihe, wir in dem ersten. Sie hatten vier Kinder, die um einige Jahre jünger waren als ich und meine älteren Schwestern. Irgendwann in der Zeit zwischen 1963 und 65 hatte meine Mutter mit dem Ehepaar Warlich Freundschaft geschlossen und hielt sich immer häufiger in deren Haus auf. Anfänglich waren auch deren Kinder sehr häufig bei uns und aßen bei uns zu Mittag. Meine Mutter betreute diese Kinder. Ob die Warlichs beide berufstätig waren, kann ich heute nicht mehr erinnern. Ich erinnere nur, dass die Frau Krebs hatte, der aber scheinbar geheilt wurde.

(Was der Warlich für ein Trottel war, sieht man schon daran, wie er seine Tochter nannte. Zuerst bekam er drei Söhne, träumte aber immer davon eine Tochter zu haben. Als das vierte Kind dann endlich ein Mädchen war, nannte er es »Trauma«. Und das setzte er auch auf dem Standesamt durch. Ob die Tochter irgendwann einmal im Leben gemerkt hat, was ihr Vater ihr da angetan hat, weiß ich nicht. Ich habe diese Leute schon Anfang der 70er Jahre völlig aus den Augen verloren.)

Meine Eltern verstanden sich nicht. Ich hab das damals gar nicht mitbekommen. Aber »was Gott zusammenfügt, darf der Mensch nicht scheiden«. Und so blieben sie zusammen. Aber irgendwann ging es wohl nicht mehr und meine Mutter verließ faktisch ihren Mann. Sie schlief zwar noch im gleichen Haus, aber in einem anderen Raum als mein Vater. Und sie verließ nicht nur ihren Mann, sie verließ ihre Familie, sie verließ ihre Kinder. Sie wollte von meinem Vater weg und die Nachbarn haben wohl ihre Naivität ausgenützt um kostenlos eine Haushaltshilfe und ein Kindermädchen zu haben.

Mein Vater ging schon vor fünf Uhr morgens aus dem Haus zur Arbeit. Meine Mutter stand fast nie vor elf Uhr auf. Wir Kinder standen immer allein auf und gingen ohne Frühstück zur Schule. Aber auch ohne uns zu waschen und häufig ohne die Schularbeiten gemacht zu haben. Die Zähne putzte sich niemand in meiner Familie. Meine Zähne verfaulten in meinem Mund, während sie wuchsen.

Nachdem meine Mutter gegen Mittag aufgestanden war, ging sie zu den Warlichs und blieb dort bis ca. Mitternacht. Zwischendurch sah man sie auch hin und wieder mal in unserem Haus. Tagsüber war mein Vater auf der Arbeit. Er gab ihr wohl auch noch Haushaltsgeld. Die Kinder mussten irgendetwas zu essen kriegen. Scheinbar wusch sie wohl auch noch hin und wieder unsere Wäsche. Das erinnere ich aber im Einzelnen nicht mehr. Aber ein Kind braucht nicht nur Nahrung und Kleidung. Irgendeine sonstige Art von Betreuung gab es nicht mehr. Dass meine Mutter nur drei Häuser weit entfernt war, spielte für mich keine Rolle. Sie hätte genauso gut auf einem anderen Kontinent sein können. Die Wirkung wäre für mich fast die gleiche gewesen.

Zu dieser Zeit hörte ich auch auf, regelmäßig meine Oma zu besuchen. Gerade zu dieser Zeit war ich aus dem »Oma-liebhaben-Alter« herausgewachsen.

Dass mein Vater sich das Verhalten meiner Mutter bieten ließ und es jahrelang mitmachte, lag eventuell daran, dass er hoffte, meine Mutter würde wieder zu ihm zurückkommen, dass er hoffte, die Lage würde sich wieder normalisieren. Seine Religion verbot die Scheidung. Erst als dieser Zustand mehrere Jahre andauerte, wurde er Alkoholiker.

Was mein Vater meiner Mutter getan hat, so dass sie ihn mied, wo sie konnte, weiß ich nicht. Als ich schon erwachsen war, sagte sie mal, er hätte zu ihr gesagt: »Wenn du schon sonst nichts kannst, dann tue wenigstens im Bett deine Pflicht.« Wenn er das gesagt hat, war das nicht nett. Aber im Ärger sagt man manches. Ich bin selber ein Mann. Ich weiß wie es ist, wenn man sexuelle Bedürfnisse hat und sich diese nicht befriedigen kann. Eine Ehe reduziert sich nicht auf Sex. Aber Sex ist ein Teil der Ehe. Wenn man verheiratet ist, dann erwartet man(n) selbstverständlich, dass man sich in einer solchen Verbindung auch seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen kann. Und wenn eine Ehefrau über längere Zeit hinweg ihre Ehemann abweist, dann muss sie sich nicht wundern, dass der irgendwann mal ärgerlich wird. Wenn eine Frau mit ihrem Mann keinen Sex mehr will, dann soll sie so fair sein, ihn freizugeben, so dass er sich eine andere Frau suchen kann. Aber einige Frauen meinen, Männer hätten sich in einer solchen Situation zu kasteien und zu warten bis oder ob die Frau so gnädig ist, sich ihm wieder hinzugeben. Das hat mit Emanzipation der Frau überhaupt nichts zu tun. Das ist eine Umkehrung ungerechter Verhältnisse. [20]

Aber wenn meine Mutter nicht mehr mit ihrem Mann auskam, war das ein Grund, ihre Familie zu verlassen? Es gibt Männer, die schlagen ihre Frau und ihre Kinder, sind betrunken, bringen kein Geld nach Hause etc. Gemessen an solchen Ehemännern war mein Vater ein Musterehemann. Alkoholiker wurde er erst, als er mit dem Problem nicht fertig wurde. Und dann war er auch noch ein friedlicher Alkoholiker. Es war in den 60er Jahren noch weit verbreitet, dass die Eltern ihre Kinder schlugen. Aber meine Mutter hat mich erheblich häufiger verprügelt als mein Vater. Meine Mutter hat mir mit dem Kochlöffel den Hintern versohlt. Von meinem Vater bekam ich gelegentlich Ohrfeigen. (In der ersten Phase meiner Kindheit. In der 2. Phase haben mich meine Eltern, soweit ich erinnern kann, nie geschlagen.) Bei uns hat nicht der Vater die Mutter geschlagen, bei uns hat die Mutter den Vater geschlagen. Wenn das auch selten vorkam. Mein Vater war schwach und meine Mutter war dumm. So kann man es kurz und knapp zusammenfassen.

Zu Beginn habe ich das Wegsein meiner Mutter scheinbar gar nicht als negativ empfunden. Soweit ich mich erinnere, habe ich es in meiner Kindheit überhaupt niemals (bewusst) problematisiert. Ich mochte das Essen meiner Mutter nicht und mir passten die ständigen religiösen Aktivitäten nicht. Nachdem meine Mutter faktisch ihre Familie verlassen hatte, gab es keine Abendandachten mehr. Ich ging mit meinen Vater noch einige Zeit in die Kirche aber das hörte dann irgendwann ganz auf. (Übrigens hat sich in diesen Jahren – soweit ich erinnere – nie einer unserer christlichen Verwandten, auch nicht mein Patenonkel, bei uns blicken lassen.)

Was meine Mutter damals gemacht hatte, war eine Art »Familienverrat«, analog zum »Landesverrat«. Sie hatte ihre Familie verlassen und sich um die Kinder einer anderen Familie mehr gekümmert, als um ihre eigenen. Es war aus Sicht ihrer Religion moralisch verwerflich, und es war darüber hinaus im Rahmen des geltenden Rechts schlicht strafbar, Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Wenn meine Mutter von jemand angezeigt worden wäre, hätte sie vielleicht sogar im Wiederholungsfall ins Gefängnis kommen können. (Später wurde sie schuldig geschieden wegen bösartigen Verlassens.)

Es gibt den Straftatbestand des Kindesentzugs. Gäbe es auch einen Straftatbestand des »Mutterentzugs«, dann wäre dies die Straftat, die die Warlichs begangen hätten.

Da meine Mutter morgens nicht aufstand, gab es kein Frühstück. Ich wusste, wo sei ihr Portemonnaie aufbewahrte und häufig nahm ich mir morgens ein/zwei Mark heraus. (Sie hat dann häufig gerätselt, wo das Geld geblieben ist. Dass eines ihrer Kinder klaut, auf die Idee ist sie nicht gekommen.) Aber wenn ich mir dann im Laden Süßigkeiten, Cola, Knackwurst u. ä. kaufte, dann habe ich immer mit dem Schulkamerad geteilt, mit dem ich gerade zusammen war. Teilen war für mich selbstverständlich. Dass der eine etwas hat und der andere hat nichts, war für mich, so lange ich zurückdenken kann, immer etwas unnormales und inakzeptables. Auch als ich später Lehrling war, habe ich meinem Chef, ohne dabei irgendwelche moralische Bedenken zu haben, Geld geklaut und dieses dann mit der gleichen Selbstverständlichkeit zusammen mit meinen Kumpels ausgegeben.

Ich war ein naturwüchsiger Kommunist. Ich habe schon immer umverteilt. Ich nahm es den Besitzenden, das war meine Mutter oder mein Chef, und gab es den Besitzlosen, und das war ich und meine Kumpels. Soll ich mich heute dafür schämen? Meine Mutter hätte aufstehen können, wie andere Mütter und ihren Kindern was zum Frühstück machen können, Schulbrot mitgeben etc. Sie hätte nachmittags und abends zuhause sein können, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Und mein Chef hat erheblich mehr an mir verdient, als ich ihm geklaut habe. (Darauf gehe ich weiter hinten noch näher ein.) Zuerst einmal sollen die sich schämen.


Mein bester Freund war Peter S. (Ich hatte später nie so enge Freunde.) Seit wann ich mit ihm befreundet war, weiß ich heute nicht mehr. Aber in meiner späten Schulzeit und bis Anfang 1971, als ich aus Rahlstedt wegzog, hatte ich viel mit ihm zu tun. Hilfsschüler sagte man damals, obwohl es meines Wissens auch damals schon Sonderschule hieß. Weitere aber nicht ganz so enge Freunde waren Peters Bruder Andy und Bernd G. Ebenfalls beide Hilfsschüler. Dazu kamen weitere, nicht so enge Freunde, mehr Bekannte, die ich namentlich heute gar nicht mehr nennen kann. Auch wenn ich zur Volksschule ging, meine Freunde waren fast alle Hilfsschüler. Meinen Eltern war es völlig egal, wer meine Freunde waren, mit welchen Menschen ich Umgang hatte.

In meiner Kindheit war ich im Sommer ein Dauergast in der Badeanstalt, im Sommerbad Rahlstedt. (Ich fuhr aber auch häufig mit dem Rad zum Großensee, der ca. 15 Kilometer weit entfernt in Schleswig-Holstein liegt.) Selbst an kühlen Tagen, wenn nur wenige andere da waren. Jeden Abend sammelte ich Papier ein. Dafür bekam man eine Freikarte für den nächsten Tag. Der Eintritt kostete damals für Kinder 30 Pfennig. Ich bekam in der Regel von meiner Mutter 40 Pfennig. 10 Pfennig für Süßigkeiten. Mit einer Freikarte, von der ich meiner Mutter nichts erzählte, hatte ich 40 Pfennig für Süßigkeiten. (Es sei denn, ich hatte zusätzlich noch ein bisschen geklaut. Ich habe nie Scheine geklaut. Nur Münzen. Und davon auch immer nur einen Teil. – »Teilnehmen ist das Entscheidende«, sagte der Taschendieb und nahm sich seinen Teil.)

Einmal haben wir in der Nähe der Badeanstalt ein Rad gestohlen, aus Jux, um nicht zu Fuß nach Hause gehen zu müssen. Peter S. und sein Bruder hatten Teile davon behalten und in ihre Fahrräder eingebaut, was dann zur Entdeckung durch den Bestohlenen führte. Wir kamen vor das Jugendgericht und erzählten dort, dass wir dieses Rad an einem kleinen Wald gefunden und es als weggeworfen angesehen hätten. Das stimmte nicht, aber wir wurden freigesprochen. Mit etwas Pech hätte ich damals eine Jugendstrafe bekommen können. Dass mein Vater daraufhin irgendwelche erzieherischen Maßnahmen ergriffen hätte, ist mir nicht bekannt. Er war zu der Zeit wohl schon Alkoholiker. Ich erinnere das aber nicht mehr so genau.

Als ich 1970 in die SDAJ eintrat, behielt ich noch ca. ein Jahr lang Kontakt zu meinem alten Freundeskreis, der erst Im Laufe des Jahre 1971 abriss, nachdem ich aus Rahlstedt weggezogen war. Einige Zeit später war ich noch einmal auf einer Party im Haus der Familie S. (die hatten ein Reihenhaus wie wir), aber da waren wir schon weit auseinander. Das genaue Jahr erinnere ich nicht mehr 1972/73 glaube ich. (Zu der Zeit stand Peter S. unter Hausarrest wegen diverser Straftaten.) Später als ich nicht mehr zu dieser Clique gehörte, sind viele von diesen Leuten Kleinkriminelle geworden.

Ich habe meinen Freundes- und Bekanntenkreis aus der zweiten Hälfte der 60er Jahre zum Anfang der 70er Jahre völlig aus den Augen verloren. Später dachte ich oft, was wohl aus denen geworden ist. Über andere einstige Bekannte aus späteren Zeiten habe ich später durch Internet-Recherchen einiges in Erfahrung bringen können. Über die Freunde meiner Kindheit nicht. »Kleine Verbrecher gehen im Gefängnis ein. Große Verbrecher gehen in die Geschichte ein.« (Mein eigener Aphorismus!)


Irgendwann fuhren wir nicht mehr jeden Sonntag in die Katholisch-Apostolische Kirche nach Barmbek. Ich glaube, es lag daran, dass meine Mutter nicht mehr mit uns gemeinsam in die Kirche ging, was für meinen Vater blamabel war. Außerdem wurde bei Ehestreitigkeit von Seiten der Katholisch-Apostolischen Kirche starker Druck auf die Mitglieder ausgeübt. Die Ehe war eine heilige Institution. Nicht etwa eine weltliche Verbindung von Mann und Frau. Gar noch auf Widerruf. Scheidung war verboten, Trennung zumindest verpönt. [21]

Wir gingen fortan in die evangelische Martins-Kirche, die ca. 500 Meter von unserem Haus entfernt war. Formell waren wir sowieso in der evangelischen Kirche Mitglied. Ich bin evangelisch getauft und konfirmiert. Der Katholisch-Apostolischen Kirche waren bereits die Geistlichen ausgegangen. Deshalb konnten die so was nicht mehr machen. Unsere Kirche hatte sich nicht so stark von den Landeskirchen abgeschottet, wie andere Sekten. Ich erinnere mich an ein Gespräch, wo der Pfarrer versuchte meinem Vater klar zu machen, dass die Katholisch-Apostolische Kirche eine Sekte sei. Da war mein Vater anderer Meinung.

Das hinderte aber nicht, dass er – bevor er Alkoholiker wurde – des Öfteren den Kirchendiener vertrat, wenn dieser Urlaub hatte. Kerzen anzünden, den Wein für das Abendmahl bereitstellen etc. Er hatte auch für alle möglichen Räume Schlüssel und einmal stiegen wir auf den Kirchturm, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war.

Zu dieser Zeit habe ich auch in einer Kindergruppe des CVJM mitgemacht. Das war aber nur sehr kurzzeitig und sporadisch. Ich hätte dort einen besseren Umgang gehabt als in Großlohe. Zu dieser Zeit kaufte ich mir auch eine »Mundorgel«. (Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Buchhandlung betrat. In späteren Zeiten sollten Buchhandlungen mal eine wichtigere Rolle in meinem Leben spielen.) Die Mundorgel war (ist) ein kleines Büchlein mit Liedern. Seit der Zeit kannte ich Wir lagen vor Madagaskar, Wir lieben die Stürmen, Die Affen rasen durch den Wald oder Sabinchen war ein Frauenzimmer.

Im Gegensatz zu meiner Mutter war mein Vater abends und am Wochenende anwesend. Aber ich kann nicht sagen, dass er mich erzogen hätte, dass von ihm irgendeine Betreuung ausging, oder gar, dass ich irgendetwas von ihm gelernt hätte. Er hätte mich als Christ dazu anhalten können, regelmäßig zum CVJM zu gehen, statt in Großlohe mit den Hilfsschülern herumzugammeln. Wenn ich Zahnschmerzen hatte, gab er mir eine Zahnschmerztablette, anstatt mich dazu zu drängen, zum Zahnarzt zu gehen.

Ich kann mich nicht erinnern, dass sich meine Vater weder in der ersten noch in der zweiten Phase meiner Kindheit jemals nach meinen schulischen Aktivitäten erkundigt hätte, sich meine Schulhefte ansah oder ähnliches. Ihm waren meine schulischen Aktivitäten egal. Und dass meine Mutter ihren Kindern in schulischen Dingen nicht helfen konnte, das wusste er. Aber er berichtete, bzw. renommierte oft damit, dass er und seine Brüder nach dem zweiten Weltkrieg ihren jüngsten Bruder Wolfgang unterrichteten und förderten. (Das ist der Einzige aus der Verwandtschaft väterlicherseits, der es später weiter als zum Arbeiter oder kleinen Angestellten gebracht hat. Ich hatte nie Kontakt zu dem und weiß nur das, was mein Vater über ihn erzählte. Danach ist er im Krupp-Konzern aufgestiegen und war in den 80er Jahren Chef der Thyssen-Niederlassung in Hamburg.)


Das erste Mädchen, für das ich bewusst geschwärmt habe, hieß Eva. (Abgesehen jetzt mal von meiner frühen Kindheit, wo ich auch schon Freundinnen hatte.) Ich kannte sie über die Martins-Kirche. Irgendwann fuhren wir mit der Kirchengemeinde Sonntagnachmittags irgendwo hin, an genaues kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber auf dem Rückweg, da unterhielt ich mich im Bus mit einem kleinen blonden Mädchen, dass Eva hieß und die ich sehr nett fand.

Wochen später traf ich sie zufällig in der Badeanstalt wieder und wollte mit ihr reden und bei ihr sein. Ich war vielleicht 13 oder 14. Ich hatte zu dieser Zeit noch überhaupt kein Penetrations-Bedürfnis. Ich habe sie in keinerlei Weise als Lustobjekt angesehen. Ich wollte einfach nur gerne bei ihr sein. Aber sie fragte mich: »Wo ist denn Bernie?«

Bernie gehörte zu den Jungs, die das Glück hatten, von der Natur ein äußeres Erscheinungsbild mitbekommen zu haben, das bei Mädchen gut ankam. Dass er nicht besonders klug war, das spielte keine Rolle. (Und ich verhalte mich ja nicht anders. Wenn ich mit einer Frau ins Bett gehen will, dann interessiert mich auch nicht vorrangig die Höhe ihre Intelligenz-Quotienten.) Ich war jedenfalls sehr enttäuscht und sagte ihr: »Das sag ich dir nicht.« »Den find ich auch alleine«, sagte sie und weg war sie. Das war der erste Mädchenfrust in meinem Leben. »Wo ist denn Bernie?« Diesen Satz sollte ich im weiteren Verlauf meines Lebens noch sehr häufig hören. Wenn er auch immer aus anderen Wörtern bestand.

Mitte der 60er Jahre hatte ich einen Kellerraum als Clubraum ausgebaut, ohne meine Eltern zu fragen. Das haben die auch hingenommen. Zu der Zeit war die Familie aber auch schon in Unordnung geraten. Ich erinnere, dass meine Schwestern, die sich ein kleines Zimmer teilen mussten, fragte: »Wieso hat Peter, wo er schon ein eigenes Zimmer hat, auch noch einen Clubraum im Keller?« Ich hatte halt die Initiative ergriffen. Deshalb hatte ich einen. Da hielt ich mich oft mit meinen Freunden auf.

Noch in einem anderen Punkt fühlten sich meine Schwestern benachteiligt. Am 1. Weihnachtstag gab es Puter. Von den zwei Keulen bekam immer eine mein Vater und eine ich. Meine großen Schwestern fragte: »Wieso kriegt Peter eigentlich immer die Keule?« Die Antwort: »Aber er ist doch ein Junge.« Die Mädchen mussten sich mit den Flügeln zufrieden geben. Und meiner Mutter reichte an Stück von der Brust. (Heutzutage ist es mir ziemlich egal, was ich kriege, Brust oder Keule. Hat beides irgendwo seinen Reiz. ;-)

Damals war alle vier Wochen Sperrmüll. Die Leute konnten alles, was nicht in die Mülltonnen passte, am Abend an den Straßenrand legen, nächsten Vormittag wurde es dann abgeholt. An solchen Abenden lief ich durch den Mehlandsredder von Sperrmüllberg zu Sperrmüllberg und suchte, ob etwas zu brauchen war. So bekam ich meine Möbel für meinen Clubraum und mein erstes Fahrrad. (Das war aber schon so um 1962.) Meine Eltern hatte erstens kein Geld, um mir ein Fahrrad zu kaufen, noch hatten sie irgendeine Sensibilität für entsprechende Wünsche.

Einmal fand ich im Sperrmüll einen Karton mit Fotos von nackten und halbnackten Frauen, die ich in meinen Clubraum an die Wand hing. Das wurde mir nicht verboten. Zu dieser Zeit wurde mir allerdings überhaupt nichts mehr verboten. Als ich 13/14 Jahre alt war, hätte ich wohl eine Woche nicht zu Hause sein können, ohne dass es jemand gemerkt, geschweige denn, irgendjemand etwas unternommen hätte.


Als ich 1966 in die 8. Klasse kam, bekamen wir eine neue Klassenlehrerin, Frau Kostorz. Herr Tiede ging drei Jahre nach Chile als Entwicklungshelfer. (Im März 1981 ist er in Chile beim Bergsteigen in eine Gletscherspalte gestürzt und darin umgekommen.) Ich war 14–15. Zu der Zeit war mein Vater nach meiner Erinnerung noch kein Alkoholiker. Meine Mutter hatte ihre Familie und Kinder faktisch verlassen. Ich tat in der Schule nichts. Ich saß vorher wegen meiner Augen weit vorne an der Tafel. In der 8. Klasse saß ich ganz hinten. Trug keine Brille, aus Angst, dann noch minderwertiger zu sein. (Ich hatte eine Kassenbrille, die ich als Katastrophe ansah, obwohl sie es, wie ich heute weiß, nicht war.) Erkannte so nichts mehr an der Tafel. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Klassenlehrerin etwas dagegen getan hätte. Zu der Zeit hatte sie aber schon ihren Hirntumor, an dem sie später starb. Sie hatte also andere Probleme.

Damals war Sonnabends noch drei Stunden Schule. Zu der Zeit, als Frau Kostorz noch nicht meine Klassenlehrerin war, sondern die Englischgruppe III unterrichtete, kam sie einen Samstag völlig zerrissen und zerzaust zum Unterricht, was bei einer Lehrerin in den 60er Jahren ein Unding war. Vielleicht hatte sie bereits gewusst, dass sie einen Hirntumor hatte.

Dass ich Englischunterricht hatte, bedeutet aber nicht, dass ich etwa in meiner Kindheit Englisch gelernt hätte. Als in der 5. Klasse der Englischunterricht anfing, hatten die Schüler, die schlecht in Deutsch waren, statt Englisch zusätzlich Deutsch. »Fördern« nannte sich das. Später, in der 6. oder 7. Klasse, wurde dann für diese Schüler »Englisch III« eingeführt. »Please open the door.« »Please shut the window.« u. ä. Als ich die Schule verließ, kannte ich keine fünfzig englischen Wörter. Ich erinnere, dass ich später, als ich schon in der SDAJ war, die Genossin Birgit Sz. fragte, was »All you need is love« heißt. So hieß ein Song der Beatles. Ich wusste es wirklich nicht. Es war keine bewusste Anmache. (Aber vielleicht eine unbewusste. Vielleicht konnte mein Un{ter}bewusstsein Englisch. Nach Platon ist das so, da ist alles Erkennen Wiedererinnern. In der Sphäre der Ideen hat meine Seele einst die englische Sprache geschaut, wie auch die chinesische. Aber an Chinesisch kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern ;-)

Aber ich erinnere, dass in Geschichte oder Sozialkunde der Name Marx fiel. Ich erinnere, dass die Geschichtslehrerin zu mir sagte, nachdem sie meine Schulhefte gesehen hatte, »das ist ja Hilfsschulen Niveau.«

Ich kann mich an diese Zeit nur sehr wenig erinnern. Was mir damals wichtig war, was ich gemacht hab. (Nur das ich Beatmusik – meine Vater sagte »Krachmusik« – gehört habe und aus den Bravos die Bilder der Beatgruppen herausnahm und an die Wände hing. Gelesen hatte ich in den Bravos allerdings nichts.) Am Ende des 8. Schuljahres war jedenfalls ein ganz schlechtes Zeugnis. Nur Dreien, Vieren und Fünfen. [22] Ich sollte zum ersten Mal in meinem Leben sitzenbleiben. Das hätte bedeutet, in eine andere Klasse zu müssen. Das wollte ich nicht. Ich sagte zu meiner Klassenlehrerin, wenn ich in eine andere Klasse soll, dann komm ich nicht mehr her. Ich hatte zu dieser Zeit schon zwangsläufig eine gewisse Selbständigkeit. Und Autoritäten kannte ich keine. Ich hätte mich da nicht hinzwingen lassen. Wie wichtig Bildung für das weitere Leben ist und das Bildung sogar Selbstzweck sein kann, das war mir damals noch nicht bewusst.

Ich war zu Beginn meiner Schulzeit ein Jahr zurückgesetzt worden, d. h. ein Jahr später als üblich eingeschult worden, mit sieben. Am Ende meiner achtjährigen Schulzeit hatte ich die Pflichtschulzeit absolviert. Ob das ein Fehler der damaligen Schulleitung war, kann ich heute nicht mehr sagen. Pflicht war eigentlich neun Jahre.

So wurde ich zwei Monate nach meinem 15. Geburtstag aus der Schule entlassen ohne das Ziel der 8. Klasse erreicht zu haben. Meine Schulbildung bestand faktisch aus sieben Jahren Volksschule. Meine Eltern haben nichts dagegen unternommen. Sie haben mich nicht dazu gedrängt, weiter zur Schule zu gehen. Meine schulischen Aktivitäten waren ihnen egal. (Dafür müssten sie heute noch Prügel kriegen! Auch wenn es inzwischen gut vier Jahrzehnte her ist.)

Nachdem ich so überraschend aus der Schule gekommen war, wurde ich erst einmal »notkonfirmiert«. Nach einem statt nach zwei Jahren Konfirmanden-Unterricht. Das war, soweit ich mich erinnere, das letzte Mal in meinem Leben, dass ich einen Anzug und eine Krawatte trug. (!!!)

Dann nahm mein Vater mich an einem Tag mit in die Firma, in der er seit gut zwanzig Jahren als Lagerarbeiter und Lagerverwalter arbeite, Kolbenschmidt in Altona. Weil mein Vater dort gut angesehen war [23], wollte man mir die Chance geben, dort eine Maschinenschlosserlehre zu machen. Vorher musste ich aber eine schriftliche Aufnahmeprüfung machen, bei der ich durchfiel. In dieser Prüfung wurden viele rechnerische Aufgaben gestellt, von denen ich nichts verstand. Es war der Wissensstoff, der in der Volksschule in der 8. und 9. Klasse unterrichtet wurde. Ich war eigentlich mal ein Ass in Rechnen, aber nun scheiterte ich an ungenügenden Rechenkenntnissen.

Es gab damals keinen Lehrstellenmangel. Ende 60er Jahre bekam ein Lehrling im 1. Lehrjahr in vielen Berufen 100 DM monatlich. Das machte es für viele »Krauter«, sprich Kleinunternehmer, lukrativ, viele Lehrlinge einzustellen. Billigere Arbeitskräfte gab es faktisch nicht. Und wenn sie nichts taugten, konnte man sie ja jederzeit wieder rauswerfen. Für so etwas ließ sich immer ein Grund finden. Ich bekam eine Stelle als Autoschlosserlehrling. Bei Walter H., Goggomobile, in der Wandsbeker Zollstraße. Der stellte drei Lehrlinge ein, von denen er zwei im Verlaufe des ersten Lehrjahres wieder rauswarf.

Meine erste Aufgabe morgens war den Pausenraum sauberzumachen, auch das Klo zu putzen. Mein Juniorchef fragte mich mal: »Wenn du später mal verheiratet bist, soll dann immer nur deine Frau das Klo putzen?« Nee, das wollte ich nicht unbedingt. Ergo muss der Autoschlosserlehrling lernen, wie man Klos putzt. Das lernte man dann ein Jahr lang jeden Morgen. Dann konnte man das. Dann durfte man die Klobürste an den nächsten Jahrgang weitergeben.

(Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe überhaupt kein Probleme damit, Reinigungsarbeiten zu machen. Als Single reinige ich meine Wohnung selbst. [24] Ende der 90er Jahre war ich noch zweieinhalb Jahre nebenberuflicher Hausmeister. In dem Haus, in dem ich wohne. Ich habe philosophische Literatur gelesen, philosophische Texte geschrieben und als körperlichen Ausgleich den Hof gefegt und kleine Reparaturen vorgenommen. Aber für einen Stundenlohn von knapp 20 DM netto. Ich habe statt Miete zu zahlen eine gewisse Menge an Stunden monatlich gearbeitet. Als Lehrling hatte ich einen Stundenlohn von weniger als einer Mark. In unserer arbeitsteiligen Welt gibt es Menschen, die beruflich saubermachen. Und ich kucke auf solche Menschen nicht herab. Hätten wir diese Menschen nicht, würden wir alle krank, weil alles verdrecken würde. Aber wenn jemand Reinigungsarbeiten macht, dann soll man den korrekt dafür bezahlen. Mein Chef hatte die Reinigungskräfte eingespart und die Lehrlinge zu Hungerlöhnen reinigen lassen. Lediglich für das Büro hatte er eine Reinmachefrau.)

Dann ging ich für die gesamte Belegschaft – etwa zehn Leute – einkaufen. Das musste man auch lernen. (»Wenn du später mal verheiratet bist, soll dann immer nur deine Frau ...«) Ich kaufte gerne ein. Man kam so aus den Betrieb raus. Und man durfte kleine Restbeträge behalten und konnte damit sein eigenes Frühstück finanzieren. (Und dann – wie Kittner in einem Sketch feststellte – »die Schulung des kritischen Geistes bei der selbständigen Entscheidung zwischen Pils, Export und Bock.«) [25] Dann habe ich Werkzeuge gereinigt, das musste man auch lernen. Man erfuhr dabei ja auch, was für Werkzeuge es gibt. Dann durfte man den Gesellen das Werkzeug zureichen, die unter einem Auto lagen. Und wenn es nichts von alledem zu tun gab, dann durfte man stundenlang an einem Stück Metall feilen.

Es gab außer mir noch zwei weitere Lehrlinge im 1. Lehrjahr, trotzdem blieb Kloputzen und Einkaufen fast immer an mir hängen. Die beiden anderen hatte der Chef noch vor mir wieder rausgeschmissen. Ursprünglich wollte er mich wohl behalten, weil ich der fleißigste war. Ende des Jahres hat er mich dann aber auch rausgeworfen.

In der Berufsschule kam ich nicht mit. Ich saß neben Abiturienten. Ich konnte nicht einmal einen Hammer aus drei Perspektiven auf Millimeterpapier zeichnen. (Oder jedenfalls habe ich es nicht so gemacht, wie der Chef es haben wollte.) Ich hatte Schablonen für die Schrift und dafür spezielle Stifte, aber der Gedanke, wie viel Aufwand es bedeuten würde, alles so zu beschriften, war mir nicht angenehm. In solchen Dingen war ich faul.

An einem der ersten Arbeitstage schickte man mich mit einem alten Kohlensack zu einer Nachbarfirma, auch eine kleine »Klitsche«, um einen »Sack voll Kompression« holen. Dort bekam ich einige sehr schwere alte Bremstrommeln in meinen Sack geladen, den ich dann in meine Firma schleppte. »Das ist falsch. Das ist die runde Kompression. Wir brauchen die gebogene Kompression.« Ich wieder zurück. »Die wollen die gebogen Kompression.« Dann wollten Sie mir einen Amboss andrehen. »Aber das ist doch viel zu schwer. Wie soll ich das denn tragen? Das ist ja gar keine Kompression. Das ist ein Amboss!« »Was ist denn Kompression?« »Keine Ahnung.« [26]

Am 1. Januar 1968 begann ich auf der Tankstelle Franz P. in der Ahrensburger Straße zu arbeiten. (Die gleiche Straße, wie die Wandsbeker Zollstraße, aber etwas weiter Richtung Rahlstedt.) Die ersten drei Monate als Hilfsarbeiter für 100 DM im Monat, ab dem 1. April dann als Tankwartlehrling, auch für 100 DM im Monat. Dort blieb ich bis September 1970.

Auf der Tankstelle hatte ich mich wohlgefühlt. Vom subjektiven Empfinden her war es eine sehr schöne Zeit. Ich habe in späteren Jahren sogar häufig davon geträumt, dass ich wieder dort arbeite. Das ist für mich ein gutes Zeichen. Alpträume habe ich so gut wie nie.

Aber ich war auch dort billiger Hilfsarbeiter. Ich habe Autos betankt, Autos gewaschen, Ölwechsel gemacht, neue Reifen aufgezogen, aber auch gefegt, Zäune gestrichen etc. Aber der Chef hat zumindest vorher immer gefragt, wenn es sich um berufsfremde Tätigkeiten handelte, ob ich es machen will. »Ich kann es nicht von dir verlangen.« Aber meistens habe ich eingewilligt. Es hatte auch den Aspekt der Abwechslung.

Mein Chef hatte sich um meine Ausbildung nicht gekümmert. Ich schrieb keine Berichtshefte, wie ich eigentlich monatlich sollte. Wie ich die Prüfung hätte schaffen sollen, hätte ich drei Jahre durchgehalten weiß ich nicht. Erst als ich bockig wurde und Sonntags nicht mehr arbeiten wollte (nachdem ich auf starken Druck hin mir die Haare hatte kurz schneiden lassen), da kam der Chef plötzlich an und monierte meine fehlenden Berichte.

Ich habe Geld geklaut und war so naiv zu glauben, dass es keiner merkt. Der Chef und andere Mitarbeiter haben es aber gemerkt, oder aber zumindest mich stark in Verdacht gehabt. Ich durfte nicht mehr kassieren und der Tresor, aus dem ich mir des Öfteren eine Rolle mit fünfzig Einmarkstücken herausgenommen hatte, blieb verschlossen. Nun hätte mein Chef mich rausschmeißen oder anzeigen können. Hat er aber nicht gemacht. Warum nicht? Weil er erheblich mehr an mir verdient hat, als ich ihm klaute. Denn ich war immer sehr fleißig. Das kann ich ohne falsche Bescheidenheit sagen. (Er hat mich mehr bestohlen als ich ihn. Aber seine Art Diebstahl war legal. Meine illegal.)

Während meiner offiziellen Lehrlingsarbeitszeit hatte ich einen Stundenlohn von ca. einer Mark. Wenn ich Sonntags oder nach der Berufsschule kam, bekam ich fünf Mark Stundenlohn. Und der Chef hat selbst dann noch reichlich an mir verdient.

Ich habe fast jeden Sonntag gearbeitet und an solchen Tagen mit Trinkgeld zusammen ca. 100 Mark verdient, die häufig am gleichen Abend wieder weg waren. Ich habe für meine Kumpels immer mit bezahlt. Besonders für Peter S. und manchmal auch für seinen Bruder und weitere Bekannte. Die hatten fast nie Geld. (Waren aber auch bei weitem nicht so fleißig wie ich.) Wie ich schon weiter vorne bemerkte, war ich ein urwüchsiger Kommunist. Ob das nun an meiner Sozialisation lag – die Nächstenliebe war mir eingebläut worden [27] – oder an meinen Genen weiß ich nicht. Wahrscheinlich war es beides.


Zwischen 15 und 18, ich weiß heute nicht mehr genau die Zeit, habe ich massenhaft Western- und Kriminalromane gelesen. Jerry Cotton und so was. Das war mein damaliges Niveau.

Zu dieser Zeit und in der späten Schulzeit hockte ich abends stundenlang vor dem Fernseher und sah mir irgendwelche Serien an, die ich im Einzelnen nicht mehr erinnere. Was hätte ich in der Zeit alles lernen können!

Ende 1969 hatte ich meine erste Freundin, die Beate hieß und meinen Vorstellungen entsprach. Klein und blond. Die hat mich im Januar auch noch im Krankenhaus besucht. Sie gab mir einen Zettel, auf dem verschiedene Arten zu küssen, beschrieben waren. Zu der Zeit wusste ich nicht, wie man so etwas macht.

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4. Kapitel
Religion

In meiner Kindheit empfand ich Religion immer als etwas, das mit Zwang und Langeweile verbunden war. Ein »religiöses Gefühl«, von dem viele religiöse Menschen berichten, hatte ich nie. Aber religionskritisch war ich den größten Teil meiner Kindheit nicht. Vom Inhalt her glaubte ich, was man mir anerzog. Ich erinnere, dass ich mir Anfang der 60er Jahre mal die Taschenlampe meines Vaters aus seiner Nachttischschublade nahm, um unter der Bettdecke lesen zu können. Da fiel mir plötzlich ein, dass vielleicht gerade jetzt Jesus kommt, um die Erstlinge zu holen. Mich würde er dann wegen der Taschenlampenentwendung nicht mitnehmen. Weshalb ich die Taschenlampe schnell zurückbrachte. (Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass die Geschichte der Menschheit mit Blut geschrieben ist, dass es Verbrechen gibt, gemessen an denen eine unerlaubte Taschenlampenbenutzung nicht besonders ins Gewicht fällt.)

Ich erinnere zwei Dinge, bei denen mir in meiner Kindheit zum ersten Mal religionskritische Gedanken kamen.

Meine Mutter erzählte, dass 1943 ihre ganze Straße brannte und die Menschen in diesem Flammenmeer herumirrten. (Meine Mutter wohnte in dem gleichen Stadtteil wie Wolf Biermann.) Sie erzählte, wie eine Gruppe von Frauen und Kindern von einer Feuerhose erfasst wurden und vor ihren Augen verbrannten. Und da stellte sich mir die Frage, was haben denn die Schutzengel – von denen man mir erzählte, dass jedes Kind einen habe – gemacht? Wie konnte denn der Liebe Gott so etwas zulassen? Die Antwort meiner Mutter auf solche Fragen: »Die Wege des Herren sind unergründlich.« Damit wollte ich mich auf Dauer nicht zufrieden geben. [28]

Bei Bewusstsein verbrennen ist sicherlich ein schrecklicher Tod. Aber es ist ein vorübergehendes Leid. Nun wurde in unserer Familie auch über den Massenmord an den Juden gesprochen. Und dass die jüdischen Kinder, die von den Nazis ermordet wurden, aus der Gaskammer direkt in die Hölle kommen, da sie nicht getauft waren, das erschien mir mit der Güte Gottes noch unvereinbarer.

Meine Großeltern waren keine Nazis. (Aber auch keine Widerstandskämpfer.) Ihren Kindern verboten sie, in die HJ (Hitlerjugend) oder BDM (Bund Deutscher Mädchen) zu gehen, weil das keine christlichen Organisationen waren. Das konnten sie verbieten. Dafür kamen sie nicht ins KZ. Es gab deutsche Familien, da hatte Hitler nur einen Fehler: Er hatte den Krieg verloren. In meiner Familie hatte Hitler immerhin schon zwei Fehler: Er hatte den Krieg angefangen (also nicht nur verloren) und er hatte so viele Juden ermorden lassen. Dies wurde in unserer Familie nicht bestritten. Hätte Hitler nur die Demokratie abgeschafft und die roten Parteien verboten, dann wäre er für meine Großeltern ein ganz respektabler Mann gewesen. Gibt es im Himmel etwa Demokratie? Wählen die »Ewig-Glückseligen« etwa, wen sie als Lieben Gott haben wollen? Demokratie ist nichts christliches.

In meiner Familie galt: Jeder Christ, egal welcher Konfession, kommt in den Himmel. (Mit Ausnahme der Neuapostolischen natürlich!) Wer nicht getauft ist, kommt in die Hölle. Und zwar für immer. Eine spätere Begnadigung gibt es nicht. Aber wenn es um die ermordeten Juden ging, dann wurde in unsere Familie gemauert. »Das muss der Herr entscheiden. Da steht uns kein Urteil zu.« Nun könnte man sagen, uns steht generell kein Urteil zu, ob jemand in die Hölle kommt. Aber so dachten meine Verwandten nicht. Ein Jude, der eines natürlichen Todes stirbt, der kommt selbstverständlich in die Hölle. Dort steht uns ein Urteil zu. Ein Jude, der von den Nazis umgebracht wurde? Na ja, vielleicht drückt der Herr da ein Auge zu. ();-) Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet dies, dass die Juden, die von den Nazis umgebracht wurden, den Nazis dafür dankbar sein müssten, weil sie nur dadurch die Chance bekamen, ungetauft in den Himmel zu kommen.

Ich habe in späteren Zeiten meines Lebens häufig mit religiösen Menschen diskutiert, auch mit Anhängern anderer christlicher Glaubensrichtungen und anderer Religionen. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen habe ich bei allen diesen Menschen, welchen konkreten Glauben sie auch immer hatten, einen Grundzug festgestellt: Es waren »Logikabstinenzler«. Sie haben ihre Auffassungen nicht konsequent zu Ende gedacht. Sonst hätten sie die Haltlosigkeit dieser Auffassungen erkannt und sie verworfen. Statt dessen hieß es: »Wenn man erst einmal anfängt über die Bibel nachzudenken, ist sowieso alles zu spät.« Und deshalb dachte man nicht über sie nach. (Heute nenne ich solche Leute »Großhirnverschwender«.)

(Nun könnte man zur Erklärung sagen, meine Verwandten waren in der »intellektuellen Pyramide« ganz unten. Aber auch Luther hat genauso argumentiert. Und in seinen antisemitischen Ausfällen war er ein Vorläufer von Goebbels.)

Viele Jahre später ging es in einer Gesprächsrunde in einer Jugendherberge mal um die Frage, ob Gandhi in die Hölle kommt, da er kein Christ war. In der Runde saß ein ganz fanatischer und der sagte, das sei doch ganz klar, dass Gandhi in die Hölle käme. Er war kein Christ. Punktum. Und als die anderen dann ihren Unmut äußerten über die Vorstellung, dass unten in der Hölle Gandhi und Hitler in der gleiche Pfanne schmoren, da ließ er sich dazu hinreißen zu sagen: »Vielleicht kriegt er eine zweite Chance!« Toll. Aber das ist nicht mehr christlich. Das ist Wiedergeburt. Und wenn einer eine zweite Chance bekommt, warum dann nicht noch andere? Es gab bestimmt noch weitere gute Menschen, die keine Christen waren.

(Ich schlug dann noch vor, dass, wenn Gandhi und Hitler tatsächlich beide in der Hölle sind, man sie zumindest nicht in die gleiche Pfanne legen sollte. Man könnte Gandhi in eine mit Teflonbeschichtung legen. Sozusagen als Hafterleichterung. Damit er zumindest leichter zu wenden wäre. Richtig böse wie Hitler könnte man dagegen immer ein bisschen anbrennen lassen. Aber im Ernst: Ich gönne es nicht einmal dem größten Verbrecher, dass er für alle Ewigkeit gefoltert wird. Meine Verwandten glaubte aber dies. In der Offenbarung steht geschrieben, sie »werden gequälet werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit.« (20:10 des Machwerks) Die, die im Buch des Lebens nicht gefunden werden und noch ein paar andere.)

Der zweite Punkt, wo Religionskritik bei mir aufkam, war, dass es verschiedene Religionen gab. Irgendwann in meiner späteren Kindheit sagte ich mal zu meiner Mutter: »Es gibt doch einige hundert Millionen Hindufrauen, die glauben an ihren Hinduglauben genauso fest wie du an deinen Christenglauben.« »Ja«, sagte sie »die werden sich noch mal ganz schön wundern!« Sag ich zu ihr: »Vielleicht wunderst du dich auch« Und Sie: »Neee! Ich wunder mich nicht. Das ist ganz ausgeschlossen.« Mir war es nicht einleuchtend, dass die einen in die richtige und die anderen in die falsche Religion reingeboren werden und dadurch von vornherein zur ewigen Glückseligkeit oder zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt sind.

(Nun könnte man auch hier zur Erklärung anführen, meine Verwandten waren in der »intellektuellen Pyramide« ganz unten. Aber Augustinus und Calvin habe nichts anderes behauptet.)

Irgendwann hatte ich mal einen Menschen aus der Neuapostolischen Kirche getroffen und meiner Mutter davon berichtet und sie : »Ui, ui, ui, pass bloß auf! Das sind die Allerschlimmsten! Ui, sei bloß vorsichtig.« Die Abtrünnigen von der eigenen Kirche, Organisation sind immer die Schlimmsten. Dabei hätten wir selbst beinahe zu dieser Kirche gehören können. Die Spaltung ging ja vier / fünf Generationen vor mir mitten durch die Familie.

Mit 15 bin ich konfirmiert worden. Das war meine letzte kirchliche Aktivität. Davor war ich schon lange Zeit nur noch selten zur Kirche gegangen. Ich hatte bereits eine sehr starke Aversion gegen Religion und Kirche entwickelt. Konfirmanden-Unterricht hatte ich allerdings. Aber das war nur noch eine Formalie. Nach meiner Konfirmation habe ich über 10 Jahre hinweg überhaupt keine Kirche betreten.

Mit 19 bin ich aus der Kirche ausgetreten und zwar nicht – wie viele andere – wegen der Steuer, sondern weil ich Atheist geworden war. (Ca. 15 Jahre später erkannte ich, dass ich damit nur einen Glauben mit einem anderen Glauben getauscht hatte. Näheres weiter hinten.)

Wenn im Radio eine Morgenandacht kam oder kirchliche Musik, machte ich einen Hechtsprung zum Radio um es auszuschalten. 1978, als ich das erste Mal in London war, habe ich die »St Paul's Cathedral« besichtigt, 1982 war ich in Köln und habe den Dom besichtigt. Später habe ich viele weitere Kirchen besichtigt, aus geschichtlichem, kulturellem und architektonischem Interesse. Aber immer außerhalb der Gottesdienste. Als ich jenseits vierzig war, hörte ich zum ersten Mal Orgelkonzerte von Händel. Inzwischen höre ich sogar Choräle. Die Kindheit liegt inzwischen so weit zurück, dass ich Kirchenmusik heute als einen wertvollen Teil der abendländischen Kultur schätzen kann. Es gibt aber Ausnahmen. Das Stück von Händel, in dem ständig »Halleluja« gesungen wird, kann ich bis heute nicht hören.

Ich höre gern Die Schöpfung von Josef Heiden, besonders die beiden Chorstücke Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und Singt dem Herren alle Stimmen, und den vierten Satz der 9. Symphonie. (Von Beethoven.) »Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen« Wenn ich in der richtigen Stimmung bin, hat eine solche Musik auf mich eine Wirkung, wie auf andere Drogen. (Auch einige Stücke von Wagner, z. B. die Tannenhäuser-Ouvertüre. Und natürlich die Opern Mozarts, besonders seine beiden letzten.) Aber wenn über dem Sternenzelt tatsächlich ein Lieber Vater wohnen würde, warum geht es dann hier auf der Erde so katastrophal zu? Ich betrachte diesen Satz heute nicht mehr als »Ist-Beschreibung«, sondern als Forderung. »Es muss da oben ein Lieber Vater wohnen«. Tut es aber nicht. Deshalb müssen wir uns selbst einen Gott bauen, bzw. wir müssen selbst Gott werden. Nicht »Gott ist tot« (Nietzsche), sondern »Gott ist noch tot.« (Ich ;-) Wie ich mir das konkret vorstelle, erläutere ich weiter hinten.

Nun gibt es natürlich die Menschen, die hämisch bemerken: »Nicht dran glauben, aber sich durch die Musik erbauen lassen, was? Wissenschaft und Philosophie allein bringen es wohl nicht, was?« Nein, Wissenschaft und Philosophie allein bringen es nicht. Alles, was das Leben lebenswert macht, hat etwas mit Gefühlen zu tun, sagte Popper. Der Verstand soll aber in keinem Lebensbereich völlig fehlen. Vertonen kann man Mythen und Märchen. Hänsel und Gretel und Die Schöpfungsgeschichte. Die Schriften Darwins sind nicht vertont worden. Wer möchte schon einen Choral hören über den 2. Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) oder eine Kantate über die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit? Aber dass man sich an vertonten Mythen und Märchen erbaut, muss ja nicht bedeuten, dass man an ihre Inhalte glaubt. Um das zu können, müsste man nämlich seinen Verstand abschalten, was für mich nicht akzeptabel ist.


Die Religion meiner Vorfahren und Verwandten war die primitivste Form von Religion, die es überhaupt gibt. Ein Buchstabenglauben an die Bibel ohne jedes Nachdenken über Widersprüchlichkeiten. Die dogmatischsten und orthodoxesten theologischen Debatten sind dem gegenüber ein qualitativ höheres Niveau. Die Geschichte des Christentums, die philosophischen Diskussionen innerhalb des Christentums etc. waren meiner Verwandtschaft überhaupt nicht bekannt. Die kannten nicht einmal das Wort »Philosophie«, geschweige denn, was sich dahinter verbirgt. Die kannten wahrscheinlich nicht einmal das Wort »Theologie«. Es gab/gibt auch der Welt zugewandte Christen. Meine Verwandten waren weltabgewandte Christen. [29]

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5. Kapitel
Augen

In meiner späten Kindheit und Jugendzeit war es eine meiner Lieblingstätigkeiten zu Sylvester rumzuballern. Darauf habe ich mich schon Monate vorher gefreut. Ich erinnere sogar mal geträumt zu haben, dass Sylvester war und ich vergessen hatte, Knallkram zu kaufen, was geradezu mit panischer Angst erlebt wurde. Heute kann ich solche Bedürfnisse nicht mehr nachempfinden. Einerseits wohl, weil ich älter geworden bin, andererseits wohl auch, weil ich heute auf einem qualitativ anderen intellektuellen Niveau existiere.

Aber nur Knallkörper anzuzünden und wegzuwerfen war auf Dauer etwas fade. Einmal baute ich mir aus Streichhölzern und Eisstielen, die ich das ganze Jahr über gesammelt hatte, ein Fort, dass ich am Silvesterabend in die Luft sprengte und abfackelte.

Sylvester 1969 tat ich einen China-Böller in eine Flasche. Diese explodierte ca. vier Meter von mir entfernt und ich bekam ein Glassplitter ins linke Auge. Geschmerzt hatte es gar nicht. Andere sahen in das Auge. »Ja, sieht etwas merkwürdig aus, so 'ne Dreiangel.« Zu dieser Zeit saß meine Mutter bei den Warlichs. Ob mein Vater zu diesem Zeitpunkt schon besoffen war, erinnere ich nicht. Aber im weiteren Verlauf des Abends wurde er es sicherlich. Ich fuhr mit Peter S. zusammen mit Bus und U-Bahn ins Krankenhaus Lohmühlenstraße in Wandsbek. Ich schätze mal, dass man dafür eine Stunde brauchte. In der Zeit hätte ich das Auge ganz verlieren können. Im Krankenhaus wurde ich sofort operiert und war anschließend dann vier Wochen dort stationär untergebracht. Die Linse und der Iris-Muskel (Pupille) waren zerstört. Der Glassplitter war an der Augenoberfläche steckengeblieben. So ging das Auge nicht ganz verloren.

Seit meiner Kindheit konnte ich auf dem rechten Auge extrem wenig sehen. Es ist nicht blind, dadurch habe ich am rechten Rand des Sehfeldes mehr Peripherie. Aber zum Lesen reicht es nicht. Bestenfalls erkenne ich mit dem rechten Auge, ob auf der anderen Straßenseite die Ampel rot oder grün ist. Der Verlust des linken Auges wäre also mit extremer Schwachsichtigkeit verbunden gewesen. Einen Blindenhund hätte ich nicht gebraucht, aber ob das rechte Auge (bzw. die zu ihm gehörenden Hirnteile) in dem Alter noch mal so viel sehen gelernt hätte, so dass ich hätte lesen können, ist fraglich.

Anfänglich trug ich nach dem Unfall eine Starbrille, d. h. eine Brille, die man trägt, wenn man einen grauen Star hatte und die Linse entfernt wurde. Ca. 15 Dioptrien. Eine solche Glasstärke vergrößert das Augen ungefähr um das Doppelte. Deshalb kaufte ich mir einen Überschieber, der die Brille wie eine Sonnenbrille aussehen ließ, was aber zum Zerkratzen des Glases führte.

Im Sommer oder Herbst 1970 bekam ich meine erste Kontaktlinse. Ohne Kontaktlinse stehe ich »im Nebel«. Einem Menschen, der gesunde Augen hat und der eine solch starke Sehbehinderung aus eigenem Erleben nicht kennt, dem kann man eine solche am besten so erklären, dass es so ist, als würde man durch eine Milchglasscheibe sehen. (Man kann auch mit dem Fernglas etwas ansehen und das Fernglas dann etwas falsch einstellen. Dann bekommt man auch eine ungefähre Vorstellung.)

Ich habe mich von meinem subjektiven Selbstverständnis her aber nie als behindert gefühlt. Erst 25 Jahre nach diesem Unfall habe ich einen Behindertenausweis beantragt. Aus finanziellen Gründen. Ich bin 50% schwerbeschädigt. Wegen extremer Sehschwäche rechts und Linsenlosigkeit links. (Man muss weniger Steuern bezahlen und hat als abhängig Beschäftigter eine Woche mehr Urlaub.)

Durch meinen Unfall entstanden auf dem einen Auge, mit dem ich sah, vier Arten von Behinderung:

1. Um die Linse im Auge ist ein Muskel, der sie zusammendrückt, dicker macht, wenn man auf etwas in der Nähe blickt und der sich entspannt, damit die Linse dünner macht, wenn man in die Ferne blickt. (Deshalb kann man seine Augen entspannen, wenn man auf etwas blickt, das weit entfernt ist.) Man sieht nie Dinge in unterschiedlicher Entfernung in gleicher Klarheit. Das fällt einem normaler Weise nicht auf, da man das, was man gerade anblickt, deutlich sieht. Ein gesundes Auge stellt die Linse automatisch richtig ein. Bei einem Fernglas oder Fotoapparat mit Teleobjektiv muss man die Entfernung künstlich einstellen. Wenn man durch einen Tennisschläger auf ein entferntes Haus blickt, dann wird man entweder die Bespannung des Tennisschlägers oder das Haus klar sehen. Eine künstliche Linse ist immer nur für eine bestimmte Entfernung optimal. Zusätzlich zu der Kontaktlinse, die für die Ferne ist, brauche ich zwei Dioptrien für den Computermonitor und drei Dioptrien zum Lesen. Für sehr kleine Schrift, z. B. in Stadtplänen, brauche ich vier Dioptrien zusätzlich. Ich habe mehrere Brillen für verschiedene Tätigkeiten.

2. Die Iris ist ein Muskel, der sich bei Licht zusammenzieht und die Pupille, durch die Licht ins Auge fällt, verkleinert. Bei Dunkelheit wird diese Öffnung größer. Dieser Irismuskel ist bei mir zerstört. Es befindet sich in meinem linken Auge eine gleichbleibende Öffnung. Diese ist bei Tageslicht, auch bei bewölktem Himmel, zu groß, weshalb ich leicht geblendet bin und fast immer eine Sonnenbrille trage. Bei Nacht ist diese Öffnung zu klein, was zu Nachtblindheit führt. Wenn ich voll von der Sonne angestrahlt werde, mache ich trotz Sonnenbrille die Augen zu. Was dann noch hilft ist eine Schirmmütze. Schirmmütze und Sonnenbrille gibt einem Menschen ein bestimmtes Aussehen. Und die Leute, denen ich begegne, wissen meistens nichts von meinen Augenproblemen. Ich habe auch keine Lust, sie jedem zu erklären. Deshalb bin ich für viele eben der Typ, der ständig eine Sonnenbrille und eine Schirmmütze trägt. Sich dahinter versteckt. Sich vermummt.

Wenn jemand in einem Rollstuhl angerollt kommt, dann wird ihn keiner fragen. »Ey, Typ, wieso kommst du hier angerollt? Kannst du nicht zu Fuß gehen, wie jeder vernünftige erwachsene Mensch?« Aber wenn jemand eine Sonnenbrille trägt, obwohl der Himmel wolkenverhangen ist, dann hat er eben eine Sonnenbrillenmacke. Und solche Vorurteile meiner Mitmenschen sind ein beständiger Teil meines Lebens. (Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich will meine Sehschwäche deshalb aber nicht gegen Querschnittslähmung eintauschen. Diese Behinderung stelle ich mir als schlimmeres Schicksal vor.)

Später hat es häufig Konflikte mit Chefs und Kollegen gegeben, weil ich in sehr hellen Räumen nicht arbeiten konnte. Sie wusste zwar, dass ich schlechte Augen hatte, aber dass ich bei starker Sonneneinstrahlung nicht nur eine Jalousie, sondern einen dicken Vorhang brauchte, dass konnten viele einfach nicht begreifen.

3. Wegen der Narben auf der Hornhaut (Augenoberfläche über der Pupille) kann ich keine eng ansitzenden Kontaktlinsen tragen. Das wissen viele Optiker und Kontaktlinsen-Experten nicht. Aber ich habe es im Laufe der Zeit herausgefunden. Die Linse darf bei mir nur im Zentrum direkt auf der Hornhaut aufliegen. Am Rand muss sie etwas von der Augenoberfläche abstehe. Sonst vertrage ich sie einfach nicht. Mit der Starbrille würde ich aber nicht annähernd so gut sehen, wie mit der Linse. Es ist nicht nur eine kosmetische Sache. Deshalb trage ich seit Jahrzehnten Linsen, die nicht besonders gut sitzen, leicht im Auge verrutschen, bei denen leicht Staub zwischen die Linse und das Auge kommen kann, was dann sehr schmerzhaft ist. Wenn die Linse verrutscht, finde ich sie häufig allein nicht wieder. Es kommt auch vor, dass die Linse herausfällt. Ein solches Ereignis erinnere ich. Ich war in einem Zug, der gerade den Kopenhagener Hauptbahnhof verließ Richtung Hamburg. Ich schaute noch einmal aus dem offenen Fenster, einen letzten Blick auf die dänische Hauptstadt. Ein Windzug und die Linse war weg. (Auf Reisen habe ich aber immer zur Sicherheit eine Ersatzlinse und meine Starbrille mit.)

4. Ich habe auf dem Unfallauge einen Glaukom, einen zu hohen Augeninnendruck und muss regelmäßig tropfen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das Auge erblindet. Auch bestimmte Medikamente sind deshalb für mich nicht geeignet. Z. B. stärkere Betäubungsmittel beim Zahnarzt. (Das Tropfen muss nicht immer sein. Ich muss bloß regelmäßig den Druck prüfen lassen. Und beim Zahnarzt lasse ich mir beim Bohren und Zahnziehen trotzdem Spritzen geben. Das Risiko gehe ich ein.)

Wenn die Entfernung und die Lichtverhältnisse optimal sind und sich kein Staub im Auge befindet, habe ich auf dem linken Auge eine Sehkraft von ca. 70%. (Ich stand einmal im Winter 1986 auf dem Turm auf dem »Schauinsland«, dem zweit höchste Berg im Schwarzwald, nach dem Feldberg, ganz in der Nähe von Freiburg  i. Br. Es war ein klarer Wintertag und ich konnte wie die anderen Menschen im Süden schwach die Alpen erkennen. Aber mit Sonnenbrille und Schirmmütze.) Sowie diese drei Dinge nicht optimal sind, geht die Sehkraft auf null. Deshalb habe ich nie einen Führerschein gemacht. Ich hätte mich vielleicht durch die Sehprüfung durchmogeln können. Aber beim Autofahren hätte ich sehr schnell mich oder andere umgebracht oder schwer verletzt. Radfahren tue ich allerdings mit einer den Sichtverhältnissen angemessenen Geschwindigkeit.

Anfang der 70er Jahre als ich noch nicht so bewusst war und mich noch nicht so gut auf meine Sehbehinderung eingestellt hatte, bin ich mit dem Mofa eines Bekannten, die ich mir sogar ohne dessen Wissen geborgt hatte, gegen einen Zaun gefahren. Ich fuhr auf einen großen Parkplatz vor einem Einkaufszentrum. In der Mitte verlief über diesen Parkplatz ein silbergrauer Metallzaun. der zwei Parkreihen abgrenzte. Hinter dem Zaun war der Asphalt weiß schraffiert und die Sonne schien mir von vorne ins Gesicht. Trotz Sonnenbrille sah ich zu wenig. Plötzlich tauchte aus dem Nichts ein Zaun auf, als ich ungefähr ein Meter vor ihm war. Während ich mich noch darüber wunderte, wo der Zaun plötzlich herkommt, befand ich mich auch schon auf der anderen Seite des Zauns. Aber ohne Mofa. (Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung. ;-) Bis auf ein paar Kratzer hatte ich nichts abgekriegt. Das Mofa war aber vorne mehr oder weniger kaputt.

Die Linse aus Glas befindet sich über dem nur noch teilweise vorhandenen Irismuskel, bzw. Regenbogenhaut und der ungleichmäßigen Öffnung. Meine jüngere Schwester sagte mir mal, »Das sieht aus wie ein kaputtes Glasauge.« Später hatte ich des Öfteren beruflich mit Kindern zu tun. »Kindermund tut Wahrheit kund.« Kinder sind nicht so verlogen oder so höflich wie die Erwachsenen. Von den ganz kleinen hörte ich des Öfteren: »Hast du Aua da?« Und von den etwas älteren, acht bis zwölf, da hörte ich schon des Öfters mal: »Ein Auge hat der, Mensch! Ein Auge hat der!«

Natürlich gibt und gab es auch die Erwachsenen, die mir auf die Schulter klopfen und sagten: »Ach, so schlimm sieht das gar nicht aus.« Aber es gab Indizien, die das widerlegten. Es kam vor, dass ich in einem etwas schummrigen Raum ein Mädchen anbaggerte und die anfänglich nicht völlig abweisend war. Aber in dem Moment, wo sie mir richtig in die Augen gesehen hatte, war sie (von wenigen Ausnahmen abgesehen) weg. Und wieder war mir ein amouröses Abenteuer durch die Lappen gegangen. Das ist Beweis genug, wie es auf Mädchen wirkte.

Auch heute erlebe ich des Öfteren noch, dass Menschen versuchen mir einzureden, das mit dem Auge sei gar nicht so schlimm, das sehe gar nicht so schlecht aus, das sei eine Einbildung von mir usw. usf. Aber das nehme ich denen nicht ab. Alle Menschen, die versuchen, mir das einzureden, sind Frauen über 50, die keinen Mann haben. Und wenn ich eins nicht abkann, dann wenn man mich für dumm verkaufen will, wenn man mir einreden will, das, was ich erlebt habe, hätte ich gar nicht erlebt, sondern ich hätte bestimmte Ereignisse nur falsch interpretiert.


*   *  *

Abschließend zur 2. Phase meines Lebens kann ich sagen: Autoritäten kannte ich keine. »Hätte mein Vater weitergelebt, er hätte sich mit seiner ganzen Länge auf mich gelegt und mich erdrückt«, schreibt Sartre in seinem autobiographischen Roman Die Wörter. Mein Vater hat sich mit seiner ganze Länge betrunken in den Sessel gelegt oder in einem anderen Teil des Wohnzimmers auf den Boden. Der Chef auf der Tankstelle war kein herrischer Mensch und später war ich immer nur kurzzeitig irgendwo beschäftigt.

(Verheiratet war ich nie und hatte auch nie längere Partnerschaften. Ich war nie über längere Zeit in irgendeiner Hierarchie, bzw. ich habe solche Hierarchien nicht bemerkt. Deshalb ist mir Autorität bis heute fremd. Ich bin ein sehr unabhängiger, individualistischer, Freiheit und Selbstbestimmung gewöhnter Mensch. Ich könnte mich heutzutage gar nicht mehr umstellen.)

Meine Mutter hatte in der 2. Phase meiner Kindheit faktisch ihre Beziehung zu mir abgebrochen. Nicht ich hatte meine Beziehung zu ihr abgebrochen. Später wollte sie diese Beziehung wieder aufnehmen. Nachdem ich ohne ihre Hilfe großgeworden war. Aber da hatte ich kein Interesse mehr daran. Die gefühlsmäßige Bindung war irreversibel zerstört und ich hatte inzwischen einen ganz anderen Entwicklungsweg eingeschlagen, der mich weit über das intellektuelle Niveau meiner Familie geführt hatte. Man hatte sich nichts mehr zu sagen.

Ich hatte keine Bildung. Ich hatte keine Hilfe beim älter werden. Über Sex wurde nie gesprochen. Aber es wurde auch nie nachspioniert, ob man onanierte. Ich weiß aus anderen Familien aus unserer Kirche, wo schlimme Dinge passiert sind. Ein Mädchen wurde von ihrer Großmutter beim Onanieren erwischt und daraufhin fast totgeschlagen. »Lieber ein totes Kind, als ein verdorbenes Kind.« (Was viele Christen gar nicht wissen, es wird an mehreren Stellen in der Bibel dazu aufgefordert Kinder zu erschlagen.) [30]

Meine Oma war so nett, mich beim Halma gewinnen zu lassen. Als meine Mutter schon ihre Familie verlassen hatte, spielten wir oft zuhause Monopoly. Wenn irgendein Spielteilnehmer in Gefahr geriet, pleite zu gehen, gab mein Vater aus der Bank Weihnachtsgeld u. ä. Zahlungen, die in den Spielregeln nicht vorgesehen waren. Am Ende war immer die Bank pleite aber kein Spielteilnehmer. (Und wie wir heute wissen, wenn eine Bank pleite ist, kommt der Staat bzw. der Steuerzahler, und rettet sie.) Ich habe nicht gelernt zu verlieren. Im wirklichen Leben verliert man aber. Je besser man damit umgehen kann, um so seltener wird man verlieren. (Jedenfalls tendenziell. Einen Automatismus gibt es natürlich nicht.)

Es ist ein Rechtsgrundsatz unserer Gesellschaft, dass Kinderwohl vor Elternwohl geht. Es mag für erwachsene Menschen eine große psychische Belastung sein, wenn sie keine Kinder bekommen können oder man ihnen die Kinder wegnimmt. Aber häufig ist es für Kinder eine viel größere Belastung bestimmte Eltern zu haben. Meine Eltern hätten im Interesse ihrer Kinder nie Eltern werden dürfen, bzw. man hätte ihnen die Kinder wegnehmen müssen.

Meine Mutter kann zu recht sauer und traurig sein, dass man ihr bei der Geburt die Schädeldecke verletzt hat. Aber das ist kein legitimer Grund dafür, dieses Unglück an die nächste Generation weiterzugeben. Meine Mutter hätte im Interesse ihrer Kinder niemals Mutter werden dürfen.

Was meine Eltern in der ersten Phase meiner Kindheit für ihre Kinder geleistet haben, war schon wenig genug. Aber eine Familie von religiösen Fanatikern, bei denen man so gut wie nichts gelernt hat, ist immer noch besser als gar keine Familie, als gar keine Betreuung. Meine Mutter hatte das wenige, was da war, auch noch zerstört.

Es ist unter Historikern verbreitet, den 1. Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen. Analog dazu habe ich meine Mutter oft als die Urkatastrophe meines Lebens angesehen.

Man kann mit seinen Eltern gestraft sein und ich war mit meinen Eltern gestraft. Wenn ich mir das nicht in einem früheren Leben selbst eingebrockt habe (Karma), dann habe ich mit meinen Eltern einfach ein Saupech gehabt. Karma ist möglich. Aber es ist eine Spekulation. Und mit Spekulationen sollte nichts gerechtfertigt werden. Es gibt Menschen, die behaupten, die Juden, die in Auschwitz vergast wurden, hatten Karma abzutragen. Da wird es für mich unannehmbar. (Die Juden haben in ihrem Glauben etwas ähnliches. Katastrophen seien Strafen Gottes für sündiges Handeln.)

Wenn jemand Arzt, Psychotherapeut, Lehrer, Kindergärtner etc. werden will, dann muss er vorher eine entsprechende Berufsausbildung absolvieren. Aber jeder Trottel kann auf Kinder losgelassen werden, soweit er/sie diese nur selbst gemacht hat. Die ersten 20 Jahre seines Lebens ist ein Mensch auf Betreuung und Förderung durch Erwachsene angewiesen. Lange bevor er selbst es überhaupt begreifen kann, werden für sein späteres Leben Weichen gestellt. Deshalb ist es so katastrophal, dass so viele Kinder unfähigen und verantwortungslosen Eltern in die Hände fallen.

Bei der Ausbildung der Kinder und Jugendlichen sollte in einem erheblicher stärkerem Maße als bisher mit einbezogen werden, dass diese Menschen einmal Eltern sein werden, Verantwortung für das Schicksal zukünftiger Menschen haben werden. Menschen, die Eltern werden wollen, sollten vorher eine Prüfung ablegen, wenn sie die nicht bestehen, sollte man ihnen die Möglichkeit geben, entsprechende Lehrgänge zu besuchen. Und einigen Menschen sollte man, mit finanziellen Anreizen verbunden, die Sterilisation anraten. (Zwangs-Sterilisation ist mit einer freien Gesellschaft nicht vereinbar. Deshalb lehne ich sie ab.) Viele Menschen finden eine solche Einstellung katastrophal. Die hatten aber nicht solche Eltern wie ich. Nach dem Lesen dieses Textes wird man vielleicht verstehen können, wie ich zu dieser Einstellung gelangt bin.

Aber es gibt auch Leute, die meinen, wir brauchen eine gewisse Menge an Hilfsarbeitern und wo sollten die herkommen, wenn alle Kinder optimal aufwüchsen. Nietzsche meinte, die Menschen müssten in ihrer Mehrheit Sklaven sein, unvollständig entwickelte Wesen, als Unterbau der Gesellschaft, auf der sich eine Klasse olympischer Menschen entfalten kann. Kann mir irgendjemand einen Grund nennen, warum ich es akzeptieren soll, ein Teil dieses versklavten Unterbaus zu sein? Ich würde jeden Herrenmenschen, der das von mir verlangt bei nächster Gelegenheit in kleine Stücke schlagen!

Ich spreche mir nicht das Lebensrecht ab, weil meine Eltern nach meinen Vorstellungen niemals hätten Eltern werden dürfen. Auch ein Kind, dass aus einer Vergewaltigung hervorgegangen ist, hat, wenn es einmal geboren ist, ein Lebensrecht und keiner sollte ihm die Art seiner Zeugung vorwerfen. Aber das rechtfertigt nicht nachträglich die Vergewaltigung. Und schon gar nicht rechtfertigt es zukünftige Vergewaltigungen. Und dass ich mir ein Lebensrecht zuspreche, rechtfertigt nicht nachträglich, dass Kinder Erwachsenen ausgeliefert waren, denen so gut wie alle Fähigkeiten fehlten, Kinder vernünftig großzuziehen. Noch weniger rechtfertigt es, dass für alle Zukunft jeder Dilettant auf Kinder losgelassen werden darf.

Ich wünsche es den nachwachsenden Generationen, dass die anarchische Art der Reproduktion der menschlichen Gattung irgendwann einmal aufhört und an ihre Stelle die geplante Reproduktion tritt in deren Verlauf u. a. auch dafür gesorgt wird, dass Kinder nur von Erwachsenen betreut werden, die dazu fähig und ausgebildet sind.

Zwischen mir und meiner jüngeren Schwester sind sechs Jahre. Dazwischen hätten problemlos noch zwei Kinder gepasst. Paul 1954, Johanna 1956. Und ist es ein Problem für Paul und Johanna, dass sie nicht existieren? Natürlich nicht. Etwas, das nicht existiert, hat keine Probleme. Würde Paul existieren, würde ich heute Mails mit ihm austauschen und er würde mir wahrscheinlich darin zustimmen, dass unsere Eltern nicht hätten Eltern werden dürfen. Und wenn meine Eltern nie Eltern geworden wären, hätte ich heute so wenig Probleme damit wie Paul. [31]

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6. Kapitel
SDAJ

Es gab in meiner Verwandtschaft niemanden, der sich für Politik interessierte. Auch unter meinen Freunden nicht. Ich interessierte mich dafür. Warum auch immer. In meiner späten Kindheit bekam ich ein kleines Transistorradio zu Weihnachten geschenkt, damit konnte man nur einen einzigen Sender empfangen, NDR 1. (Die heutige Sendervielfalt gab es damals noch nicht.) Dort hörte ich morgens nach dem Aufstehen die Nachrichten und die politischen Kommentare. (Habe aber wohl nicht viel davon verstanden.)

Als Kommunist hatte ich mich seit ungefähr 1967 gefühlt, aber nicht daran gedacht mich zu organisieren. Mit der Studentenbewegung hatte ich nichts zu tun. Aber dass man ständig im Radio hörte, dass die Studenten demonstrieren, hatte wohl eine Wirkung auf mich gehabt.

Unter Kommunismus verstand ich ungefähr, ohne das damals so ausformuliert zu haben, folgendes: Alles gehört allen. Niemand hat, bzw. niemand erhebt auf irgendetwas einen exklusiven Eigentumsanspruch. Alle Menschen teilen sich die ganze Welt. Ich hatte aber nicht etwa vor, meinem Kollegen seine Hose, seine Uhr oder sein Auto wegzunehmen, sondern ich stellte mir eine Welt vor, wo jeder von sich aus alles was er hat, mit anderen teilt. Warum soll einer fünf Paar Schuhe haben, wenn andere überhaupt keine Schuhe haben? Warum wohnen die einen in Schlössern und Villen, während andere in Slums wohnen? Wieso leben die einen im Luxus, während andere vor Armut sterben? Ich stellte mir eine Welt vor, wo jeder jedem hilft, ohne zu fragen, was er dafür bekommt, eine Gesellschaft, aus der niemand ausgeschlossen wird und aus der sich niemand ausschließt. Kommunismus war für mich eine Welt ohne Hungersnöte, ohne Krieg, ohne Bombardierung von Kindern, ohne KZ, ohne Massenmorde, ohne Unterdrückung, ohne Nationalismus, ohne Rassismus usw. Ich wollte ein freier Mensch unter freien Menschen sein, ein Gleicher unter Gleichen. Ich wollte weder Herr noch Knecht sein.

Zu diesen Vorstellungen kamen nun noch zwei Dinge hinzu: Erstens ein Oppositionsverhalten gegenüber der Erwachsenenwelt und zweitens eine gehörige Portion Abenteuertum.

Ein geschichtliches Wissen besaß ich nahezu überhaupt nicht. Ich konnte mich aus meiner Schulzeit noch an die Entdeckung Amerikas erinnern und an die Steinzeit. Aus Gesprächen in der Familie wusste ich, dass es zwei Weltkriege und eine Diktatur der Nazis gegeben hatte. Ich wusste ganz grob etwas über den Massenmord an den Juden, über Bombennächte und Vertreibungen. Aber Daten und Zahlen hätte ich keine nennen können.

Irgendwann in der Zeit als ich zwischen 15 und 17 Jahre alt war, habe ich mal in einen Atlas gesehen. Da war Westberlin mit einer roten Linie herum und etwas weiter links war die Bundesrepublik. Und ich suchte nach einer Verbindung zwischen diesen beiden. Wenn die zusammengehörten, musste da doch irgendeine Verbindung sein. Da war aber merkwürdigerweise keine. Das ist ein Indiz für mein damaliges Wissen, was die jüngere deutsche Geschichte anbetrifft.

Ich kannte von Marx gerade mal den Namen. Von seinen Theorien wusste ich nichts. Auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in Osteuropa waren mir nicht bekannt. Von der DDR wusste ich nur, dass die Erwachsenen gegen sie waren. Dass es im Osten auch Erwachsene geben musste, darüber hatte ich überhaupt nicht nachgedacht, bzw. ich hatte die Vorstellung, dass die Erwachsenen dort anders wären.

Im August 1968 hörte ich während der Mittagspause im Radio die Berichterstattung über den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei, was meine Sympathie für den Kommunismus vorübergehend etwas abflauen ließ. Aber leider nicht auf Dauer. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Kunden, bzw. Freund des Bruders meines Chefs als Ho Chi Minh 1969 starb. »Sein Körper ist tot, aber sein Geist wird ewig leben.« gab ich pathetisch (und idiotisch) von mir. Und mein Gesprächspartner erklärte mich für verrückt. (Das Wort »pathetisch« kannte ich zu dieser Zeit noch nicht.)

Soweit ich mich erinnere, war es Willy, der Freund von der Schwester meiner Freundin, die ich um die Jahreswende 1969 auf 70 kurzzeitig hatte, der mich dazu animierte, in die DKP einzutreten. Kurz darauf hatte ich den vollständig aus den Augen verloren und weiß nicht, was aus dem geworden ist.

So ging ich dann eines Tages irgendwann im Frühjahr 1970, das genaue Datum kann ich nicht mehr rekonstruieren, von meiner Tankstelle in einer Arbeitspause in meiner Tankwartuniform einige hundert Meter zum Parteibüro der DKP-Wandsbek in der Wandsbeker Zollstraße und sagte dort: »Ich will in die kommunistische Partei eintreten.« (DKP = Deutsche Kommunistische Partei) Außer Helmut B., dem damaligen Kreisvorsitzenden befand sich noch ein älterer Herr und Manfred K. in dem Raum. Alle freuten sich und beglückwünschten mich zu meinem Entschluss. (Manfred K. sagte mir Jahre später mal, dass er, als er mich das erste Mal gesehen hatte, dachte: »Was haben wir denn da für einen gekriegt.« Ich trug zu dieser Zeit meine Starbrille. Soweit ich mich erinnere, hatte ich zu dieser Zeit aber keine langen Haare.)

In der DKP war ich faktisch nur bis Ende 1970. Danach hatte ich nie Mitgliedsbeiträge gezahlt, hatte nie die Parteigruppe in meinem jeweiligen Wohngebiet aufgesucht und hatte auch kein Parteibuch. Ich bin damals noch sehr schlampig mit solchen Dingen umgegangen. (Ich war immer überdurchschnittlich unordentlich und nachlässig und bin es bis heute.) Ich wurde von Seiten der DKP auch nie dazu gedrängt, mein Verhältnis zu ihr zu klären. Ich nehme an, dass man abwarten wollte, was aus mir wird. Denn ein typischer DKPler war ich nicht.

Über die DKP kam ich in die SDAJ. (SDAJ = Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, faktisch die Jugendorganisation der DKP, aber formell organisatorisch von ihr getrennt.) Mein Eintritt in die SDAJ gab meinem Leben eine Wende. Es war der zweite Bruch in meinem Leben. Was aus mir geworden wäre, ohne den neuen Bekanntenkreis, den ich nun nach und nach bekam, kann ich nicht wissen. Ist hypothetisch. Aber ich wäre heute wohl ein anderer Mensch mit einer anderen Lebenssituation.

Bis zu diesem Zeitpunkt bestand mein soziales Umfeld aus meinen ungebildeten fanatisch gläubigen Verwandten, meinen Freunden, die fast ausnahmslos Hilfsschüler bzw. inzwischen Hilfsarbeiter oder Kleinkriminelle waren und meinen Kollegen auf der Arbeit, mit denen ich aber außerhalb der Arbeitszeit so gut wie nichts zu tun hatte. Nun stieg ich sozial auf. Ich organisierte mich in einer kommunistischen Arbeiterjugendorganisation und hatte dadurch plötzlich zu ca. 80% Gymnasiasten und Studenten als Freunde und Bekannte. Die kamen aus gebildeten und gutsituierten Familien. Die Eltern waren Akademiker, Unternehmer und leitende Angestellte.

Zu ungefähr 20% waren es Arbeiterjugendliche wie ich, deren Eltern Arbeiter und kleine Angestellte waren. Und es gab einige wenige Kinder von Altkommunisten. Da gab es einen Kochlehrling, Karl Heinz L., mit dem ich in den nächsten Jahren viel verkehrte und der ein bisschen die Rolle einnahm, die früher Peter S. hatte. (Er hatte ständig ordinäre Sprüche drauf, und war deshalb bei den Genossinnen nicht beliebt.) [32] Da gab es einen Tischlerlehrling, Manfred Sch., mit dem ich später dreieinhalb Jahre zusammenwohnte. Aber das Gros der Mitglieder, die auch die Leitungen dominierten, das waren die im Verlaufe der 68er Ereignisse links gewordenen Bürgerkinder. Darunter befand sich der Sohn des Augenarztes, bei dem ich über Jahre in Behandlung war, Jens Peter H. und eine ehemalige Klassenkameradin, die nach der vierten Klasse ins Gymnasium kam: Susi M. (Ein ehemaliger Klassenkamerad war auch Axel S., den ich später im Startloch wiedertraf. Der war bei den Jusos.)

Die SDAJ wurde mein Familienersatz. Die Politik, die kommunistische Bewegung, meine Freunde und Bekannte, die ich dort hatte, die SDAJ-Clubs, das war für fünf bis sieben Jahre mein Leben. Außerhalb dessen gab es so gut wie nichts. (Der Satz ist etwas übertrieben, stimmt aber tendenziell.) Fünf bis sieben Jahre schreibe ich deshalb, weil ich ab 1975 durch das »Startloch« viele neue Bekannte bekam.

Es gab Leute, die hatten ein Privatleben. Sie waren zusätzlich zu anderen Lebensbereichen auch noch in der SDAJ. Ich hatte kein von meinen politischen Aktivitäten unabhängiges Leben. Mein Leben war die Politik.

Um eine ungefähre Vorstellung davon zu entwickeln. Häufig traf man sich morgens um sechs um Betriebszeitungen oder andere politische Schriften vor Betrieben, an Bahnhöfe etc. zu verteilen und abends ging man nach dem Gruppenabend oder anderen politischen Aktivitäten noch mit den Genossen in die Kneipe. Und zuweilen wurden dann noch nach Mitternacht illegal Plakate verklebt oder Parolen an die Wände geschrieben. Dazwischen war ich entweder berufstätig, später in der Schule, oder in den Zeiten meiner häufigen Arbeitslosigkeit war ich politisch aktiv. In den Clubs Vorbereitung treffen für irgendwelche Veranstaltungen, Flugblätter vorbereiten etc.

Ich sang gerne Arbeiterlieder. Da ich ein gutes Gedächtnis hatte, kannte ich bald viele Lieder auswendig. Wir sind die junge Garde des Proletariats, Auf, auf zum Kampf, Die Internationale etc. Besonders Ernst Busch hatte es mir angetan, ein in der DDR lebender professioneller Sänger von Arbeiterliedern. (Ein Refrain: »Dann steigt aus den Trümmern der alten Gesellschaft die sozialistische Weltrepublik«)

Ich musste im Juli 1971 zur Musterung. Ich wusste vorher, dass ich wegen meiner Augen nicht eingezogen werde. (Ich war Ersatzreserve II.) Aber ich hätte nicht den Kriegsdienst verweigert. In der Revolution muss man wissen, wie man mit einem Gewehr umgeht. Das wollte ich lernen. Ich habe später viele Genossen kennengelernt, die verweigert hatten. Das konnte ich nicht verstehen. Kommunisten sind doch keine Pazifisten.

Der Gedanke bei revolutionären Kämpfen umzukommen, war mir nicht unangenehm. Im Gegenteil, das schien mir ein sehr schöner Tod zu sein. Allerdings war ich in diesem Punkt widersprüchlich, ohne mir dessen bewusst zu sein. In anderen Lebensbereichen war ich nämlich extrem feige. (Hunde, Zahnärzte und Mädchen.) Wie tapfer ich tatsächlich in bewaffneten Kämpfen gewesen wäre, dass ist glücklicherweise nie herausgekommen.

So wie ich damals dachte, hätte ich auch in die RAF geraten können. Ob ich tatsächlich jemand hätte erschießen können, weiß ich nicht. Mit etwas Pech hätte ich heute vielleicht 15 Jahre Knast hinter mir. Wenn ich vor meinem Eintritt in die DKP Anarchisten kennengelernt hätte, wäre ich wahrscheinlich Anarchist geworden. Ich war vom Äußeren wie vom Inneren her sowieso eher ein Anarchist als ein Kommunist. Als ich Kommunist wurde, wusste ich noch gar nicht, dass es Anarchisten gibt. Diese politische Richtung war mir völlig unbekannt. Auch von Trotzkisten und Maoisten wusste ich vorher nichts. (Als ich erfuhr, dass die Kommunisten und die Sozialdemokraten vor langer Zeit mal in einer Partei waren, löste das Erstaunen und Unverständnis bei mir aus.)

Es gab Genossen, die nannten die Trotzkisten »Eispickelfraktion«, z. B. Reiner S. (Trotzki war im Auftrag Stalins mit einem Eispickel erschlagen worden.) [33] Das fand ich nicht gut. Ich war der Auffassung, wir sollten mit den anderen kommunistischen Gruppen zusammenarbeiten, statt uns auf Demonstrationen mit denen zu prügeln. Der Feind sei schließlich der Kapitalismus und die Menschen, die ihn befürworteten. Aber die DKP hatte einen Monopolanspruch darauf, in Westdeutschland den Kommunismus zu vertreten und die Mitglieder anderer kommunistischer Gruppen waren für die DKPler gar keine Kommunisten, sondern Opportunisten, Kleinbürger etc., bestenfalls von ihren Führern Irregeleitete.

Stattdessen bemühte man sich mit der SPD zusammenzuarbeiten, obwohl die nun eindeutig hinter dem kapitalistischen System stand. Aber die SPD war im Gegensatz zu den diversen linken Splittergruppen eine einflussreiche politische Kraft und in der Arbeiterbewegung verankert. Daran wollte die DKP partizipieren.

Merkwürdig fand ich auch, dass es im MSB Spartakus Theologiestudenten gab. (MSB = Marxistischer Studentenbund, faktisch DKP zugehörig.) Gegen Religion hatte ich eine starke Aversion und außerdem war eines der ersten Dinge, die ich lernte, als ich Kommunist wurde, dass wir Atheisten waren. Religion und Gott waren Naivitäten, die im Kommunismus absterben würden.

Im Sommer 1970 zog ich zeitweilig mit Gammlern herum und schlief mit ihnen in einem Abbruchhaus. Obwohl ich zu der Zeit noch ein Zimmer im Mehlandsredder hatte. Ich fand das irgendwie cool.

Sylvester 1970 auf 71 hatte ich zum letzten Mal eine Sylvester-Party in meinem Partykeller im Mehlandsredder. Irgendwann im Jahre 1971 tauschte meine Mutter das Reihenhaus mit meiner ältesten Schwester, die bereits zwei Kinder hatte. Ihr Mann war Berufssoldat in der »Graf-Golz-Kaserne«, die gleich neben Großlohe lag. Meine Mutter zog mit meiner jüngeren Schwester nach Eimsbüttel in den Langenfelder Damm in die bisherige Zweizimmer-Wohnung meiner älteren Schwester. Für mich war da kein Platz.

Ich zog – soweit ich mich erinnere nur für wenige Wochen – in die Weidenstraße. Dort hatten früher meine Großeltern väterlicherseits gewohnt, die inzwischen verstorben waren. Mein Vater hatte jetzt diese Wohnung, befand sich aber in einem Heim im Sachsenwald, wo er eine Entziehungskur machte. Ich erinnere dunkel, dass ich aus den Kippen im Aschenbecher Zigaretten drehte, da ich überhaupt kein Geld hatte. Es war wohl der bis dahin tiefste Punkt meines Lebens.

Aber ich war in der SDAJ und hatte dadurch viele Bekannte. Es wurde mir geholfen. Irgendwann im Herbst 1971 zog ich in eine Studenten-WG, zu Birgit und Gerd, deren Nachnahmen ich inzwischen vergessen habe. Für ein paar Monate in die Rahlstedter Innenstadt, dann für ein Jahr nach Sasel, in den Rammhörn. (Ich habe auch dort aus dem Keller gleich einen Partykeller gemacht. Wir haben vielen Feten dort gefeiert und da die Möglichkeit bestand, sich zu zweit in ein separates Zimmer zurückzuziehen, hieß unsere WG bei einigen Genossen »Rammelhörn«)

Anfang der 70er Jahre machte die SDAJ im Kreis Wandsbek in der Rahlstedter Straße einen SDAJ-Club auf. Daneben war das Kreisbüro. Wir nannten den Club »Roter Dödel«. (Das war eine Toastbrotscheibe mit Spiegelei und Ketchup.) SDAJ-Kreisvorsitzender war zu dieser Zeit Harald M. (Später war er Bundesvorsitzender der westdeutschen Pioniere, der DKP-Kinderorganisation.) Stellvertreter war Axel L., später faktisch hauptamtlich beschäftigt beim SDAJ-Landesvorstand Hamburg.

Dieser Club wurde mein zweites Zuhause. Ich habe dort oft Bardienst gemacht, gereinigt, Veranstaltungen und Flugblätter etc. vorbereitet. Selbstverständlich alles ohne Bezahlung. Ich habe dort auch häufig übernachtet. Ein weiterer Genosse, der im Club sehr aktiv war, hieß Herbert, ein Gärtner. (Nachnahme weiß ich nicht mehr.)

Später (ich glaube 1973/74) wurde in der Ahrensburger Str. 132 ein SDAJ-Club aufgemacht, der nach einer Comic-Figur in der »Elan« (das monatlich erscheinende SDAJ-Magazin) »Clodwich« genannt wurde. Dort war ich auch im Clubkollektiv und habe dort viel renoviert, gereinigt, Bardienst gemacht etc. Auch alles ohne Bezahlung.


Die DKP war die kommunistische Partei bzw. Gruppe, die – im Unterschied zu anderen z. B. maoistischen, trotzkistischen und anarchistischen Gruppen – besonders stark mit der DDR verbunden war. Viele der älteren Mitglieder waren früher mit den Menschen, die in der DDR die Macht hatten, gemeinsam in der 1919 entstandenen KPD, der Kommunistischen Partei Deutschlands, die in Ostdeutschland 1946 in der SED aufging und 1956 in Westdeutschland verboten worden war. Die DKP wurde von der SED in einem solchen Maße finanziell unterstützt und politisch-ideologisch angeleitet, dass sie faktisch der westdeutsche Arm der SED war, auch wenn sich nicht jedes Mitglied dieser Tatsache bewusst war. Für die SDAJ galt das gleiche. (In der ersten Hälfte der 70er Jahre war mir das allerdings nicht bewusst.)

Ich bin in der ersten Hälfte der 70er Jahre mehrfach in der DDR gewesen, da man als SDAJler häufig von dort eingeladen wurde. Uns wurde auf solchen Reisen die DDR so positiv wie möglich dargestellt und man erwartete von uns, dass wir in der Bundesrepublik die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR verteidigen und langfristig auch dort einführen. Einige Erlebnisse auf diesen Reisen sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Auf welcher Reise und in welchem Jahr die im Folgenden geschilderten Ereignisse stattfanden, kann ich heute aber nicht mehr in allen Fällen sagen.

Wenn Westdeutsche in die DDR fuhren, dann war das Erste, was ihnen dort auffiel, dass es nicht so bunt war wie zuhause, alles grauer und ein bisschen verfallen und altbacken. Als ich das erste Mal in die DDR fuhr, im Sommer 1970 nach Rostock, fiel mir als erstes auf, dass die Erwachsenen in der DDR genauso aussahen, wie die in der Bundesrepublik. Die hatte Anzüge an, weiße Hemden, Krawatten, kurze Haare, häufig Aktenkoffer. Wenn die wie Fidel Castro und Che Guevara [34] ausgesehen oder Bärte wie Marx und Engels gehabt hätten, wäre die mir viel sympathischer gewesen.

1971 war ich für einige Wochen in einem Ferienlager in der Nähe von Erfurt. Ich hielt mich nicht an die Vorgabe, außerhalb des Camps keine Kontakte zu haben und kannte bald einige Jugendliche, die nicht von der FDJ als unsere Kontaktpersonen ausgesucht waren. Kurz darauf hatte ich für zwei Tage einen geistigen Aussetzer. Zwei Tage lebte ich wie in Trance, halbbewusst und konnte mich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern. Ich war damals noch ein anderer Mensch als heute und habe da nicht näher drüber nachgedacht. Heutzutage würde ich mit so einem Ereignis ganz anders umgehen. Aber heute würde ich ja auch nicht mehr auf ein DDR-Ferienlager fahren. Wahrscheinlich hat man mir eine Droge ins Essen getan. Später bin ich wahrscheinlich noch mehrfach von den Stalinisten vergiftet worden. Dazu näheres weiter hinten. Während dieser Reise besuchte ich die Wartburg und das ehemalige KZ Buchenwald.

Während der 10. Weltfestspiele im Sommer 1973 war ich erstmals in Berlin. Aber nur in Ostberlin. Die SDAJ-Wandsbek hatte für die Eröffnungsfeier im »Stadion der Weltjugend« [35] nur drei Plätze. Einen davon bekam ich, da man in mich große Erwartungen setzte. (Zumindest war ich einer der wenigen Arbeiterjugendlichen unter den vielen Studenten aus Akademiker-Familien.) Wir waren in einem Studentenwohnheim in Potsdam untergebracht und jeden Morgen fuhren wir mit dem Zug um Westberlin herum in die Ostberliner Innenstadt. Unsere Aufgabe war, uns auf dem Alexanderplatz in die Diskussionsgruppen zu begeben. Dort haben die SDAJler die DDR mehr verteidigt, als viele DDR-Bürger.

Nach dem offiziellen Ende der Weltfestspiele blieben wir noch ca. eine Woche in Potsdam. Einen Abend gab es im »Neuen Palais«, einem Schloss im Park Sanssouci, ein großes Bankett für einige hundert SDAJler. Ein SED-Funktionär hielt eine kurze Ansprache, aus der ich noch einen Satz erinnere: »Früher haben hier die Hohenzollern gefeiert und wir durften nicht rein. Jetzt feiern wir hier und die Hohenzollern dürfen nicht mehr rein.« Gejohle. Heute, wo ich weiß, wie schwer es für DDR-Bürger war, an Schinken, Steaks und andere leckere Sachen heranzukommen, schäme ich mich nachträglich dafür, wie wir dort gefressen haben. Wie die Maden im Speck haben wir da gelebt. Wenn die ganze ostdeutsche Bevölkerung so gut gelebt hätte, wie wir an solchen abgeschirmten Orten, dann hätte der Kommunismus tatsächlich funktioniert. Aber die DDR-Wirtschaft hat solchen Wohlstand nur für eine kleine Gruppe ausgewählter Funktionäre und ausländischer Gäste hervorgebracht.

Einmal besuchten wir eine LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) und nahmen als Gäste an einer Versammlung der LPG-Bauern teil. Da ging es u. a. um Jahresendprämien. Und bei der Errechnung, wie viel jemand bekam, spielte auch eine Rolle, wie viel Boden die Genossenschaftsbauern in die LPG eingebracht hatten. Und da sagte ich (nicht in der Versammlung, sondern im Auto auf dem Weg zu einer anderen Besichtigung): »Das finde ich aber nicht kommunistisch, dass Leute eine höhere Prämie bekommen, weil sie früher mal mehr Land hatten.« Und neben mir saß ein Funktionär, der gleich aufbrauste. »Aber das sind doch völlig unwesentliche Beträge. Das spielt doch überhaupt keine Rolle usw. usf.«

Einmal saßen wir in einem SED-Parteibüro in Rostock. Direkt vor der Tür fuhr alle fünf Minuten eine Straßenbahn mit ohrenbetäubenden Quietschen um die Kurve und ein Juso, der zu unsere Delegation gehörte, fragte, warum man im Parteibüro Bananen kaufen könne, wo es draußen in der Kaufhalle keine gebe. Unser »Betreuer« erzählte uns dann, dass die Genossen alle so aktiv im öffentlichen Leben seien, dass man von ihnen nicht erwarten könne, sich in die Schlangen einzureihen. Ihre Arbeitskraft sei einfach zu wichtig. Er habe einen Parteiauftrag, jedes Mal wenn die Straßenbahn aus den Schienen springe, dort hinzufahren und mitzuhelfen, sie wieder in die Gleise zu bekommen.

Einen Tisch weiter saßen ca. sechs Leute, die alle schon reichlich gebechert hatten, und eine Frau aus der Generation meiner Eltern wankte auf mich zu und sagte mit lallender Stimme: »Mein Sohn hat auch so lange Haare. Die müssen wir jetzt mal abschneiden.« Und dann ging sie mir mit Zeige- und Mittelfinger in Haare und machten Scherenbewegungen. Ein Genosse, der mit ihr am Tisch gesessen hatte, sagte zu ihr: »Komm, lass den zufrieden, der kommt doch aus einer ganz anderen Welt.« Und da dachte ich ganz ketzerisch: »Na ja, so anders ist die Welt bei uns auch nicht. Besoffene Erwachsene, die nicht wollen, dass man lange Haare hat.« (Mein Vater und meine Chefs wollten auch nicht, dass ich lange Haare habe. Und das waren keine Kommunisten.)

Einmal habe wir an einer Sitzung der »Nationalen Front« teilgenommen. In der waren neben der SED die Blockparteien und sogenannte Massenorganisationen vertreten. Wo wir waren, hatte das ungefähr den Charakter eines kommunalen Parlamentsausschusses. Dort wurde ein Bebauungsplan für ein Neubaugebiet besprochen, der sich von entsprechenden westlichen Gegenstücken nicht unterschied. Nach der Sitzung, als der lockere Teil der Veranstaltung begann, mit dem üblichen Büfett, fragte uns dann einige »Abgeordnete«, ob wir nicht Westgeld in Ostgeld tauschen wollen. Natürlich eins zu vier. Das hatte mich sehr verwundert. Offizielle Vertreter der DDR baten mich darum, etwas illegales zu tun. Der Währungstausch war nur in den offiziellen Wechselstuben und dort eins zu eins erlaubt. (Ich erinnere, dass ich einmal in eine Sparkasse gegangen bin und dort ganz brav zehn Mark West in zehn Mark Ost getauscht habe.)

Einmal sind wir in Ostberlin in einen SED-eigenen Laden gegangen, wo man rote Fahnen, Poster von Marx, Engels und Lenin, Marx-Büsten, Nachdrucke der Erstausgabe des Kommunistischen Manifests etc. kaufen konnte. Ich hatte angenommen, dass jemand, der in einem solchen Geschäft arbeitet, auch hinter diesen Produkten steht. Aber die Verkäuferin merkte sehr schnell, dass wir keine DDR-Bürger waren und fragte uns: »Ach, ihr seid aus Westberlin, was? So schön hätte ich es auch gerne. Mal eben rüberfahren zum Einkaufen.« Habe ich gedacht, wenn die so eine Einstellung hat, wieso arbeitet die dann in diesem Geschäft?

Das Abschiedsgeschenk für den »Betreuer« kaufte wir fast immer im Intershop. Das wurde auf einer Delegationsfahrt auch mal angesprochen, aber nicht von SDAJlern. Es waren häufig Unorganisierte oder Jusos, linke Studenten etc. in den Delegationen. Einmal kauften wir in einem Geschäft der »Roten Armee« eine Tüte Pfefferminz-Bonbons, weil uns gesagt wurde, die »Betreuerin« würde die besonders gern essen. Vielleicht war das eine Reaktion auf die Kritik.

Bei den häufigen Reisen per Zug oder Auto in die DDR sah man natürlich die Grenzanlagen. Am deutlichsten wurde das zwischen dem in Ostberlin gelegenen Bahnhof Friedrichsstraße und dem in Westberlin gelegenen Lehrter Bahnhof. (Der inzwischen abgerissen wurde. Ein paar Meter südlich davon ist heute der Berliner Hauptbahnhof.) Da war massenhaft Stacheldraht und Scheinwerfer. Ich war damals gemessen an meinen heutige Ansprüche ziemlich dumm. Aber so blöd zu glauben, dass die Mauer ein »antifaschistischer Schutzwall« war, so blöd war ich selbst damals nicht. Mir war schon klar, dass diese Mauer, dass die Art der innerdeutschen Grenze Menschen aus der DDR davon abhalten sollten, ohne Erlaubnis der DDR-Behörden in den Westen zu reisen. (Und dann eventuell nicht wiederzukommen.) Und das dort auch Menschen erschossen werden, das wusste ich. Ich will mich heute nicht besser darstellen, als ich damals war. Meine Rechtfertigung – auch vor mir selbst: Wir leben in einer schlechten Welt. Kriege, Hungersnöte, Massenmorde, KZ etc. Um das Schicksal der Menschheit endlich zum Besseren zu wenden, müssen Härten in Kauf genommen werden. (So haben wahrscheinlich auch die Leute gedacht, die mir Gift ins Essen getan haben.) Und ich sage heute noch, wenn hinter der Mauer eine bessere Welt entstanden wäre, dann wäre sie tausendmal gerechtfertigt gewesen. Es gab schlimmeres in der deutschen Geschichte. Auschwitz zum Beispiel. (Die Mauer war nicht gerechtfertigt, weil hinter ihr keine bessere Welt entstand und keine bessere Welt entstehen konnte! In einem Gefängnis kann man keine bessere Welt aufbauen.) Ich war Leninist. Der gute Zweck heiligt die Mittel.


Im Herbst 1974 begannen Besprechungen zwischen den Jusos, der SDAJ und einigen weiteren Gruppen und Einzelpersonen, die in Rahlstedt in der politischen und kulturellen Jugendarbeit aktiv waren, über den Aufbau eines selbstverwalteten Jugendzentrums.

In der Folge dieser Besprechungen wurde am 29. Januar 1975 ein Trägerverein für ein solches Jugendzentrum gegründet, der den etwas umständlichen Namen »Verein zur Förderung der kulturellen und politischen Bildung der Jugendlichen in Rahlstedt e.V.« bekam. Die Gründung fand im Gemeindezentrum Großlohe statt. An meinem 23. Geburtstag. Ich hatte das geheim gehalten. Ich war in diesem Punkt sehr merkwürdig. Der Verein hatte nach kurzer Zeit ca. 100 Mitglieder, die zum größten Teil von den Jusos, der SDAJ und den beiden in Rahlstedt vorhandenen Gymnasien kamen.

Zuerst erhielten wir Räume in einem Anbau des Ortsamts und im Keller dieses Gebäudes. Der von den aktiven Vereinsmitgliedern mit finanzieller Unterstützung des Staates ausgebaute Keller war das »Startloch« für ein richtiges Jugendzentrum. Gleichzeitig war dieses Startloch aber auch so gemütlich, dass kein richtiges Jugendzentrum da mithalten konnte. [36]

Die Mitarbeit im Startloch führte dazu, dass ich viele Bekannte außerhalb der SDAJ bekam. Freunde will ich nicht sagen. So eng war das Verhältnis zu keinem. In dieser Zeit warb unsere SDAJ-Gruppe mehr Mitglieder als jede andere Gruppe im Kreis Wandsbek. Das führte aber auch dazu, dass wir viele Mitglieder bekamen, die nicht 100%ig DKP-Positionen vertraten. Meine spätere Wegentwicklung von der SDAJ hatte u. a. auch eine Ursache in meiner Mitarbeit im Startloch. (Kurz darauf hörte ich bereits von einem Genossen: »Wer allzu viel mit Sozialdemokraten zusammenarbeitet, wird selbst ein Sozialdemokrat.«)

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7. Kapitel
Das Mädchen-Problem

(Frauen empfehle ich inzwischen, nach dem 6. Kapitel das 8. Kapitel zu lesen und das 7. Kapitel erst ganz zum Schluss. Bei weitem nicht alle, aber einige Frauen, die eigentlich den ganzen Text lesen wollten, haben nach dem 7. Kapitel aufgehört zu lesen, weil es angeblich frauenfeindlich sei. Nach meiner Überzeugung ist es das nicht! Aber einige Frauen sehen das nun mal so. Zum 8. Kapitel)


Wie weiter vorne schon berichtet, war ich ein naturwüchsiger Kommunist, der alles teilte. Innerhalb meines Freundes- und Bekanntenkreises in der SDAJ und später zusätzlich im Startloch machte man viel zusammen und es wurde einem auch in vielen Dingen geholfen. Aber es gab etwas, das nicht geteilt wurde.

Es gab etwas, das ich nicht bekam, das ich trotz aller Anstrengungen nicht bekommen konnte, obwohl es um mich herum reichlich vorhanden war und ich es mehr begehrte als irgendetwas anderes auf der Welt: Süße Mädchen. Hier bekam mein naives kommunistisches Weltbild seinen ersten Knacks.

Es kam vor, dass ein süßes Mädchen im Schneidersitz vor mir saß und mit mir sprach, mich anlächelte etc. Aber küssen tat sie nur andere Jungs. Auch in diesem Alter war das Penetrations-Bedürfnis noch überhaupt nicht richtig ausgeprägt bei mir. Schmusen wollte ich, Händchen halten. Ich war das, was man heute einen Softie nennen würde.

Heute weiß ich, dass die unattraktiven Mädchen genau das gleiche Problem hatten wie ich. Bei denen waren es die süßen Jungs, an die sie nicht rann kamen. Ich war in meinen 20er Jahren einfach zu blöd um zu begreifen, dass man von einer Partnerin nicht mehr erwarten kann, als man selbst zu bieten hat. Ich hatte damals viele Möglichkeiten mit unattraktiven Mädchen Beziehungen einzugehen. Kurzfristige auf jeden Fall und vielleicht hätte sich daraus auch etwas langfristiges ergeben. Aber die unattraktiven Mädchen wollte ich nicht.

Und es war nicht nur so, dass ich mich zu den unattraktiven Mädchen nicht hingezogen fühlte (so wie sich die Mädchen eben nicht zu den unattraktiven Jungs hingezogen fühlten), ich übertrug meine Minderwertigkeitskomplexe auf die potentielle Partnerin.

Ich habe damals eine ganze Menge gelernt. Aber das jeder für sich nur ein Äquivalent bekommt, das habe ich nicht gelernt. Auch bei den Kommunisten und den anderen Linken haben die gut aussehenden Frauen die gut aussehenden Männer und umgekehrt. Die weniger attraktiven müssen sich mit weniger zufrieden geben. Man braucht nur die Augen aufzumachen und sich die Paare ansehen. Dann wird man das bestätigt finden. Ausnahme gab/gibt es. Diese bestätigen bekanntlich die Regel. Aber dass sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen auch unter den Kommunisten unbewusst das Prinzip des Äquivalententauschs durchsetzte, wie auf dem Markt der Waren, das ging dermaßen gegen die eigenen Überzeugungen, dass man sich etwas vormachte.

Es gibt eine Blindheit des Subjekts für sich selbst und es gibt eine Blindheit von Gruppen für sich selbst. Unter den Linken gab/gibt es eine Blindheit dafür, dass auch ihr Verhalten in einem starken Maße egoistisch ist und auch bei ihnen die zwischenmenschlichen Beziehungen – zu großen Teilen jedenfalls – über Tausch realisiert werden.

Die Menschen wollen aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen das Beste für sich herausholen. Und deshalb versucht jeder Mensch einen Partner zu kriegen, von dem er sich ein Höchstmaß an persönlicher Befriedigung erhofft. Die Menschen bewerten ihre Mitmenschen gemäß ihren Bedürfnissen, ihrem Geschmack etc., z. B. nach der Attraktivität des Äußeren (was besonders jüngere Leute machen), nach Reichtum, Bildung, Benehmen usw. Dieser so entstehende Wert eines Menschen ist nichts objektives, aber etwas intersubjektives. Dieser Wert schwankt in bestimmten Grenzen, da der Mensch von verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Geschmäckern und Bedürfnissen bewertet wird. Aber da es trotz aller Interessens- und Geschmacksunterschiede gewisse Gemeinsamkeiten bei allen Menschen gibt, bekommt jeder Mensch aus der Sicht seiner Mitmenschen einen gewissen Durchschnittswert, damit einen Platz in einer Rangordnung und in der Regel nur einen Partner, der auf der gleichen Höhe in der Rangordnung steht, wie er selbst. [37]

Auf Grund meiner damaligen kommunistischen, Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre sozialistischen Ideologie, war ich der Auffassung, dass alle Menschen den gleichen Wert haben. Minderwertigkeitskomplexe seien eine Macke, ein psychisches Problem. Und Mehrwertigkeitsgefühle Ausdruck von Arroganz. Ich hatte Minderwertigkeitskomplexe, aber ein Wissen von meiner tatsächlichen Minderwertigkeit aus Sicht der Mädchen, was mein Äußeres anbetraf, hatte ich nicht und das hätte ich haben müssen.

Ich wurde von den Menschen mit denen ich damals verkehrte, aber auch immer wieder in diesem Irrtum bestärkt. In meinen damaligen Freundes- und Bekanntenkreisen gab es bei den allermeisten Leuten ausgesprochen oder unausgesprochen, reflektiert oder unreflektiert die Vorstellung, dass im Prinzip jeder Junge jedes Mädchen und jedes Mädchen jeden Jungen kriegen kann, wenn man nur der »Typ« des anderen sei und der andere noch nicht in festen Händen. Dass man der Typ des anderen sein muss, spielt auch durchaus eine Rolle, aber dass man auf der gleichen Höhe in der Rangordnung steht, spielt eine größere Rolle.

Die Linken haben durch ihr Verhalten demonstriert, dass es für sie sehr wohl mehrwertige und minderwertige Menschen gab. Aber sie haben diese »Erkenntnis« nicht in ihr Bewusstsein gelassen. Sie blieb auf der Ebene des Unbewussten. Ich habe nie erlebt, dass ein Mädchen, um das ich mich bemüht hatte, zu mir gesagt hat: »Ich will dich nicht als Freund, weil du mir vom Äußeren her nicht gefällst.« Das war fast immer der Grund. Aber die Ehrlichkeit hat keine aufgebracht. Ich habe diese Ehrlichkeit damals allerdings auch nicht aufgebracht, wenn ich ein Mädchen bzw. eine Frau abgelehnt habe.

Hätte ich dies alles in den 70er Jahren schon so deutlich gewusst wie heute, wäre mir viel Unglück erspart geblieben. Vielleicht wäre sogar mein ganzes weiteres Leben anders verlaufen. Aber mit dieser Einsicht wäre ich natürlich auch kein Kommunist gewesen. [38]

Und ein weiterer wichtiger Punkt kommt hinzu: Die Menschen glauben, was sie wünschen. (Feuerbach) Ich wünschte mir eine schöne Freundin, also glaubte ich, dass eine solche für mich zu haben sei. Unsere Wünsche vernebeln uns den Verstand. In vielen Bereichen. Selbst wenn man die Existenz einer geistigen Ursache der Welt für möglich oder gar für zwingend hält, lässt sich aus der Funktionsweise und dem Zustand der Welt viel eher ein böser als ein lieber Gott ableiten. Aber wer wünscht schon, dass ein Böser Gott über dieser Welt thront? Ergo glaubt man an einen Lieben Gott, so unwahrscheinlich er auch aus der Sicht des Verstandes sein mag. Die Wahrscheinlichkeit Krebs zu bekommen, ist zehntausend mal größer, als Lottomillionär zu werden. Aber man wünscht Millionär zu sein und nicht Krebs zu haben. Ergo spielt man Lotto statt zur Krebsvorsorge zu gehen.

Im Startloch hat mir mal eine Frau, die dort nicht regelmäßige Besucherin war, da diese Einrichtung und die Leute, die dort verkehrten, unter ihrem Niveau waren, gesagt: »Ach, und was ist mit den hässlichen Frauen? Die wollen auch einen Mann. Und wenn man selbst nicht allzu viel darstellt, muss man sich mit weniger begnügen. Sonst bekommt man eben nichts. Und ich tu dir sogar einen Gefallen damit, dass ich dir das sage. Und ich wüsste gar nicht, warum ich dir überhaupt einen Gefallen tun sollte etc.« Inhaltlich hatte sie weitgehend Recht. Aber die Art, wie sie es sagte, war gehässig. Mit der Art, wie sie es sagte, tat sie mir keinen Gefallen. Wahrheit ohne Ethik ist genauso beschissen, wie Ethik ohne Wahrheit.

Ich will nicht den Fehler machen, die mir zugefallenen Leiden für die größten zu halten, die möglich sind. Schwere körperliche Schmerzen, Folter, hilflos mit ansehen zu müssen, wie die ganze Familie, wie alle Menschen, die man liebt, ermordet werden oder verhungern, dass alles ist anderen Menschen passiert. Und diese Dinge sind schlimmer, als das, was ich an schlimmen erlebt habe. Aber das Schlimmste, was ich erlebt habe, war, zusehen zu müssen, wie andere die süßen Mädchen hatten und ich nicht. Und dass ich dieser Tatsache völlig machtlos gegenüberstand. Und das hat nicht nur weh getan, das hatte über die Jahre hinweg eine persönlichkeitsändernde Wirkung. Es kam zu einer inneren gefühlsmäßigen Abstumpfung und Verrohung. Wer etwas Wilhelm Reich kennt, den wird das nicht verwundern. Auf Details möchte ich hier nicht eingehen. So extrovertiert bin ich nicht, dass ich mein Innerstes nach außen kremple und der Öffentlichkeit zur Beurteilung hinhalte. Wenn ich gestorben bin, werden meine Erben in meinen Nachlass dazu etwas finden und was die dann damit machen, überlasse ich denen. (Wie der Steppenwolf hatte ich den Heiligen und den Wüstling in mir.) Dass ich im späteren Leben zunehmend zum Einzelgänger wurde, hat hier eine Ursache. (Dafür gab es aber noch weitere Ursachen.) [39]

Zu dieser Zeit hatte ich durch falsches Verhalten – lange Haare, Unsauberkeit, unsorgfältige Kleidung u. ä. – aber auch durch die Art, wie ich mit anderen Menschen umging, das Problem noch vergrößert. Aber in den 80er Jahren habe ich erheblich mehr Wert auf mein Äußeres gelegt, was mir im Umgang mit anderen Menschen auch sehr genützt hat. Doch meine Chancen bei attraktiven Frauen wurden dadurch nicht besser. Um hier Fortschritte zu erreichen, hätte ich wohl mehrere Gesichtsoperationen durchführen lassen müssen. Und wenn ich heute noch einmal Mitte zwanzig wäre und meine heutigen Einsichten hätte, dann würde ich mir mein Gesicht solange von Schönheits-Chirurgen verändern lassen, bis es den attraktiven Mädchen gefällt.

Nun gibt es natürlich die Leute, die an dieser Stelle heftig protestieren. Das Äußere sei doch gar nicht so wichtig, es komme doch auf das Benehmen an, auf die inneren Werte usw. usf. Aber wenn man sich diese Menschen und ihre Partner näher ansieht, dann wird man in der Regel feststellen, dass auch bei ihnen das Prinzip des Äquivalententauschs wirkt. Diese Einwände sind fromme Wünsche, die mit der Realität nichts zu tun haben. Häufig sind diese Einwände schlicht Betrug und Selbstbetrug.


Für fast alle Mädchen war ich kein Thema. Sie zeigten mir dies, indem sie mir auswichen in dem Moment, wo sie merkten, dass ich Interesse an ihnen hatte. Es gab aber auch Mädchen, die mir vor anderen Leute sagten, dass sie mich nicht als Freund haben wollen, obwohl ich ihnen gegenüber gar kein Interesse habe erkennen lassen. Das waren überhaupt nicht die Mädchen, für die ich heimlich geschwärmt habe. Vielleicht haben sie sich eingebildet, dass ich sie heimlich begehre, weil sie so sehr von sich überzeugt waren. (Oder sie glaubten, der Wunsch nach einem One-night-stand sei gleichbedeutend mit dem Wunsch nach einer lebenslangen Partnerschaft.)

Ich hatte damals was meine Weiterbildung anbetraf, schon ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelt. Ich wusste, wo ich herkam und das nicht viele, die aus ähnlichen Verhältnissen stammten, wie ich, eine solche Entwicklung einschlugen. Aber wenn es um Mädchen ging, hatte ich nur Minderwertigkeitsgefühle. Mädchen waren mein großes Problem. Dies versuchte ich aber den anderen gegenüber zu verheimlichen. Denn dieses Problem nicht lösen zu können, war ja schon wieder ein Ausdruck von Minderwertigkeit. Und diese Minderwertigkeit wollte ich soweit es ging verbergen. Das war mir damals aber nicht so bewusst wie heute. Damals war es eher halb bewusst, halb unbewusst.

Wenn ein Mädchen sagte, dass sie mich nicht als Freund haben will, noch dazu vor anderen Leuten, dann war es, als ob jemand mit einer Sticknadel in einer offenen Wunde herumstocherte. Solchen »Angriffen« war ich hilflos ausgeliefert.

Heute könnte man mit mir so was nicht mehr machen. (Aber heute macht das auch keine mehr mit mir.) Erstens habe ich inzwischen ein dickeres Fell. Zweitens verfüge ich heute notfalls über eine Repertoire subtiler Gegenmaßnahmen. (Ich kann heute auch sehr verletzend sein.) Und drittens last not least haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Hatten es damals die unattraktiven Jungen sehr schwer eine Freundin oder auch nur Sex zu bekommen, so sind es heute die Frauen in meinem Alter, die Schwierigkeiten haben einen Freund oder gar einen Ehemann zu bekommen, wenn sie sich nicht in früheren Zeiten ihres Lebens einen geangelt haben, der bei ihnen geblieben ist.

Hätte ich damals schon meine heutige Dickfelligkeit, meine heutige Fähigkeit zum Zynismus besessen, dann hätte ich – als Barbara W. mir in der U-Bahn vor zehn anderen Leuten sagte, dass sie mich nicht als Freund haben will – in etwa geantwortet: »Ein Glück für dich. Sonst würdest du ja eine Enttäuschung erleben. Ich will dich ja auch gar nicht als Freundin. Du bist überhaupt nicht mein Typ. Ich steh auf etwas kleinere mit rundlichen Gesichtern und Stupsnasen. Du bist mir zu schmal. Ich meine im Gesicht. Ja, das ist irgendwie so schmal. Das wirkt jedenfalls so. Das wirkt irgendwie so länglich. Vielleicht liegt das an diesen langen strähnigen Haaren. Und ich finde, die Nase passt von ihren Proportionen her dort eigentlich gar nicht rein. Aber, gräme dich nicht. Es gibt bestimmt Jungs, die auch so was mögen. Zur Not kann man beim Schmusen ja auch das Licht ausmachen.«

Zur Genossin Sabine L., die hin und wieder ihre sadistische Ader an mir ausließ, hätte ich gesagt: »Du bist mir zu flach. Im Gesicht meine ich. Da fehlen die Konturen. Meine Freundin muss einen kreisrunden Po haben, aber doch kein kreisrundes Gesicht.« (In Wirklichkeit war das Gesicht gar nicht kreisrund. Das hatte eher so eine Birnenform.) [40]

Die beiden Töchter eines »Neue-Heimat«-Geschäftsführers waren in der SDAJ. Die hatten eine tolle Villa mit Swimmingpool im Garten. (Warum der Vater so gut verdient hatte, konnte man später im SPIEGEL lesen.) Da haben wir des Öfteren gefeiert.

Eines Abends kam ich dort in den Garten und im Swimmingpool schienen Mädchen nackt zu baden. Es war dunkel und wegen meiner schlechten Augen sah ich nichts. Ich hörte nur Susanne R. rufen: »Komm hier bloß nicht rein, Peter Möller.« (Und das auch noch in einer blöden Art, die ich schriftlich nicht wiedergeben kann.) Ich hatte überhaupt nicht vor, da reinzugehen. Dafür war ich viel zu schüchtern und zu verklemmt. Aber auch zu höflich und rücksichtsvoll. Wäre ich damals schon so selbstbewusst gewesen wie heute (und so abgebrüht wie ich heute notfalls sein kann), hätte ich sofort, nach dem dieser Satz gefallen war, einen Satz in diesen Swimmingpool gemacht, mit Klamotten an, wäre zu der Frau hingeschwommen und hätte gefragt: »Warum soll ich denn hier nicht reinkommen, Susanne R.?« Und dann hätte ich amüsiert zugesehen, wie die kleinen nackten Mädchen (die waren alle volljährig!) Reißaus genommen oder sich in die schützenden Arme irgendwelcher Schönlinge geflüchtet hätten.


In den 70er Jahren hatte ich vor Mädchen Angst. Nicht solange sie Menschen, Genossinnen etc. waren. Aber in dem Moment, wo ich sie als Mädchen sah, als potentielle Partnerin, als begehrenswerten Körper, da hatte ich Angst vor ihnen.

Aber ich hatte damals noch vor vielen anderen Dingen Angst, vor denen ich heute keine Angst mehr habe. Ich hatte Angst mich vor anderen auszuziehen. 1974, als ich das erste Mal in der eben erwähnten Villa die Möglichkeit hatte, in die Sauna zu gehen, machte ich es nicht. Vor mir zogen sich die anderen aus, auch einige sehr attraktive Mädchen. Ich konnte das nicht.

Ich hatte nicht Angst, ich hatte Horror vor dem Zahnarzt. Ich erinnere mich, dass ich mal Nachts so starke Zahnschmerzen hatte, dass ich zum Notdienst in die Universitätsklinik Eppendorf fuhr. Anstatt in die Klinik hineinzugehen, legte ich mich im Park vor der Klinik auf den kalten Rasen. Trotz der Schmerzen war ich zu feige reinzugehen. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, ob ich dann doch reinging oder unverrichteter Dinge wieder nachhause fuhr.

Ich hatte einen Horror vor Hunden: Als ich Anfang der 70er Jahre in Sasel wohnte, musste ich auf dem Weg zur U-Bahn an einem Grundstück ohne Zaun vorbei, wo mich regelmäßig ein nicht besonders großer Hund ankläffte. Ich wechselte auf die andere Straßenseite. Ich war wahrscheinlich in diesem Punkt genetisch und sozial vorbelastet. Wie weiter vorne schon angesprochen, ging mein Großvater mütterlicherseits scheinbar nie zum Zahnarzt, obwohl oder gerade weil er fast nur noch Zahnstümpfe besaß. Mein Vater war zu feige, den Nachbar Warlich zur Rede zu stellen, als meine Mutter anfing, sich fast nur noch dort aufzuhalten.

Hätte ich damals schon so gedacht wie heute, bzw. hätte ich damals mein heutiges Einsichtsvermögen gehabt, dann hätte ich mich in psychotherapeutische Behandlung begeben. Aber damals war diese Feigheit für mich einfach nur eine große Schande, die meine Minderwertigkeitsgefühle immens vergrößerte. Deshalb war ich bestrebt, diese Feigheit vor anderen zu verbergen. Diese Feigheit war nicht unüberwindlich. Heute gehe ich zum Zahnarzt. Deshalb habe ich noch ca. zwei Drittel meiner Zähne. Heute wechsle ich auch nicht mehr die Straßenseiten um Hunden auszuweichen. (Was in Berlin-Friedrichshain auch schlecht möglich ist, da es hier mehr Hunde gibt als Kinder. Und in vielen Seitenstraßen mehr Hundehaufen als heile Wegplatten.) [41] Heute kann ich auch mit Mädchen bzw. Frauen unbefangen reden, wenn ich sie als potentielle Partnerinnen ansehe. Seit gut zwanzig Jahren bin ich regelmäßiger Saunagänger und ziehe FKK-Strände den Textil-Stränden vor. Heutzutage ist es für mich überhaupt kein Problem mehr, mich nackt unter anderen nackten Menschen aufzuhalten. (Weiter hinten gehe ich darauf noch einmal näher ein.) Hätte ich mir damals helfen lassen, hätte ich diese Probleme schneller überwunden.

Zum Ende des 14. Kapitels komme ich auf das Thema Frauen und Partnerschaft noch einmal zurück. (Ich möchte hier nicht allzu sehr auf spätere Jahrzehnte vorgreifen.)

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8. Kapitel
Schule und Weiterbildung

Seit dem Herbst 1971 wohnte ich mit MSB Spartakus-Studenten zusammen. DKP-orientiert, aber nicht unbedingt 100%ige. In der Zeit begann ich zu lesen. Aber keine Western und Krimis mehr. Ich las kleine Bildungsheftchen über Marxismus-Leninismus. Ich las DDR-Schulbücher über Geographie und Geschichte. (Die waren leichter zu lesen, als Schulbücher über Physik oder Chemie.) Dann las ich ein Lehrbuch über dialektischen und historischen Materialismus, das in der DDR in der 11. und 12. Klasse im marxistisch-leninistischen Unterricht verwendet wurde. Ich las ein Buch über Psychoanalyse. (Das gab es in der Studenten-WG, obwohl die DKP mit Freud nichts zu tun hatte.) Vieles verstand ich natürlich nicht. Wie sollte ich mit meiner Schulbildung. Einen Satz erinnere ich: »Licht hat Wellen- und Korpuskeleigenschaft.« Was ist denn eine Korpuskel?

Aber meine Freunde und Bekannte waren ja zum großen Teil Studenten. Die konnte ich fragen. Ich war das proletarische Nesthäkchen. [42] Dazu noch aus katastrophalen Familienverhältnissen, was bekannt war. Ein Arbeiterjugendlicher, der sich bildete! Eine bessere Bestätigung der marxschen Theorie von der Arbeiterklasse konnte es nicht geben. (Jedenfalls, wenn man mit dem Verifikationsprinzip an die Sache rann ging, wie es Dogmatiker eben machen. Mit dem Falsifikationsprinzip ausgestattet, hätte sich das ganz anderes dargestellt. Dann hätte man gesehen, dass ich eine Ausnahme war.)

Man nahm mich mit zur Universität. Ich kannte die Mensa schon, bevor ich selbst Student wurde. Heute denke ich amüsiert daran zurück, wie mich ein Student einem anderen Studenten vorstellte und sagte: »Das ist ein Arbeiter!« Und der andere Student bewundernd: »Uii, ein Arbeiter!« (Der wird bestimmt jetzt gleich vor unseren Augen hier eine Revolution machen.) Es war die 68er Zeit. (Früher hätte man in diesen Kreisen vielleicht ähnlich reagiert, wenn einer gesagt hätte: »Das ist ein Baron.«) Aber ohne diese Menschen wäre mein weiterer Lebensweg nicht so gewesen, wie er war. Ich habe diesen Menschen etwas zu verdanken. Die erste Hälfte der 70er Jahre, das war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich von anderen Menschen gefördert wurde. Allerdings nicht in dem Sinne, dass sich irgendwelche Menschen nun ständig und intensiv um mich gekümmert hätten. Solche Menschen gab es nie.

Und: Ich wurde gefördert, weil ich mit diesen Menschen eine gemeinsame Überzeugung hatte. Nirgendwo sonst gibt es eine solch gute Kameradschaft, eine solch gute gegenseitige Fürsorge wie in politischen und religiösen Sekten. Solange man auf Linie ist, bzw. die anderen die Hoffnung haben, einen auf Linie zu kriegen. Wenn man anfängt die verbindlichen Glaubenssätze zu bezweifeln oder gar ganz aufgibt, dann ist es mit der Kameradschaft und der Fürsorge vorbei. Dann wird man verstoßen. Im Extremfall wird man von seinen einstigen Glaubensgenossen umgebracht. (Nicht ganz so schlimmes aber ähnliches sollte ich dann später erleben.)

Bevor ich meine erste Fremdsprache lernte, lernte ich »Fremdwörtisch«. Ich hatte nach einer gewissen Zeit ca. zehn Blätter Papier mit Fremdwörtern und Übersetzungen. Leider habe ich die Zettel irgendwann weggeworfen oder verloren. Schade. Es wäre sicherlich sehr lustig für mich, wenn ich diese Zettel heute sehen könnte. Die meisten Wörter erinnere ich nicht mehr. Einige Wörter weiß ich noch: Opportunismus, Links- und Rechtsopportunismus, Anarchismus, Trotzkismus, Maoismus, Imperialismus, orale, anale und ödipale Phase, primär und sekundär, tangieren, adäquat, subjektiv und objektiv.

Das Lesen gefiel mir sehr. Es gefiel mir aber auch, das Gelesenen thesenartig zusammenzufassen und dies dann auf den Gruppenabenden den anderen vorzutragen. Und weil mir dies so gut gefiel, ich Erfolgserlebnisse hatte und von anderen gelobt wurde, nahm ich mir vor, das Abitur nachzumachen, Philosophie zu studieren und Philosophieprofessor zu werden. Das war natürlich Größenwahn. Ich hatte ein paar Bildungsheftchen und einige Lehrbücher gelesen (die ich zum großen Teil gar nicht richtig verstanden hatte) und glaubte nun, Bescheid zu wissen, glaubte, ich könnte anderen Wissen vermitteln. Es ist ein typisches Kennzeichen von Dogmatikern (wie ich damals einer war), sich für kompetent zu halten, wenn man von irgendeiner Sache ein paar Dinge gelesen oder gehört hat. Ich war zwanzig Jahre alt. Ich war Hilfsarbeiter ohne Volksschulabschluss. Was man alles lernen musste um Professor zu werden und mit welchen Schwierigkeiten so was noch verbunden sein würde, davon hatte ich überhaupt keine Vorstellung.

Aber der Wille, wieder zur Schule zu gehen, mich zu bilden, der war da. Und das war das Beste an meinem damaligen Zustand. Wohin mich die Bildung führen würde, das habe ich damals noch nicht voraussehen können.

Ich war damals ein Idiot. Das sage ich aber keineswegs von den anderen Menschen, mit denen ich damals zusammen war. Heute weiß ich, dass Dummheit und Klugheit in einem Menschen dicht beieinander liegen kann. Viele Menschen, mit denen ich damals verkehrte, hatten das Abitur gemacht, studierten, hatten Hochschulabschlüsse. Da einfach von dumm zu reden, wäre dumm, wäre undifferenziert. Aber ihre politischen Auffassungen waren dumm. Ich war in allen Lebensbereichen dumm. Wenn ich an meine damaligen Verhaltensweisen denke, wenn ich Fotos von mir aus dieser Zeit sehe, wie ich mit krummen Rücken und langen Haaren dasaß, ist es mir häufig wirklich peinlich. Im Wortsinne. Pein = Schmerz. Es tut mir richtig weh, wenn ich daran denke, was und wie ich damals war.

Auf den Bildungsabenden der SDAJ wurde man einerseits gebildet, andererseits aber auch verblödet. Man bekam den Marxismus-Leninismus häppchenweise verabreicht. In kleinen Bildungsheftchen, in denen zu den vorgestellten Zitaten von Marx, Engels und Lenin immer gleich die richtige Interpretation mitgeliefert wurde. Ihre falschen Zukunftsvoraussagen wurde in diesen Bildungsheftchen nicht erwähnt und wer sein Wissen über die Klassiker ausschließlich solchen Heften entnahm (und das war die große Mehrheit), hatte, ohne es zu wissen, ein unvollständiges Bild von Marxismus-Leninismus.

Es gab in der SDAJ etc. ein aus der DDR übernommenes Schubladendenken. Politische Gegner wurde in bestimmte Gruppen eingeteilt. Da gab es die Linksabweichler Bakunin, Trotzki und Mao. Einmal umgerührt: »Linksopportunismus«. Und es gab die Rechtsabweichler Lassalle, Bernstein und Kautsky. Einmal umgerührt: »Rechtsopportunismus«. Die gewaltigen Differenzen in den theoretischen Auffassungen und im praktischen Verhalten, in der geschichtlichen Rolle dieser Personen wurden gar nicht zur Kenntnis genommen. Mit diesen Personen beschäftigte man sich gar nicht näher.

Ebenso lagen auf den Dissidenten in den Ostblockstaaten so starke Bannflüche, dass man sich mit denen und deren Aussagen gar nicht näher auseinander setzte.

Auf Bildungsveranstaltungen war es häufig so, dass ich wie ein Erstklässler in der 10. Klasse saß und den Leuten zuhörte, die mir in ihrem Entwicklungsstand weit voraus waren. Z. B. gab es eine Veranstaltungsreihe auf DKP-Kreisebene über den »Staatsmonopolistischen Kapitalismus«. Diese Theorie besagte, dass die großen Konzerne, die Monopole, und der Staat zu einem einheitlichen Machtapparat zusammengewachsen seien, gegen den man »Antimonopolistische Bündnisse« schmieden müsse. (Unter Einbeziehung der Klein- und Mittel-Bourgeoisie.) Das hatte viel von Verschwörungstheorie und diente als weiterer Notnagel dafür, dass der Kapitalismus noch immer nicht zusammengebrochen war. [43] Ich habe damals so gut wie nichts von alledem verstanden.

Irgendwann in der Zeit 1972/73 begann ich regelmäßig die wöchentliche Sendung Vor vierzig Jahren im 3. Programm des NDR zu sehen. Dort wurden vierzig Jahre alte Wochenschauen gezeigt und bestimmte Ereignisse, die genau vor 40 Jahren passiert waren, besonders erörtert und kommentiert. Diese Sendung sah ich bis in die Mitte der 80er Jahre hinein. Das hat dazu geführt, dass ich über das »3. Reich« und den 2. Weltkrieg bald so viel wusste, als hätte ich damals gelebt. (Ich kenne mich mit den 50er und 60er Jahren weniger gut aus.)


Im Herbst 1970 brach ich meine Tankwartlehre ab. Formell wegen meiner Augenverletzung. Faktisch aber, weil ich keine Lust mehr hatte, regelmäßig jeden Tag zur Arbeit zu gehen. Ich war politisch aktiv. Was mich ab jetzt interessierte, war die proletarische Weltrevolution. Alle Kraft musste jetzt in deren Vorbereitung gesteckt werden.

Meinen damaligen Genossen gefiel das allerdings überhaupt nicht, dass ich nicht regelmäßig arbeitete. Das passte nicht zum Image, das die SDAJ etc. haben wollte. Deshalb nahm ich immer wieder Jobs an, die von ein paar Wochen bis zu einem dreiviertel Jahr dauerten. Da war ich Lagerarbeiter, Fabrikarbeiter, Verkäufer, Bauerngehilfe und Wagenwäscher. Zwischen diesen Jobs lagen Zeiten von Arbeitslosigkeit, in denen ich aber nicht etwa faul war! In solchen Zeiten war ich wöchentlich wahrscheinlich mehr als 60 Stunden für meine politischen Überzeugungen aktiv.

Da ich meine Tankwartlehre wegen meiner Augenverletzung abgebrochen hatte (ich konnte keinen Führerschein machen, was dem Beruf des Tankwarts nicht gerade förderlich ist), wollte mir das Arbeitsamt in Zusammenarbeit mit der Landesversicherungsanstalt Hamburg eine Umschulung bezahlen. Irgendwann im Jahre 1972 machte ich beim Arbeitsamt Hamburg einen »Intelligenztest«, bei dem ich wohl ziemlich gut abgeschnitten habe. Ich wurde zur Bekanntgabe des Ergebnisses vorgeladen. Zwei Herren empfingen mich und einer sagte zu mir: »Herr Möller, ich will es mal so sagen, sie sind ein gesunder Kern, der nie auf gutem Boden gelegen hat.« Man schlug mir dann vor, eine Ausbildung zum Großhandels- oder Industriekaufmann zu machen. Zuerst sollte es einen allgemeinen Aufbaulehrgang geben, dann eine einjährige Handelsschule und dann ein einjähriges Betriebspraktikum. Ich willigte ein. Obwohl ich schon weitergehende Pläne hatte.

Von September 1972 bis Januar 1973 besuchte ich diesen Aufbaulehrgang am Berufsförderungswerk Hamburg-Farmsen. Es ist in etwa vergleichbar damit, als ob ich den Volksschulabschluss nachholt hätte. Ich erinnere nicht mehr alles, was ich dort gelernt habe. Aber einiges ist mir im Bewusstsein geblieben. Ich lernte u. a., dass es das Wörtchen »seit« mit »d« und »t« gibt, dass es »wieder« mit »ie« und nur mit »i« gibt. Ich habe in meiner Kindheit und Jugendzeit viel gelesen, wenn das auch keine besonders anspruchsvollen Texte waren, aber auf solche Feinheiten in der Schreibung von Wörtern, hatte ich nie geachtet. Und wenn ich selbst etwas schrieb, dann wimmelte das von Rechtschreibfehlern. In Farmsen hatte ich auch zum ersten Mal in meinem Leben Algebra. [44]

Von Februar 1973 bis Januar 1974 besuchte ich die Handelsschule Rackow. Neben Buchführung, BWL und Schreibmaschinenkurs hatte ich dort auch Deutsch und Geschichte.


Die Studenten-WG löste sich im Sommer 1972 auf. Während der Zeit am Berufsförderungswerk Farmsen wohnte ich in einem Männerwohnheim in Farmsen. Irgendwann Mitte 1973 zog ich in die Greifswalder Str. 23, im Bezirk Hamburg-Mitte, ca. 100 Meter vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt. Dort wohnte ich als Untermieter bei Manfred Sch. bis Ende 1976. Zwischendurch wohnte ich kurzzeitig bei meiner großen Schwester im Mehlandsredder und schlief einige Zeit bei meiner Mutter in Eimsbüttel in der Küche auf dem Fußboden. Wie lange das war, kann ich heute nicht mehr erinnern.

In der Greifswalder Straße habe ich häufig Feten gemacht und auch wenn ich allein war, laute Musik gehört. Häufig kamen die Nachbarn aus der Wohnung über mir und beschwerten sich. »Können sie denn nicht begreifen, dass wir morgen arbeiten müssen!?« Nee, das konnte ich nicht begreifen. Die Sensibilität hatte ich damals nicht. Heute habe ich Probleme mit der lauten Musik der heutigen jungen Menschen, denen wie mir damals die nötige Sensibilität fehlt. [45]

Ich ging morgens ohne Frühstück zum S-Bahnhof Langenfelde um zur Handelsschule zu fahren. Damals gab es in der S-Bahn noch Raucherabteile. In der überfüllten S-Bahn zündete ich mir eine »Roth Händle« an, eine der stärksten Zigaretten, die es gab. An der nächsten Haltestelle musste ich aussteigen und mich auf die Bank setzen, da mir extrem schlecht war. (1989 habe ich endgültig aufgehört zu rauchen, nach ca. zehn erfolglosen Versuchen.)

Nach der Handelsschule fand ich keine Praktikum-Stelle. Es lag wohl in erster Linie an den langen Haaren. Heute weiß ich, dass die mir gar nicht standen. Aber damals waren sie für mich identitätsstiftend. Sie abzuschneiden wäre für mich gleichbedeutend mit einer Kapitulation vor der bürgerlichen Weltordnung gewesen.

Ich hatte zu dieser Zeit aber bereits weitergehende Pläne. Deshalb bemühte ich mich auch nicht besonders um eine Praktikum-Stelle. Mir war bereits die Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) bekannt. Diese Schule war eine stark an den Gewerkschaften orientierte Institution, die Nachwuchskräfte für die Gemeinwirtschaft ausbildete. Ein Teil der Studienplätze wurde nicht an Abiturienten vergeben, sondern an Menschen ohne Abitur aber mit Berufserfahrung. Diese mussten eine Aufnahmeprüfung machen. [46]

Zur Vorbereitung der Prüfung musste ich mein letztes Volksschulzeugnis besorgen. Acht Jahre nach meinem Abgang besorgte ich mir in meiner ehemaligen Volksschule eine Kopie. Auch zur Tankstelle musste ich noch einmal. Ich brauchte ein Zeugnis, aus dem hervorging, dass ich mindestens zwei Jahre berufstätig war. Die Zugangsbedingungen zur Aufnahmeprüfung waren kurz vorher entschärft worden. Zu meinem Glück. Vorher war Voraussetzung mindestens Volksschulabschluss und abgeschlossene Lehre. Beides hatte ich nicht.)

Im Frühjahr 1975 machte ich die Aufnahmeprüfung für die HWP. Die schriftliche Prüfung fand über zwei Tage im großen kreisrunden Hörsaal unter der Kuppel des Hamburger Universitäts-Hauptgebäudes statt. Das imposanteste, was ich bis dahin gesehen hatte. Ich weiß heute nicht mehr genau, was alles geprüft wurde. Es ging u. a. um allgemeines geschichtliches, gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Wissen und um Studierfähigkeit.

Zur Prüfung gehörte auch, dass man zu einem selbstgewählten Thema einen kurzen Vortrag hielt und dann Fragen zu diesem Thema und zu anderen gesellschaftlichen Fragen beantwortete. Ich hatte als Thema gewählt »Die Spaltung Deutschlands«. Da habe ich das vorgetragen, was ich aus DDR- und DKP-Literatur kannte. Dass der Westen Schuld war, dass die DDR in den 50er Jahren alles unternommen habe, um zur deutschen Einheit zu gelangen etc. Soweit ich mich erinnere, saßen mir drei Vertreter der HWP-Lehrerschaft gegenüber und einer von ihn machte kein besonders freundliches Gesicht bei meinem Vortrag. Aber die beiden anderen schienen das ganz gut zu finden. Namentlich kann ich die drei allerdings nicht mehr benennen. [47]

Ich bestand die Prüfung mit 2,3 und hätte schon im Herbst 1975 mit dem Studium beginnen können. Obwohl ich keinen Vorbereitungskurs für die Prüfung belegt hatte. Später erfuhr ich erst, dass es solche Kurse gab. Viele, die solche Kurse besucht haben, schnitten bei der Prüfung schlechter ab, als ich.

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9. Kapitel
Biesdorf

Nachdem meine Genossen mitbekommen hatten, dass ich bald beginnen würde, über den 2. Bildungsweg zu studieren, waren sie wohl daran interessiert, dass ich vorher erst mal ihre Sicht der Dinge etwas näher kennen lerne. Ansonsten gab es eigentlich keine Gründe, mich auf die Parteischule nach Ostberlin zu schicken. Ich war zwar ein aktiver Genosse, der emotional voll hinter der Sache stand, aber ich galt auch als »unsicheres Element«. Ich hatte lange Haare, was nicht gerne gesehen war, ich war unsauber, schlampig, ich war zu individualistisch, zu wenig diszipliniert, ich hatte in vielen Punkten abweichende Auffassungen. Aber das hoffte man vielleicht mir abzugewöhnen. (Doch der Schuss ging voll nach hinten los.)

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich auf nichts in meinem Leben so sehr gefreut wie auf die Parteischule in Ostberlin und ich wurde gleichzeitig von nichts anderem so enttäuscht wie von diesem Ereignis. Schlüsselerlebnis wäre zu viel gesagt. Aber die drei Monate im Herbst 1975 in Ostberlin waren der Anfang vom Ende meiner Zugehörigkeit zur SDAJ.

Karl-Marx-Universität Leipzig, Franz-Mehring-Institut, Außenstelle Berlin. (Im Ostberliner Stadtteil Biesdorf gelegen.) [48] So hieß die Einrichtung, in der ich im Herbst 1975 drei Monate studierte. Hinter dem offiziellen Namen verbarg sich eine faktisch SED-eigene Schule für westdeutsche Genossen. (Der offizielle Name der Schule wurde kurz darauf geändert.) Studierfähigkeit besaß ich zu dieser Zeit bestenfalls in Ansätzen. Es kann aber auch sein, dass ich meine damaligen Fähigkeiten zu sehr abwerte, weil ich mich immer nur an meinen heutigen Fähigkeiten messe.

Ich habe mich später oft gefragt, was es denn nun eigentlich war, was mich so enttäuscht hatte. Ich hätte es gleich danach, schon 1976 oder die Jahre darauf – analysieren und aufschreiben sollen. Habe ich leider nicht gemacht. Ich habe, als ich 1985 aus Hamburg wegzog, einen ganze Ordner voll Biesdorf-Materialien weggeworfen. Jetzt, wo ich diesen Teil meiner Lebensgeschichte schreibe, sind seit meinen Aufenthalt in Biesdorf 28 Jahre vergangen. Dort, wo damals die Parteischule war, ist heute das UKB Berlin, das Unfallkrankenhaus. Im März/ April 2003 bin ich dort wegen meines Tinnitus untersucht worden. Ich war mehrmals da und bin zwischen den Häusern herumgelaufen und habe mich gefragt, in welchem Haus war dein Zimmer, wo war die Kantine, wo waren die Vorlesungen. Ich habe nichts wiedererkannt.

Inhaltliche Differenzen – soweit es den vermittelten Wissensstoff anbetrifft – waren es nicht. Von den Vorlesungen weiß ich heute gar nichts mehr. Ich habe wahrscheinlich so gut wie nichts verstanden. Wenn jemand in die 4. Klasse gehört und man schickt ihn in die 10., dann versteht er da nichts. Nicht weil er dumm ist, sondern weil er den entsprechenden Entwicklungsstand noch nicht hat. Rein vom Wissensstoff her war ich weitgehend fehl am Platze. Das traf aber wahrscheinlich für viele andere Genossen genauso zu. (Wenn ich diese Vorlesungen heute schriftlich vor mir hätte, dann würde ich sie verstehen und meine Kommentare und abweichenden Auffassungen reinschreiben. Aber damals konnte ich das nicht.) Es gab keine, wie an Schulen und Universitäten normalerweise üblich, Klausuren, Arbeiten, Prüfungen etc. Deshalb gab es keine Kontrolle, wie viel man von dem vermittelten Wissensstoff verstanden und behalten hatte.

Ich habe das später mal verglichen mit meinen erzwungenen Kirchgängen in der ersten Hälfte der 60er Jahre. Unsere Kirche hatte zu dieser Zeit schon fast keine Geistlichen mehr. So wie in anderen Kirchen gepredigt wurde, so wurden bei uns alte Predigten aus früheren Zeiten vorgelesen. Später in Biesdorf habe ich wahrscheinlich von den Vorlesungen so viel verstanden, wie von den vorgelesenen Predigten in meiner Kindheit.

Von den philosophischen, ökonomischen aber auch politischen Lehrinhalten her gab es meines Wissens keine Differenzen. An eine Diskussion erinnere ich mich dunkel. Da ging es um die Zweistaatlichkeit in Deutschland und der Rektor, der in unserer Studiengruppe anwesend war, stellte provokativ die Frage, wie wir als deutsche Patrioten, die wir als deutsche Kommunisten ja schließlich seien, für die Zweistaatlichkeit sein könnten. Und ganz eifrig wies ich auf die unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen hin, und da könne man natürlich nicht einen Staat haben. Das war das, was er hören wollte.

Es waren 30 bis 40 kleine Ereignisse, die jedes für sich allein mir nicht die Freude hätten verderben können. Aber die vielen Kleinigkeiten zusammen schufen eine Situation, in der ich mich nicht wohlfühlte. (Die quantitative Häufigkeit vieler kleiner Ereignisse schuf eine bestimmte Qualität, die ein paar wenige dieser Ereignisse nicht hätten schaffen können. Für Dialektiker nichts neues.) Viele dieser Kleinigkeiten habe ich inzwischen vergessen.

Es war in erster Linie wohl die Herzlichkeit, die mir gefehlt hatte. Ich empfand den Umgang als kühl. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Am ersten Abend schon fuhren die anderen Hamburger in die Stadt, d. h. in die Ostberliner Innenstadt, ohne mich zu informieren und mitzunehmen. Weshalb sie das nicht getan haben, weiß ich nicht. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch nur mangelnde Sensibilität. Vielleicht lag es auch an der »total verdreckten Hose«, mit der ich nach Biesdorf gefahren sein soll.

Ich war mir dieser Tatsache gar nicht bewusst. Ich erinnere auch nicht, dass mich irgendein Genosse darauf angesprochen hätte. Viele Jahre später, als die DDR schon lange untergegangen war und ich Einsicht nahm in meine Stasi-Akte, las ich – neben einigen anderen unschönen Dingen –, dass ich mit einer »total verdreckten Hose« nach Biesdorf gefahren sein soll. Vielleicht hätten sie es mir mal sagen sollen, anstatt es nur in meiner Akte zu vermerken. Außerdem stand dort, ich sei mit zwei verschiedenen Strümpfen und zwei verschieden Sandaletten in Biesdorf herumgelaufen. Daran erinnere ich mich nicht. Aber selbst wenn es so gewesen sein sollte, es sind in der kommunistischen Bewegung schlimmere Dinge passiert. (Ich war nun mal in meiner Kindheit »Dreckmöller«. Das konnte ich nicht mal so eben abschütteln. Und ich hatte auch keine Partnerin, die auf mich geachtet hätte.)

Der Umgang miteinander war rigider, als ich es bis dahin kannte. Vielleicht war ich bis dahin immer in Gruppen, wo es legerer zuging als in anderen SDAJ-Gruppen. Vielleicht war ich bis zu diesem Zeitpunkt auch nur zu unsensibel, um diese Rigidität wahrzunehmen.

Es stand von vornherein fest, dass vier Studiengruppen gebildet wurden, wer die Gruppenleiter und Stellvertreter waren, wer im Studentenbeirat saß etc. Demokratie bedeutete, dass wir zustimmten, dass wir abnickten was bereits festgelegt war. Aber das war schon eher das, was ich bereits kannte.

Ich lag am Vormittag im Bett weil mir schlecht war. Die stellvertretende Gruppenleiterin kam zu mir und fragte, warum ich nicht bei der Vorlesung sei und ich sagte ihr, dass mir schlecht sei. Und darauf sagte sie – und diesen Satz erinnere ich wörtlich: »Die Studienordnung ist hier aber so, dass einem nicht schlecht ist.« Entweder hat sie mir nicht geglaubt, dass mir schlecht war oder sie hat geglaubt, dass man Krankheit administrativ beseitigen kann. (Oder sie war einfach nur dumm.)

Eines Abends kam das Gespräch auf Chruschtschow. Es wurde darüber geredet, wie er 1964 abgesetzt wurde und einige Tage verschwunden war und keiner wusste, wo er war und wer eigentlich jetzt an der Spitze steht. Und dann meinten zwei Genossinnen, sie müssten wohl jetzt mal den Rektor davon informieren, was der Genosse Möller hier erzählen würde. (Später las ich in meiner Stasi-Akte, ich hätte gesagt: »Ich glaube, ich bin in der falschen Partei.« Daran erinnere ich mich nicht.)

Wir waren internatsmäßig untergebracht und hatten ein eigenes Geschäft, in dem auch die Angestellten kauften und das besser bestückt war, als der Supermarkt (Kaufhalle) draußen im benachbarten Neubaugebiet.

Ein Mitarbeiter oder ehemaliger Mitarbeiter der DDR-Botschaft in Peking hielt einen Vortrag über China. Wie schlecht es den Leuten dort geht und wie unfrei es alles sei. Und wenn man auf der Straße als Ausländer einen Chinesen anspricht, dann läuft er fort. Danach war bei vielen Genossen die einhellige Auffassung, dass man in der Bundesrepublik das Gleiche über die DDR erzählt bekommt. »Als wenn Papa etwas über die DDR sagt.«

Wir bekamen jeden Morgen das ND (Neues Deutschland, Zentralorgan der SED) und die UZ (Unsere Zeit, Tageszeitung der DKP). Viele Artikel in diesen Zeitungen hatten exakt den gleichen Wortlaut. Als ich das mal beiläufig erwähnte, ohne es ausdrücklich kritisiert zu haben, wurde das von anderen Genossen als unpassend empfunden. Warum soll das alles noch mal neu formuliert werden? Das sei unnötiger Arbeitsaufwand.

Einen Abend war eine kleine Feier. Es war eine Kapelle bestehend aus drei Leuten da, die Evergreens spielten. Als meine Dozentin mich fragte, was ich an diesem Abend anders gemacht hätte, sagte ich ihr: »Ich hätte die Kapelle eingespart und das Geld für Vietnam gespendet.« Da war sie geknickt.

Zwischendurch machten wir eine Reise nach Rostock. Der FDJ-Vorsitzende von Rostock Stadt war der arroganteste Typ, den ich bis dahin persönlich erlebt hatte. Es wurde kritisiert, dass ich bei den Treffen mit Funktionären (dieser Begriff wurde allerdings sehr selten gebraucht), bei Besichtigungen von Betrieben, Schulen etc. zu wenig Fragen stellen würde, zu passiv sei. Dann wollte ich sagen: »Ich weiß doch sowieso schon, was die mir antworten werden.« Das habe ich mir dann aber verkniffen.

Vielleicht hatte ich auch Erwartungen, die sich gar nicht erfüllen konnten. Jedenfalls war nach einigen Wochen bei mir eine ziemliche Enttäuschung über die allgemeine Situation eingetreten, die von Woche zu Woche zunahm. Und ich machte auch keinen Hehl daraus. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt gewöhnt, immer zu sagen, was ich denke. Meine Meinung aus irgendeinen Grund zurückzuhalten, war überhaupt nicht meine Art. Und so sagte ich mal in irgendeinem Zusammenhang: »Ich habe sowieso keine Lust mehr.« Da ging es natürlich erst richtig los. »Die Arbeiter der DDR bezahlen dir deinen Aufenthalt, ermöglichen dir das schöne Leben und du hast keine Lust mehr? Das ist ja wohl das Letzte etc.« So der stellvertretende Vorsitzende des Studentenbeirat. (Dessen Namen ich leider nicht mehr erinnere. Ich weiß nur noch, dass er gelernter Koch war.)

Heute sehe ich es so, dass bei allen meinen politischen Aktivitäten in der ersten Hälfte der 70er Jahre immer ein Spaßfaktor war. Ich war in einem Alter, wo das Leben zu einem großen Teil noch ein Spiel war. Aber Biesdorf war kein Spiel mehr.

Dieser stellvertretende Vorsitzende des Studentenbeirat hielt eines Abends eine Rede über Wilhelm Pieck, ich glaube anlässlich des 15jährigen Todestages. Und er begann ungefähr folgendermaßen: »Bis vor ein paar Stunden habe noch gar nicht viel über diesen großen deutschen Arbeiterführer gewusst etc.« Da dachte ich mir, wenn der bis vor ein paar Stunden nichts über diese Person wusste, wieso kann er dann jetzt weihevoll ihn als großen deutschen Arbeiterführer bezeichnen? Es klang unglaubwürdig.

Der Vorsitzende des Studentenbeirats, dessen Namen ich auch nicht mehr erinnere, hatte den Spruch drauf: »Brandt an die Wand. Schmidt mit.« Das war eine Parolen von Rechtsradikalen aus der Zeit der Auseinandersetzung um die Ostverträge. Er fand diesen Spruch aber scheinbar sehr lustig und äußerte ihn oft. (Später traf ich ihn bei dem letzten SDAJ-Festival, an dem ich teilnahm, wieder und er hatte immer noch solche Sprüche drauf.)

Im Herbst 1975 wurde zwischen der DDR und der Sowjetunion ein Freundschaftsabkommen geschlossen und als Erich Honecker aus Moskau zurückkam, da waren wir zum Jubeln abkommandiert. Wir standen irgendwo an der Strecke zwischen Flughafen Schönefeld und dem Ostberliner Regierungsviertel und als die Wagenkolonne mit der DDR-Führung an uns vorüberkam, winkten wir mit unseren DDR- und SU-Fähnchen. Ich kam mir ziemlich bekloppt dabei vor. Dann gingen wir wieder in unsere Schule und andere »Jubler« wieder in ihre Betriebe.

Eines Abends wurde ich aus meinem Zimmer herausgerufen in dem ich alleine saß und las. (Ein Raum war immer für drei Studenten.) In einem anderen Raum saßen mehrere Genossen zusammen und einer von ihnen, ein dicker, bulliger Typ, (der auch aus Hamburg kam) packte mich mit beiden Hände an den Oberarmen, mein Oberhemd zerriss sofort und ich hatte den Eindruck, dass er mir gleich das Kreuz bricht. Er war erheblich kräftiger als ich. Und er sagte ungefähr: »Du hast keine Lust mehr? Wie benimmst Du dich hier eigentlich« etc. Die anderen fuhren dazwischen redeten auf mich und auf ihn ein und sagten dann zu mir: »Du gehst jetzt besser weg.« Fragt sich bloß, warum sie mich vorher erst gerufen hatten. Ich kann die genauen Sätze heute nicht mehr erinnern, aber in der Art lief es ab.

Das war kein besonders intelligenter Typ, der mich da in der Mangel hatte. Ich könnte mir vorstellen, dass der noch weniger verstanden hatte als ich. Später wurde mir klar, dass dies der Typ von Genosse war, der einige Jahrzehnte vorher, zu Stalins Lebzeiten, tatsächlich anderen Genossen das Kreuz gebrochen hat.

Zum ersten mal in meinen Leben dachte ich mir bei einigen Genossen: »Wenn die unkontrolliert an den Hebeln der Macht sitzen, dann ist aber Feierabend.«

Vor der Studiengruppe musste ich Selbstkritik üben. Ich lernte kennen, was stalinistische Selbstkritik bedeutet. Und ich habe wohl nur eine abgemilderte Form kennengelernt. Ich konnte ja wieder raus. Wer in der DDR lebte, hat wohl härtere Formen kennengelernt.

Die stalinistische Selbstkritik funktioniert ungefähr folgendermaßen: Man steht dem Leiter oder dem Leitungskollektiv gegenüber und der bzw. die erzählen einem dann – eventuell auch im Beisein der Parteigruppe, des Arbeitskollektivs o. ä. – was ihnen an einem nicht gefällt und wie man sich in Zukunft zu verhalten hat. Und das, was gesagt wird, hat man »einzusehen«. Diese Kritik hat man widerspruchslos zu verinnerlichen, zu seiner Selbstkritik zu machen. Ernsthafte Diskussion mit offenem Ausgang gibt es keine, denn die Wahrheit ist ja bereits vom Leiter oder dem Leitungskollektiv erkannt und wird einem nun mitgeteilt. Umgekehrt hat man aber keinerlei Recht die Leitung zu kritisieren. Kritik gibt es nur von oben nach unten.

In der kommunistischen Bewegung bestimmte eigentlich niemand über sich, sondern immer über andere. Der Leiter schrieb den »Geleiteten« vor, was sie zu machen hatten, der Leiter selbst hatte aber über sich eine Leitung, die ihn »anleitete«. Das traf für 99,99% aller Mitglieder zu. An der Spitze, ohne über sich noch jemanden zu haben, war nur noch der Generalsekretär der KPdSU bzw. das jeweilige kleine (inoffizielle) Leitungskollektiv im Politbüro. Das waren die einzigen, die wirklich keinen mehr über sich hatten. Aber das auch nur für die kurze Zeit, in der sie in dieser Position waren. Vorher waren auch sie jahrzehntelang ein Teil des Apparats, fremdbestimmte Individuen und hatten in dieser Zeit die Hierarchie und die Unterwürfigkeit verinnerlicht. Einer der Gründe, warum ich Kommunist geworden war, ich wollte ein freier Mensch unter freien Menschen sein. Nun erkannte ich allmählich, dass ich statt dessen in einen Ameisenhaufen geraten war.

Ich war so naiv, dass mir gar nicht klar war, mit was für Menschen ich mich da einließ. Es war keine 25 Jahre her, da hatten Leute wie Mielke noch ihre eigenen Genossen »vernichtet«, wie er es selbst nannte. (Man braucht nur mal den Namen »Erich Mielke« in eine Suchmaschine im Internet eingeben, dann stößt man sofort auf entsprechende Berichte. [49]) Hätte ich noch etwas mehr aufgemuckt, ich hätte in einem Stasi-Knast verschwinden können.

Die letzten Wochen habe ich nur noch die Tage gezählt. Je mehr es dem Ende entgegenging um so häufiger wurde gejohlt und rhythmisch geklatscht etc. Die anderen waren alle extrem gut drauf. Und ich fühlte mich extrem unwohl. Und das merkten die anderen auch. Denn es war nicht meine Art mich zu verstellen. (Etwas weniger lange über eine bestimmte Aussage zu klatschen, war schon ein Sakrileg.)

Ich war damals ein großer Fan von Tucholsky und hatte ein Taschenbuch mit Kurzgeschichten von ihm dabei. Die Geschichten kannte ich alle schon, las aber einige davon immer wieder. Bei den antimilitaristischen Geschichten weinte ich Tränen und bei den lustigen lachte ich Tränen. In diesem Buch war eine Geschichte, die fand ich blöd. Die hieß Interview mit sich selbst. Dort besuchte ein junger Schriftsteller einen älteren Schriftsteller, der ihm riet, den Mund zu halten oder den Menschen das zu sagen, was sie hören wollen. Diese Geschichte war die einzige, in diesem Buch, die ich nicht mochte. Nach ein, zwei Monaten Biesdorf begann ich diese Geschichte zu verstehen. Nicht etwa, dass ich sie plötzlich mochte, ich konnte lediglich nachvollziehen, warum jemand eine Auffassung vertrat, wie der ältere Schriftsteller. Die einzige Geschichte in diesem Buch, die ich nicht mochte, las ich plötzlich am häufigsten. [50] Es war in Biesdorf besser, nichts zu sagen, als was falsches zu sagen. (Es war im Realen Sozialismus auch besser, nichts zu tun, als was falsches zu tun. Einer der Gründe für die wirtschaftliche Ineffektivität und die Fadheit des öffentlichen Lebens.)

Zwischendurch musste ich mal nach Hamburg fahren, da ich eine Vorladung vom Arbeitsamt hatte. Formell war ich nämlich die ganze Zeit über arbeitslos. Aber ich bin brav danach wieder nach Biesdorf gefahren. So unwohl ich mich dort auch inzwischen fühlte, einfach von dort wegzubleiben, gar aus der SDAJ auszutreten, das war für mich zu diesem Zeitpunkt noch völlig undenkbar. Die SDAJ war mein Familienersatz, das war mein Leben, meine Welt. (Als 1977 das Buch Die Alternative von Rudolf Bahro erschien, schrieb er als Motto hinein »Wer sich über Jahre entfremdet hat, kehrt nicht in einer Nacht zurück.«)

Die Fahrt nach Hamburg ist für sich schon ein Thema, besonders mein Grenzübertritt. Das mit den zwei verschiedenen Strümpfen und Sandalen erinnere ich nicht. Aber ich erinnere, dass ich einen Stiefel mit kaputten Reisverschluss hatte. Als ich mich an einem Sonntagmorgen zum Grenzübergang Friedrichstraße begab, war es sehr kalt und ich wickelte um den kaputten Stiefel mehrere Lagen Tesa Krepp. Ich hatte eine etwas zerschlissene Kunstlederjacke an, einen schäbigen alten Koffer, lange Haare und meine Augen sahen auch nicht gerade heil aus. Am Sonntagmorgen war es an der Ausreisestelle sehr leer. Wer reiste um diese Zeit schon aus? Ich kam dort an (dort, wo heute der »Tränenpalast« ist), machte die Tür auf, zwei Grenzer saßen dort und unterhielten sich. Die rechte Seite des Durchgangs war für Touristen, die linke für Diplomaten und Dienstreisende. Ich ging links durch. Das war korrekt. In meinem Reisepass hatte ich ein Drei-Monats-Visum mit der Anmerkung, dass ich mich dienstlich in der DDR aufhielt. Die beiden Grenzer sahen sich an, als ob ihnen der Leibhaftige entgegentrat. Aber was sollten sie machen. Mein Reisepass war in Ordnung und nach einem Telefongespräch durfte ich passieren. Im Zug wurden später in der Bundesrepublik viele Fahrgäste vom westdeutschen Grenzschutz kontrolliert. Mich haben sie nicht kontrolliert. Die kuckten nur mal kurz in das Abteil, in dem ich allein saß. Die dachten wahrscheinlich, dass da ein Penner seinen Heimatbahnhof von Berlin nach Hamburg verlegt. Schön doof. Ich hätte ja ein als Penner getarnter Stasi-Agent sein können. Beamte haben eben keine Phantasie.

Eine positive Sache war, dass ich in Biesdorf erstmals in meinem Leben begann, mir regelmäßig die Zähne zu putzen. Da war ich 23 Jahre alt.

In Biesdorf kam mir auch zum ersten Mal ein Gedanke, der sich später mal viel deutlicher in mir entfalten sollte. Beim Lesen in einem Lehrbuch über dialektischen Materialismus bekam ich zum ersten Mal Zweifel an der materialistischen Bewusstseins-Erklärung. Es wurde dort geschildert, wie ein Gletscher über eine Landschaft wandert und diese dabei formt. Und so würden unsere Erlebnisse unser Gehirn, unser Bewusstsein formen. Für die Inhalte des Bewusstseins konnte ich mir das ja vorstellen, aber nicht für das Bewusstsein als solches. Weiß die Landschaft, über die der Gletscher gewandert ist, um ihre Existenz? Aber ich weiß doch um meine Existenz und um die Existenz der Welt.

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10. Kapitel
Bruch mit der SDAJ

Nach meiner Rückkehr aus Biesdorf war mein Verhältnis zur SDAJ emotional stark gestört. Aber zu dieser Zeit dachte ich noch nicht daran, dort auszutreten. Meine Aktivitäten verringerten sich allerdings. (Von Genossen, die in Biesdorf waren, erwartete man genau das Gegenteil.) Sie verlagerten sich mehr ins Startloch und ab April 1976 an die HWP.

Ich ging noch regelmäßig in meine SDAJ-Gruppe Rahlstedt, ich nahm noch an Sitzungen der Ortsleitung Wandsbek teil, in der ich Mitglied war. (Einmal zitierte ich dort aus dem SPIEGEL, was mit Befremden aufgenommen wurde. Für die SDAJ war dies ein Feindblatt. Zu dieser Zeit begann ich regelmäßig den SPIEGEL zu lesen, was ich nahezu zehn Jahre gemacht habe. Die letzten Jahre dann allerdings zunehmend sporadisch.) Ich war noch auf einem Pfingstlager, ich habe noch auf einem SDAJ-Festival (ich glaube in Dortmund) das SDAJ-Magazin Elan verkauft. Wie ich heute weiß, begann damals mein Abschied auf Raten.


Im Juli 1976 begann ich Tagebuch zu führen und machte dies bis in die Mitte der 90er Jahre. Im Zusammenhang mit dem Schreiben meiner Memoiren habe ich es zum ersten Mal seit 18 Jahren zur Gänze gelesen und dadurch vieles erfahren, das ich inzwischen schon vergessen hatte. Einige Dinge fielen mir wieder ein, andere Dinge kamen mir so vor, als hätte ich sie überhaupt nie erlebt. Häufig ärgerte ich mich über meine Naivität in früheren Jahren und über einige gravierende Fehler, ohne die mein Leben anders verlaufen wäre. Es ist wirklich etwas dran an dem Spruch, dass man die Jugend nicht an die jungen Leuten verschwenden sollte. Wenn ich meine heutigen Einsichten damals gehabt hätte! Mein Leben wäre erfolgreicher gewesen. (Nach dem Lesen meines Tagebuches habe ich den ersten Entwurf meiner Memoiren an vielen Stellen ändern müssen.)

Begonnen hatte es damit, dass ich Vorsätze aufschrieb, z. B. zum Zahnarzt zu gehen. (Im Sommer 1976 begann ich, mein Zähne sanieren zu lassen. Ich hätte ansonsten heute wahrscheinlich keinen Zahn mehr.) Aus den regelmäßigen schriftlichen Nachkontrollen entwickelte sich dann ein Tagebuch. Bis zum August 1987 schrieb ich 1200 Seiten DIN A 4 voll. (Das war meine Studentenzeit.) Danach machte ich noch neun Jahre Tagebucheintragungen in kleinen Notizbüchern. Das hatte aber nicht mehr den Umfang wie davor.


Zum endgültigen emotionale Bruch mit der SDAJ kam es im November 1976 im Zusammenhang mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann. [51]

Ich hatte diverse Schallplatten mit politischen Songs. Von Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und anderen der SDAJ genehmen Sängern. Aber ich hatte auch Biermann-Schallplatten. Das sah die SDAJ zwar nicht gern, aber wenn die jeden rausgeworfen hätten, der Biermann hörte, wäre die SDAJ noch unbedeutender gewesen, als sie sowieso schon war. Es gab erheblich linientreuere Genossen als mich, die Biermann-Schallplatten hatten.

Biermann war ein erklärter Kommunist, aber auch ein Kritiker an vielen Missständen in der DDR. Den Sozialismus und auch die Art der Grenzsicherung hatte er aber nie in Frage gestellt. Dass man in der DDR nicht die Springer-Zeitungen kaufen konnte, damit war ich einverstanden. Aber dass Kommunisten von kommunistischen Positionen aus nicht öffentlich Kritik äußern durften, das fand ich nicht richtig. [52]

Im November 1976 hatten die DDR-Behörden Biermann, der in der DDR Auftrittsverbot hatte, eine Tournee durch die Bundesrepublik gestattet. Wie man heute weiß, hatte die DDR-Führung von Anfang an nicht vor, Biermann anschließend wieder in die DDR zurückzulassen, egal was er in der Bundesrepublik auch immer machen und vortragen würde. (Die DDR-Führung ging gegen Biermann ähnlich vor, wie Anfang der 50 Jahre die USA-Regierung gegen Charlie Chaplin.)

Die Tournee begann am 13. November mit einem vierstündigen Auftritt in Köln. Am 17. November wurde bekannt, dass die DDR-Behörden Biermann die Staatsbürgerschaft der DDR entzogen hatten und die Rückkehr in die DDR verweigerten.

Der emotionale Bruch mit der SDAJ nahm seinen Anfang im Herbst 1975 in Biesdorf und bekam den letzten Stoß an dem Abend, wo im 3. Programm des NDR das ganze Kölner Biermann-Konzert über vier Stunden übertragen wurde. Bis weit nach Mitternacht. Ich sah es im Startloch. In der Nacht kam mein ganzer Frust über die DDR, DKP und SDAJ voll zum Ausbruch. Der emotionale Bruch war nicht mehr zu kitten. Von den vielen Texten war mir besonders »Warte nicht auf bessere Zeiten« zu Herzen gegangen. [53]

In den Tagen darauf organisierte ich zusammen mit dem Genossen Klaus L. eine Unterschriftensammlung, gegen diese Ausbürgerung. Im Startloch und im SDAJ-Club Clodwich sammelten wir ca. 100 Unterschriften. Davon waren ca. 20 von SDAJ-Mitgliedern, ca. 20 von Jusos und die restlichen von anderen Startloch- und Clodwich-Besuchern. Diese Unterschriftensammlung wollten wir an die Botschaft der DDR in Bonn schicken. Nicht etwa an die »bürgerliche Presse«. Verbunden mit dieser Unterschriftenliste wollte wir dem DDR-Botschafter und über ihn der DDR-Regierung mitteilen, dass es in Hamburg-Wandsbek ca. 100 politisch linksstehende Jugendliche gibt, die der DDR vielfach positiv, wenn auch kritisch gegenüberstehen und mit dieser Ausbürgerung nicht einverstanden sind. (Was für eine Katastrophe, wenn die DDR-Führung das erfahren hätten!)

Es gab dann ein schnell anberaumtes Krisengespräch mit Axel L., der zu dieser Zeit faktisch hauptamtlich für die SDAJ-Hamburg tätig war, (später dann für die PDS, bzw. deren Stiftung) in der wir uns (leider) davon überzeugen ließen, diese Unterschriftensammlung nicht an die Botschaft der DDR zu schicken. Was mit dieser Unterschriftenliste dann passiert ist, weiß ich gar nicht mehr. Heute ärgert es mich, dass sie nicht abgeschickt wurde, und dass ich sie nicht einmal aufgehoben habe. [54]

Es gab dann kurz darauf im Clodwich eine größere Veranstaltung zu dieser Ausbürgerung, auf der es ein paar wenige kritische Stimmen gegen die Ausbürgerung gab, die meisten Anwesenden akzeptierten aber diese Maßnahme, bzw. begrüßten sie ganz ausdrücklich. An Einzelheiten erinnere ich mich nicht mehr.

Ich galt schnell als Drahtzieher, Klaus L. als Verführter. Er bekam kurz darauf Berufsverbot als Erzieher und kehrte in den Schoß der Partei zurück. Andere Kritiker blieben einfach weg und gaben dann irgendwann ihre SDAJ-Mitgliedschaft auf. (Als »Rädelsführer« hätte ich in der DDR viele Jahre Knast bekommen.)

Die Reaktion anderer SDAJler auf meine Aktion waren folgende Vorwürfe: Mein Vorgehen sei Ausdruck eines »Oppositionshobbys«, ich gefalle mir in meiner »Märtyrerrolle«, ich betriebe »Selbstbefriedigung«. Chaot, Provokateur, Leitungsfeind etc. Anstatt sich mit der Sache zu beschäftigen, wurde die Person, die anderer Meinung war, diffamiert. Wie ich heute weiß, hatte dies Methode. Damals war mir dies noch nicht so klar. Stalinisten lösten Meinungsverschiedenheiten dadurch, dass die Personen, die andere Auffassungen vertraten, fertiggemacht wurden. Bis hin zum Genickschuss.

So schlimm hat es mich ja glücklicherweise nicht erwischt. Wenn ich heute, fast 28 Jahre später, in meinem Tagebuch diese Vorwürfe lesen, dann belustigen sie mich. Der Zorn ist schon lange verraucht. Heute ist das für mich nur noch Realsatire.

Anfang des Jahres 1977 gab es noch mehrere Gespräche mit leitenden Genossen, z. B. Holger B., damals SDAJ-Kreisvorsitzender in Wandsbek, in denen versucht wurde, mich wieder auf Linie zu bringen. Ich vertrat in diesen Gesprächen die Auffassung, Voraussetzung für erfolgreiche Diskussionen sei, dass sich die Teilnehmer gegenseitig ihre Ehrlichkeit zugestehen, und dass alle bereit sein müssten, ihre Meinung zu ändern. So funktionierten Stalinisten aber nicht.

Zu dieser Zeit war ich innerlich zerrissen. Einerseits war für mich die kritiklose Haltung der DKP/SDAJ zu den »sozialistischen« Ländern nicht akzeptabel, ebenso wenig wie der Umgang mit Kritikern in den eigenen Reihen, andererseits verband mich nach sieben Jahren Mitgliedschaft und aktivster Mitarbeit in der SDAJ immer noch viel mit dieser Organisation und mit den Menschen, die ich dadurch kannte. Austreten wollte ich zu dieser Zeit noch nicht, aber ich stellte meine Aktivitäten weitgehend ein. Ich besuchte lediglich noch die SDAJ-Gruppenabende in Rahlstedt und im Sommer 1977 Diskussionen, auf die ich weiter hinten näher eingehe.


Zwischen 1970 und 1977 hatte mein Wissen nicht nur quantitativ schon beträchtlich zugenommen, auch der erste qualitative Sprung hatte bereits stattgefunden. Ich befand mich 1977 intellektuell bereits auf einem anderen qualitativen Niveau als in der ersten Hälfte der 70er Jahre. Es ging also nicht nur darum, dass ich neue Informationen, neues Wissen bekam, ich verarbeitete es auch auf einem qualitativ höheren Niveau.

Zu dieser Zeit hatte ich noch viele verinnerlichte Bannflüche nicht überwunden. Selbst zu der Zeit, als ich mich zunehmend von der SDAJ, DKP, DDR etc. wegentwickelte, hatte ich noch nicht daran gedacht z. B. Solschenizyn, Trotzki oder Wolfgang Leonhard zu lesen.

Aber auf den kommunistischen Bruderparteien in Italien, Frankreich und Spanien lagen keine Bannflüche. Zu dieser Zeit jedenfalls noch nicht. Über spätere Entwicklungen kann ich nichts sagen. Diese Parteien entwickelten sich zwar in einer Weise, wie es der DKP und der SED nicht recht war, aber aus der kommunistischen Weltbewegung verstoßen waren sie noch nicht.

Am 3. März 1977 trafen sich in Madrid Santiago Carrillo, Enrico Berlinguer und Georges Marchais, die Vorsitzenden der kommunistischen Parteien Spaniens, Italiens und Frankreichs. Das waren Parteien, die im Unterschied zur DKP in ihren Ländern eine größere Rolle spielten und eine vom Osten weitgehend unabhängige Existenz besaßen. Die drei Parteivorsitzenden verfassten eine gemeinsame Erklärung über den von ihnen angestrebten Weg zum Kommunismus. »Eurokommunismus« nannte man das damals. Diese kurzzeitige Erscheinung war (was ich damals nicht wusste, aber heute weiß) die allmähliche »Sozialdemokratisierung« einer Reihe westeuropäischer Kommunistischer Parteien. (Die französische KP machte später leider eine stalinistisch-nationalistische Kehrtwende, während die spanische und italienische KP aufhörten zu existieren, bzw. sich in andere Parteien verwandelten.)

Diese Erklärung war, soweit ich mich erinnere, sogar in der UZ abgedruckt. Ich bin mir aber nicht sicher. Dort hieß es u. a., man wolle den Sozialismus in Demokratie und Freiheit errichten und die individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten (Presse- und Versammlungsfreiheit, Wahlrecht, Demonstrationsfreiheit und Streikrecht) erhalten. Es müsse einen offenen Meinungsstreit über alle offenen Frage geben. [55] Dieses Papier war faktisch auch eine Kritik am diktatorischen Sowjetsystem.

Zu dieser Zeit wollte ich noch immer den Kommunismus. Aber den Weg dahin wollte ich nicht so wie in der DDR. Keine Diktatur von Politbüro, Parteiapparat, Funktionären. (Besonders nicht, wenn es sich um dumme, beschränkte, dogmatische Menschen handelt.)

Die DKP war faktisch der westdeutsche Arm der SED. Eine eurokommunistische Entwicklung war in dieser Partei unmöglich.


Ich las seit meinem Studienbeginn an der HWP u. a. VSA-Literatur. (VSA = Verlag zum Studium der Arbeiterbewegung.) Dort wurde eurokommunistische Literatur verlegt. Im August 1977 organisierte ich mit anderen SDAJ-Mitgliedern und Besuchern des Startlochs einen Arbeitskreis über den Eurokommunismus. Wir nahmen uns vor gemeinsam das vom VSA herausgegebene Buch Eurokommunismus und Staat von Santiago Carrillo, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Spaniens, zu lesen. Uns wurde daraufhin am 31. August 1977 von Gero von Randow, damals ein hoher SDAJ-Funktionär in Hamburg, angedroht, aus der SDAJ ausgeschlossen zu werden, wenn wir diesen Kurs nicht einstellten. [56] Wir haben trotzdem weitergemacht, ließen uns unter diesen Umständen dann aber dazu überreden, den Kurs in einen Diskussionszirkel über Lenins Schrift Staat und Revolution umzuwandeln, an dem auch Mitglieder des SDAJ-Landesvorstandes teilnahmen. Die Gedanken Carrillos und auch Rosa Luxemburgs Schrift Zur russischen Revolution sollten dann mit einfließen. (In dieser Schrift kritisierte Rosa Luxemburg das Vorgehen Lenins und Trotzkis während und nach der Oktoberrevolution. Aus dieser Schrift stammt das berühmte Zitat »Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.«)

Wenn in der SDAJ etc. von »diskutieren« geredet wurde, dann bedeutete dies folgendes: Wir, unsere Organisation, unsere Bewegung, haben die Wahrheit. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Wenn SDAJler mit anderen diskutierten, dann um denen die richtigen Auffassungen zu vermitteln. Nicht um selbst etwas dabei zu lernen. Denn alles Wichtige hatte man ja bereits richtig erkannt. Und innerhalb der Organisation hatten die Wahrheit diejenigen, die die Organisation personell darstellten, die Funktionäre, die Leitungen. (Im Detail, z. B. wie man ein bestimmtes Flugblatt gestalten sollten, da gab es natürlich Meinungsverschiedenheit.) Im nachherein, zwanzig Jahre später, konnte man sagen, dass man vor zwanzig Jahres dieses oder jenes hätte anders machen sollen. Aber heute machten wir, was die Generallinie anbetraf, nichts falsch.

Ich vertrat die Auffassung, am Ende eines Diskussionsabends müssten nicht alle der gleichen Meinung sein. Aber dies hätte Pluralität bedeutet. Und so was war in der kommunistischen Bewegung spätestens seit Lenin nicht üblich. Werner Stürmann, damals Landesvorsitzender der SDAJ Hamburg, war an einem Abend da. An Details der Diskussion erinnere ich mich nicht mehr, aber ein Satz von ihm ist mir in Erinnerung geblieben. »Peter, es ist doch nicht jeder so pervers wie du, und will Sigmund Freud lesen.« [57]

Die Mitglieder des Landesvorstandes, die mit uns diskutierten, wollten uns wieder auf Linie bringen, nicht etwa ihrerseits etwas von eurokommunistischen Positionen annehmen. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange diese Diskussionen dauerten, aber irgendwann schliefen die Treffen ein.


Gewisse negative Dinge aus der Geschichte der Sowjetunion und der kommunistischen Bewegung wusste ich seit Jahren schon. Dass viele führende Bolschewisten unter Stalin umgebracht wurden, war mir bekannt. Aber über die Ausmaße der Verbrechen während der Stalinzeit wusste ich nichts. In DKP- und DDR-Literatur wurden diese totgeschwiegen.

Der VSA veröffentlichte auch Jean Elleinstein Geschichte des Stalinismus. Elleinstein war ein französischer Historiker und Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Das Buch war damals unter nicht-DKP-orientierten Linken mehr oder weniger populär. Im Zusammenhang mit der Erstellung eines HWP-Referats habe ich dieses Buch Ende 1977 / Anfang 1978 intensiv durchgearbeitet und erfuhr zum ersten Mal in vollem Umfang welche Verbrechen, welche Massenmorde unter Stalin stattgefunden hatten.

Nachdem ich mir diese Vorgänge richtig klargemacht hatte, war es für mich – gelinde gesagt – unverständlich, dass besonders die älteren DKP-Leute, die das alles ja schon viel länger wissen mussten als ich, immer nur von der ruhmreichen SU sprachen und den dort stattgefundenen Massenmord an Hunderttausenden ihrer eigenen Genossen aus ihrem Bewusstsein und ihren Geschichtsbüchern verdrängten.

Ich hatte über die Jahre viele Dokumentarberichte und Romane aus der Sowjetunion und der DDR gelesen z. B. über sowjetische Kriegsgefangene, die in den KZ heldenhaft den Widerstand organisierten. Dass solche Kriegsgefangenen, wenn sie die Gefangenschaft überlebten, anschließend in den GULAG kamen, davon stand in diesen Berichten und Romanen nichts. (Für Stalin war jeder sowjetische Soldat, der sich gefangen nehmen ließ, ein Verräter. Dabei hatte er durch die Ermordung einiger zehntausend Offiziere der Roten Armee kurz vor Beginn des Krieges die sowjetischen Völker weitgehend wehrlos gemacht.) Ich hatte viele Dokumentationen und Romane gelesen über den heldenhaften Widerstandskampf deutscher Kommunisten gegen Hitler, aber dass in der Sowjetunion mehr führende KPD-Mitglieder umgebracht worden waren, als in Nazi-Deutschland, dass nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 hunderte deutsche Kommunisten von Stalin an Hitler ausgeliefert wurden, davon stand dort nichts. Ich erkannte nun, was für eine Mischung aus Halbwahrheiten, Geschichtsvergessenheit und Heuchelei man mir jahrelang vorgesetzt hatte, wie man mich mit den Büchern, bei denen mir die Tränen gekommen waren, belogen hatte.

Und ich musterte in Gedanken meine Genossen durch und ich sagte mir bei manchem: »Der würde dich liquidieren, wenn die Verhältnisse heute noch so wären, wie unter Stalin. Und die anderen würden Beifall klatschen.« Nicht alle, bei weitem nicht alle meiner damaligen Genossen. (Viele wären wegen ungenügender Wachsamkeit selbst in Gefahr geraten.) Aber einer ganze Reihe von Leuten hätte ich das zugetraut..


Am 14. Februar 1978 bin ich aus der SDAJ ausgetreten. Das war der dritte Bruch in meinem Leben. Im Laufe dieses Jahres stellte ich auch meine Mitarbeit im Startloch ein – was ich in späteren Zeiten sehr bedauert habe. (Fast alle Aktiven der ersten Jahre sind aber auch nicht wesentlich länger im Startloch aktiv geblieben.) Ich konzentrierte mich auf mein HWP-Studium. Das musste ich. Auf Grund meiner schlechten Bildung in der Kindheit und Jugendzeit hätte ich ansonsten den Lernstoff nicht bewältigen können. So verlor ich weitgehend den Kontakt zu den Menschen, die, als ich zwischen 18 und 26 Jahre alt war, beinahe so etwas wie meine Familie waren. [58]

Nicht alle, aber die meisten meiner ehemaligen Genossen sagten mir nicht mal mehr »Guten Tag«, wenn ich sie traf und sie grüßte. Das traf weniger für die Leute zu, mit denen ich vorher eng zusammengearbeitet hatte, sondern das waren im Wesentlichen die Leute, die ich auf Kreis- und Landesebene und zum Teil auch nur sehr flüchtig kannte. Ich war in ihren Augen ein hassenswerter Renegat. So begann ich meinerseits auch meine ehemaligen Genossen zu ignorieren und habe damit dann vielleicht manchen Unrecht getan, der mich gar nicht ignorieren wollte. [59]

Als ich aus der SDAJ austrat, war die massenhafte Liquidierung Abtrünniger in der kommunistischen Bewegung glücklicherweise nicht mehr üblich. Einzelne Fälle gab es allerdings immer noch! Aber für eine solche ultimative Maßnahme war ich nicht wichtig genug. Bei mir hat man sich darauf beschränkt meinen Ruf zu ermorden. Mit einigem Erfolg. (Und wahrscheinlich bin ich auch später noch mehrfach vergiftet worden. Näheres weiter hinten.)

Dogmatiker, wie die SDAJler es waren, ziehen nicht Erwägung, sich zu täuschen. Wer ihre Meinung in den Grundsätzen nicht teilt, ist entweder dumm oder böse. Eine dritte Möglichkeit gibt es für politische Dogmatiker nicht. Entweder einer ist falsch informiert, noch nicht richtig entwickelt, bzw. kann die Wahrheit nicht begreifen oder er hat niedrige Motive. Wenn nun jemand die Wahrheit bereits schon einmal gekannt hat und sich dann von ihr trennt, dann ist er entweder verblödet oder er ist plötzlich von niedrigen Motiven beherrscht. Da man mir eine Verblödung nicht unterstellen konnte, blieben nur die niedrigen Motive. (Oder die psychische Macke, wie weiter vorne kurz erwähnt. Diese stellt eine gewisse Form von Blödheit dar.)

Nach meiner Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns begann eine Rufmordkampagne gegen mich, die nach meinem Austritt aus der SDAJ verstärkt wurde. Es wurden bis ins sogenannte »feindliche Lager« hinein Lügen über mich verbreitet. Wer meiner ehemaligen Genossen besonders aktiv daran beteiligt war, was systematisch betrieben wurde und was der »Privatinitiative« Einzelner entsprang und was im Einzelnen alles verbreitet wurde, weiß ich nicht. Aber aus Berichten und Reaktionen vieler Bekannter konnte ich in etwa entnehmen, was u. a. verbreitet wurde.

Erst lässt er sich von SDAJ, DKP und DDR aufbauen und dann verrät er seine Ideale. Jetzt studiert er um Karriere zu machen. Weil er mit Mädchen nicht zurechtkommt, geht er in Pornokinos und Puffs. (Letzteres stimmte nicht. Dafür hatte ich kein Geld.) Und deshalb will er keine Gesellschaft mehr, in der es keine Pornographie und Puffs gibt. Unter meinen Lehrern (an der HWP und später an der Universität Hamburg) wurde verbreitet, ich hätte abfällige Bemerkungen über sie gemacht. (Viele von denen, die solches verbreiteten, haben sich ca. zwölf Jahre später selbst von der kommunistischen Bewegung getrennt. Erst als der Reale Sozialismus zusammengebrochen war, begriffen viele, dass es so nicht geht. Einige haben es bis heute nicht begriffen.)

Nach dem Untergang der DDR ist eine Fülle von Tatsachenmaterial über die Arbeitsweise der Stasi bekannt geworden, wenn es darum ging, unliebsame Personen fertig zu machen. Eines ihrer Lieblingsmethoden war, berufliche Misserfolge zu produzieren und/oder den Leuten die Gesundheit zu nehmen. (Biermann wollten sie minderjährige Mädchen ins Bett legen.)

In meiner Stasi-Akte stand über die Zeit nach 1978 nicht besonders viel, was mich verwundert hatte. Es ist aber bekannt, dass es der Stasi gegen Ende der DDR noch gelungen war, vieles zu vernichten, besonders was ihre Aktivitäten in Westdeutschland anbetraf. (Heute glaube ich, dass anderenfalls viele DKP- und SDAJ-Leute und manch weitere Westdeutsche in den 90er Jahren wegen diverser Straftaten im Knast gesessen hätten. So manch linker Biedermann wäre ein vorbestrafter Verbrecher.) Ich konnte meiner Akte nur entnehmen, dass ich im Falle einer Machtergreifung durch die DDR/DKP-Leute in Westdeutschland zur Internierung vorgesehen war. Mit anderen Worten: Ich wäre in ein KZ gekommen.

Die Leninisten, später Stalinisten waren mit dem Vorsatz und dem Versprechen angetreten, dass Paradies auf Erden zu errichten. Darunter wollte sie es nicht machen. Wer weniger wollte, war ein Verräter, ein Kollaborateur mit den Herrschenden. Das Paradies haben sie nicht geschafft. Sie haben es nicht einmal geschafft, die Grundbedürfnisse der großen Mehrheit der Bevölkerung besser zu befriedigen als der durch Sozialstaats-Elemente ergänzte Kapitalismus. In einigen Ländern, wo diese Leute regierte, verhungerten Millionen. (In der Sowjetunion unter Lenin und Trotzki, später unter Stalin, in China unter Mao, in Nordkorea unter Kim Il Sung.) Aber wenn es etwas gab, das sie konnten, wo sie besser waren als andere politische Richtungen, Systeme etc., dann war es Biographien zerstören, Menschen fertig machen. Sie hatten die effektiveren Geheimdienste nach innen und außen. Markus Wolf war bis zum Ende seines Lebens stolz darauf.

Ich habe noch zwanzig Jahre später Menschen getroffen, in deren Köpfen Dinge über mich drin waren, die mit der Realität nichts zu tun hatten. (Bei einigen Köpfen wird das so bleiben, bis sie verwesen.) In Wirklichkeit sah es folgendermaßen aus:

Mir war ausgelöst durch meine Erlebnisse in Biesdorf klar geworden, was für eine autoritäre und hierarchische Organisation die SDAJ war. Mir war klar geworden, wie stark die SDAJ von der DDR abhängig war, dass SDAJ und DKP faktisch die Außenvertretungen der DDR in Westdeutschland waren, dass die vielen faktisch Hauptamtlichen im Büro des SDAJ-Landesvorstandes faktisch vom »Osten« bezahlt wurden. (Viele von denen hatten Arbeitsverträge bei Firmen, die Handel mit den »Sozialistischen Ländern« betrieben, Reisen dorthin veranstalteten u. ä.) Alles dies war mir in der ersten Hälfte der 70er Jahre nicht bewusst. (Was Wunder, dass man in der SDAJ keine kritischere Haltung gegenüber den Zuständen im »Realen Sozialismus« durchsetzen konnte.)

Ich wollte für eine bessere Welt kämpfen. Aber doch nicht auf diese Weise. Nicht in einer hierarchischen Organisation nur als ein Rädchen im Getriebe, nur noch ausführen, was in irgendwelche Leitungsgremien beschlossen wird, auf deren Zusammensetzung, auf deren Beschlüsse ich überhaupt keinen wirklichen Einfluss habe. Und wenn man nicht parierte, dann wurde man systematisch diffamiert.

Mir war im Verlauf des Jahres 1977 nach und nach klar geworden, dass die Mitarbeit in DKP, SDAJ etc. eine fruchtlose Sektiererei ist, dass diese Organisationen durch ihre DDR-Nähe zur Erfolglosigkeit verurteilt waren. Ich hatte erkannt, dass meine Genossen in ihrer großen Mehrheit unbelehrbare Dogmatiker waren. Ich hatte die Verbrechen des Stalinismus kennengelernt und hatte erkannt, dass der Begriff Kommunismus durch sie und durch die Verhältnisse in den von Kommunisten regierten Ländern irreversibel beschädigt war.

Aber ich war zu dieser Zeit von meinem subjektiven Selbstverständnis her immer noch Marxist und Sozialist. (Als Marxist war ich letztendlich immer noch Kommunist, hielt aber diesen Begriff nicht mehr für verwendbar.) Ich war ein marxistischer Kritiker des Sowjetsystems und seiner westdeutschen Anhänger geworden, weil das Sowjetsystem mit dem, was man ursprünglich mal unter Kommunismus verstanden hatte, überhaupt nichts zu tun hatte! Weil es der blanke Hohn auf ein emanzipatorisches Ideal war.

Ursprünglich bedeutete Kommunismus Freiheit von Armut und Elend, aber auch Freiheit von Knechtschaft, Unmündigkeit und Entfremdung. Die freien bewussten Produzenten, die die Wirtschaft und Gesellschaft selbst organisieren ohne eine über ihnen stehende herrschende Klasse, Schicht, Clique etc. Und herausgekommen war ein totalitärer Versorgungsstaat auf unterstem Niveau, der nicht einmal dieses unterste Niveau gewährleisten konnte, und der Menschen mit abweichenden Meinungen fertig machte. Bis hin zum Massenmord.

Als ich im Laufe der Jahre 1982/83 von meinem subjektiven Selbstverständnis her nach und nach aufhörte Marxist und Sozialist zu sein, war der Grund dafür, dass ich erkannt hatte, dass eine Gesellschaft, wie Marx und Engels sie sich vorstellten, nicht realisierbar ist. Eine solche Gesellschaft scheitert an der Natur des Menschen.

Ich habe keine Karriere gemacht. (Im Gegensatz zu manch anderem ehemaligen westdeutschen Kommunisten nach dem Zusammenbruch des »Realen Sozialismus«.) Posten und hohe Gehälter spielten in meiner Bedürfnisstruktur immer eine untergeordnete Rolle.

Ich habe in einem viel stärkeren Maße an den Idealen meiner Jugendzeit festgehalten als viele von denen, die mich Ende der 70er Jahre als Verräter betrachteten. Ich habe nicht meinen Frieden mit dem Kapitalismus gemacht, ich habe mich bis heute nicht mit einer Welt abgefunden, in der täglich zig tausende Kinder verhungern und an vermeidbaren bzw. heilbaren Krankheiten sterben, während andere Menschen im Luxus leben. Was Marx und Engels unter Kommunismus verstanden, das ist nach meinen Wertvorstellungen die beste menschliche Gesellschaft, die denkbar ist. Leider ist so etwas mit Menschen nicht realisierbar. Ich habe inzwischen andere Konzepte entwickelt, mit denen man eventuell über die ungerechten und menschenbedrohenden Verhältnissen hinausgelangen kann. »Eventuell« sage ich, weil ich kein Dogmatiker bin und in Erwägung ziehe, dass ich mich täusche. (Näheres weiter hinten.)

Das erste Buch, das ich nach meinem Austritt aus der SDAJ las, war von Wolfgang Leonhard Die Revolution entlässt ihre Kinder. [60] Auf dem lag ein ganz schwerer Bannfluch, den ich auch in der Zeit meiner Wegentwicklung von DKP-Positionen noch nicht überwunden hatte. Jetzt musste ich so etwas abschütteln. In diesem Buch erfuhr ich dann vieles über die Sowjetunion und die Frühzeit der DDR (bevor es sie überhaupt gab.) Mir wurde auch allmählich klar, dass ich kein Einzelfall war. Ganz im Gegenteil. Es gab erheblich mehr Menschen, die sich irgendwann mal von der kommunistischen Bewegung trennten, als solche, die ihr Leben lang dort drin blieben.

Ich war später in vielen anderen Organisationen, hatte Verbindung zu vielen anderen Menschen. Aber die Bedeutung, die die SDAJ in meinem Leben hatte, diese Bedeutung hat nie wieder eine andere Organisation, ein anderer Freundes- und Bekanntenkreis erreicht. Ich habe später mal beruflich mit Alzheimerkranken zu tun gehabt. Die Zeit zwischen 18 und 26 wird am längsten erinnert. Selbst wenn alles andere schon zu großen Teilen weg ist. Die Zeit davor ist sehr wichtig, für die allgemeine aber unbewusste psychische Struktur eines Menschen, aber die Zeit zwischen 18 und 26 ist die Zeit, wo man begonnen hatte, ein bewusst am gesellschaftlichen Leben teilnehmender Mensch zu sein. Diese Zeit bleibt für die meisten Menschen – soweit es das bewusste Erleben anbetrifft – die wichtigste Zeit ihres Lebens.

Viele meiner damaligen Genossen haben sich in den 80er Jahren erst sehr langsam, später dann nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus zum Teil auch sehr schnell von kommunistischen, besonders stalinistischen Vorstellungen getrennt. Und ich stelle mich heute nicht hin und sage in deren Richtung: »Ätsch, ich habe es vor euch gemerkt.« Die größten Fehler meines Lebens habe ich in den 80er Jahren gemacht, als ich schon lange nicht mehr in der SDAJ war. Ich habe keinen Grund mich aufs hohe Ross zu setzen. Das wäre nicht ehrlich, auch mir selbst gegenüber nicht. Für mich ist nicht wichtig, was jemand vor zwanzig Jahren gemacht oder geglaubt hat, sondern was er heute macht und in wie weit er mit seiner eigenen Geschichte kritisch umgeht. (Einfach nur »Schwamm drüber« ist mir nicht genug.) Es sind neue Fronten entstanden. Das Sowjetsystem gibt es in Europa nicht mehr. Mir geht es heute kurz- und mittelfristig um die Verteidigung des Sozialstaates. (Langfristig geht es mir allerdings um die Selbstevolution des Menschen.)


Abschließend zur 3. Phase meines Lebens möchte ich sagen: Es war eine positive Phase. Ich war im Großen und Ganze betrachtet glücklich und ich entwickelte mich in die richtige Richtung. Ich war zwar manchmal traurig, weil ich keine schöne Freundin bekam, aber ich verschob das in die Zukunft und dadurch erzeugte dies bei mir zu dieser Zeit keine großen und anhaltenden Unglücksgefühle. Ich hatte nie zuvor und nie danach in meinem Leben einen so großen Freundes- und Bekanntenkreis.

Mit meinem heutigen Wissen und meinem heutigen allgemeinen Niveau würde ich natürlich niemals in die SDAJ eintreten. Aber woher hätte ich damals dieses Wissen und dieses Niveau haben sollen?

Mancher meiner damaligen Genossen, der aus einer gutsituierten und gutgebildeten Bürgerfamilie stammte, ärgert sich heute wahrscheinlich über die Zeit, die er damals verschwendet hat. Immerhin war es eine Zeit, in der das individuelle Leistungsvermögen mehr oder weniger seinen Höhepunkt hat und wo viele Menschen die Grundlagen ihrer Karriere, ihres Vermögens, ihrer familiäre Beziehungen etc. legen.

Ich habe damals nicht meine Zeit verschwendet. Für mich hatte meine SDAJ-Mitgliedschaft in der ersten Hälfte der 70er Jahre viele Vorteile: Die SDAJ war mein Familienersatz. Dort fand ich einen Halt. Mit meinem sozialen Umfeld davor hätte ich Kleinkrimineller werden können. Mit meinen damaligen politischen Auffassungen hätte ich Anarchist und in schwere Straftaten verwickelt werden können. Und meine Weiterbildung und späteres Studium hätte es ohne den intellektuellen Bekanntenkreis, den ich durch die SDAJ bekam, wahrscheinlich nicht gegeben.

Später habe ich mir allerdings auch manchmal gesagt: Hätte ich die Zeit, die ich für die SDAJ und das Startloch (und später noch für die Grünen) umsonst gearbeitet habe, für Geld gearbeitet und dieses Geld angelegt, dann besäße ich heute ein kleines Vermögen. Aber eine Welt, in der keiner mehr etwas ehrenamtlich tut, jeder nur noch auf seinen finanziellen Vorteil aus ist, wäre mir noch unsympathischer, als mir die heutige Welt sowieso schon ist.

In der ersten Hälfte der 70er Jahre wurde ich im Schneckentempo klüger. Viel, viel, viel zu langsam! Von der Basis meiner heutigen Ansprüche aus betrachtet mit katastrophaler Langsamkeit. (Vergleichbar mit der Evolution. Die läuft auch extrem langsam, solange kein bewusstes, vernünftiges Subjekt ein Ziel ansteuert.)

Wie ich heute weiß mussten im Verlaufe dieses Klügerwerdens – was auch immer für konkrete Ereignisse sich ergaben – mit Notwendigkeit zwei Erkenntnisse früher oder später in aller Deutlichkeit in mir entstehen:

Erstens musste mir irgendwann mal klar werden, dass das, was in Osteuropa an gesellschaftlichen Verhältnissen bestand, mit meinen Vorstellungen von einer besseren Welt überhaupt nichts zu tun hatte. Der Kommunismus war im Osten ein abstraktes Fernziel. »Später mal, wenn der internationale Klassenkampf erfolgreich beendet ist und die Produktivkräfte sprudeln, dann, ja dann werden wir ...« Aber hier und heute, oder dort und damals, machte man überhaupt nichts um der Gleichheit, der bedingungslosen gegenseitigen Hilfe etc. näher zu kommen.

Zweitens musste mir irgendwann klar werden, dass der ganze Kommunismus eine Illusion ist, die auf einem falschen, viel zu optimistischen Menschenbild beruhte. [61]

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11. Kapitel
HWP

Zum Sommersemester (SS) 1976 begann ich an der HWP zu studieren. (34. Lehrgang.) Ich war 24 Jahre alt. Ich bekam BAföG, aber nicht den Höchstsatz. Ich musste Verdienstbescheinigungen meiner Eltern vorlegen. Mein Vater war über der Freibetragsgrenze die ungefähr in der Höhe des Sozialhilfesatzes lag (Lebensunterhalt plus Wohngeld) und sollte während meiner HWP-Zeit zwischen 100 und 200 DM an mich zahlen. Ich habe ihm das Geld aber nie abgenommen und statt dessen neben dem Studium gejobbt. (Ich bekam zeitweilig gerade mal ca. 350 DM. Das war selbst für ein sehr bescheidenes Leben zu wenig. Davon musste nämlich auch die Miete und die Krankenkasse bezahlt werden.) Mein Vater hat mich von sich aus auch nie finanziell unterstützt. Dass ein Mensch Mitte 20 anfängt zu studieren, statt wie er zu arbeiten, das war in seine geistige Welt nicht unterzubringen. (Er hatte zwischenzeitlich seinen Alkoholismus überwunden und arbeitete als Lagerarbeiter beim Lebensmittelgroßhändler METRO.)

Die ersten zwei Semester gab es Grundkurse in Soziologie, BWL, VWL und Recht. Dazu Geschichte, Mathematik, Buchhaltung, Deutsch und Englisch. (Der Englischkurs inkl. zweier Intensivkurse von je vier Wochen hatte wenig gebracht. Die anderen Teilnehmer verfügten im Gegensatz zu mir schon über einen großen Wortschatz und mussten nur ihre Grammatikkenntnisse auffrischen. Wenn weitgehend Englisch geredet wurde, verstand ich noch nicht viel. Danach besuchte ich Englischkurse an der Volkshochschule.)

Ab dem 3. Semester (SS 1977) begannen die Fachkurse. Ich entschied mich für den Schwerpunkt Soziologie, musste aber auch in BWL, VWL und Recht mindestens zwei Kurse mit Erfolg absolvieren.

In BWL belegte ich Marketing (ich schrieb eine Seminararbeit über Werbepsychologie), Werbung und Marktforschung, Bilanzen; in VWL Marxistische Wirtschaftstheorie und Theorien der Wirtschaftsordnungen; in Recht Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht.

Die meisten Kurse belegte ich in Soziologie: Statistik, Sozialpsychologie, Sozialisation und Erziehung, Politische Soziologie, Politische Geschichte, Geschichte der politischen Ideen, Wissenschafts- und Bildungssoziologie, Sozialpolitik, Soziologie sozialer Probleme.

Bei vielen Kursen kann ich mich an Einzelheiten heute nicht mehr erinnern. Ich weiß von vielem nur noch durch meine Tagebucheintragungen und Studienbescheinigungen. Ca. die Hälfte der Kurse wurde mit Klausuren, die andere Hälfte mit Hausarbeiten abgeschlossen.

Ich erinnere aber noch gut das Praktikum in politischer Soziologie, in dem wir uns mit Marxistischer Staatstheorie beschäftigten. Wir führten theoretische Debatten. Was das mit einem Praktikum zu tun hatte, weiß keiner. Als Seminararbeit schrieb ich einen Text, in dem ich die Auffassungen von Marx und Engels über den Staat verglich mit der Staatsrealität in Osteuropa.

Zuerst zeigte ich auf, wie Marx und Engels den Staat allgemein bewerteten, als ein Produkt der Klassengesellschaft, der seine Notwendigkeit nur der Klassenspaltung verdankte. (Nicht etwa der Verkomplizierung des öffentlichen Lebens.) Der Staat würde in der proletarischen Revolution abgeschafft und durch etwas ersetzt, das nicht mehr Staat genannt werden könne und solle. Dann zeigte ich auf, wie Marx und Engels sich die öffentliche Gewalt in der nachrevolutionären Gesellschaft vorgestellt hatten und verglich diese Auffassungen mit den unbestreitbaren Staatsrealitäten im Realen Sozialismus. Das Ergebnis war, dass beides nichts miteinander zu tun hatte!

Vieles, was ich in dieser Arbeit schrieb, hatte ich von Rudolf Bahro, dessen Buch Die Alternative ich kurz davor gelesen hatte. Ich besaß zu dieser Zeit allerdings schon die meisten der »Blauen Bände« (Marx-Engels-Werke – MEW, insgesamt 39 Bände) und hatte schon begonnen Marx und Engels im Original zu lesen. (Die meisten SDAJler kannten nur Zitate von denen.) Besonders im Band 17 waren die staatstheoretischen Schriften im Zusammenhang mit der Bewertung der Pariser Kommune konzentriert.

Der Kurs wurde von Dr. Lars Lambrecht veranstaltet, dessen politische Auffassungen und Interpretation des Marxismus weitgehend mit dem übereinstimmten, was ich von der DKP kannte. Er bestritt allerdings entschieden, DKP-orientiert zu sein. Damals war er wissenschaftlicher Mitarbeiter, später Professor an der HWP. Ihm passten die inhaltlichen Aussagen meiner Arbeit überhaupt nicht und er schrieb mir Kommentare in den Text, die eigentlich nur auf eine Fünf hinauslaufen konnten. Inkonsequenter Weise gab er mir eine Drei. [62]

(Ich erinnere auch noch die sarkastischen, zynischen Kommentare, die Lars L. über Lassalles Tod im Duell abgab. Humanistische Gesinnung drückt sich so nicht aus. Die Art, wie er darüber redete, erinnerte mich an die Art, wie im Herbst 1975 in Biesdorf ein Funktionär aus dem FDJ-Zentralrat über Biermann und Havemann geredet hatte.)

Ich beantragte daraufhin eine Nachzensierung durch einen anderen Dozenten. Das Los fiel auf Dr. Wulf Hund, der sich in seinen politischen Auffassungen und seiner Interpretation des Marxismus nicht sonderlich von Lars L. unterschied. Er schrieb mir zwar keine abfälligen Kommentare in den Text hinein, gab mir aber eine Vier. Aus beiden Noten wurde der Durchschnitt genommen. So bekam ich für die Arbeit eine 3,5. Eine solche Note war an der HWP, besonders im Fachbereich Soziologie, die absolute Ausnahme. Normalerweise waren gerade Dozenten mit den politischen Auffassungen wie Lambrecht und Hund bei der Vergabe guter Zensuren sehr großzügig, um das mal sehr vorsichtig auszudrücken. Dr. H. gab mir für eine Klausurarbeit in Geschichte der politischen Ideen eine Eins. (Das war aber, bevor er meine Arbeit zur Marxistischen Staatstheorie kennen lernte.) Und diese Klausurarbeit hatte bei weitem nicht die Qualität wie meine Arbeit über Marxistische Staatstheorie.

Es war Aufgabe der Lehrer, den Studenten Zensuren zu geben, aber nicht, sie politisch zu zensieren. Aber genauso empfand ich es. Das Praktikum Politische Soziologie zählte bei der Endabrechnung, bei der Erstellung des Abgangszeugnisses und der Gesamtzensur aus mir nicht mehr bekannten Gründen doppelt. Deshalb habe ich in meinem HWP-Abgangszeugnis zweimal die Note 3,5, obwohl die Leistung, die damit benotet wurde, zu dem Besten gehörte, was ich in meiner HWP-Zeit geschrieben habe. [63]

(Als 1989/90 der »Sozialismus« in Osteuropa zusammenbrach, habe ich auch an diese HWP-Dozenten denken müssen. Und ich habe mir gesagt: »Denen gönne ich es!« Das waren Leute, die kamen aus ganz anderen sozialen Verhältnissen als ich. Die hätten es auf Grund ihrer Bildung besser wissen müssen. Denen habe ich es gegönnt, dass »ihr« System den Bach runterging.)

Ich habe seit Anfang der 80er Jahre keinen Kontakt mehr zu diesen Leuten und weiß nicht, was das heute für Menschen sind. Aber wenn jemand an einem solch hoffnungslos anachronistischen marxistischen Magazin wie den Argumenten mitarbeitet, dann sagt das schon einiges aus. Es gibt Menschen, die bleiben ihr Leben lang Katholiken oder religiöse Sektierer, da kann auf naturwissenschaftlichem Gebiet passieren, was will. Und es gibt Menschen, die bleiben eben ihr Leben lang Marxisten, egal was passiert. Da kann der Verlauf der Geschichte noch so sehr dem Marxismus entgegenstehen, da können Ganze sich auf den Marxismus berufende Weltreiche zusammenbrechen, da mögen in von Kommunisten regierten Ländern Millionen Menschen verhungern oder nur durch Lebensmittelhilfe aus der kapitalistischen Welt überleben. Alles das ficht diese standhaften prinzipientreuen Menschen nicht an. In den philolex-Artikeln Dummheit und Dogmatismus habe ich das Wichtigste über solche Leute gesagt.

Im Sommer und Herbst 1979 schrieb ich meine Diplomarbeit. Als »Betreuer« wählte ich mir Dr. Manfred Wetzel. Das war ein nicht-DKP-orientierter Dozent. Solche gab es auch im Fachbereich Soziologie. Mit ihm vereinbarte ich, eine Arbeit über die Entwicklung in der Sowjetunion in den 20er und 30er Jahren zu schreiben. Den Titel gab er vor: Stalinismus – Systembedingte Notwendigkeit oder historisch besondere Konstellation. »Betreuer« habe ich in Anführungszeichen gesetzt, weil es außer zweier kurzer Gespräche und der späteren Zensierung keine Betreuung gab.

Ende 1979 war ich noch stark vom Marxismus und von Rudolf Bahro beeinflusst. Das machte sich in der Diplom-Arbeit bemerkbar. Ich listete am Anfang auf, was Marx und Engels als Voraussetzung für das Gelingen einer proletarischen Revolution angesehen hatten – eine bestimmte Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte, damit verbunden ein vollentwickelter Kapitalismus mit entsprechenden Klassen (sozialen Schichten) und entsprechende Bewusstseinsinhalten bei den allermeisten Menschen – und wie eine sozialistische und kommunistische Gesellschaft nach ihren Vorstellungen in den allgemeinen Grundzügen aussehen sollte. Und ich stellte fest, dass diese Voraussetzungen in Russland nicht vorhanden waren, und dass das sowjetische System mit den Auffassungen von Marx und Engels über den Sozialismus und Kommunismus nichts zu tun hat. (Zu dem Teil der Diplom-Arbeit stehe ich heute noch.)

Dann schrieb ich einiges über die »asiatische Produktionsweise«, die im orthodoxen Marxismus-Leninismus vernachlässigt wurde, zeigte einige Grundstrukturen des zaristischen Russlands auf und verwies auf Ähnlichkeiten zwischen der asiatischen Produktionsweise und den ökonomischen Verhältnissen im zaristischen Russland. Dann habe ich orientiert am Geschichtsdeterminismus Bahros die These vertreten, dass die bolschewistische Machtergreifung nur zu einem System wie dem sowjetischen führen konnte, dass Länder ohne kapitalistische Phase notwendigerweise durch die »Industrielle Despotie« hindurch müssen auf dem Weg zum Kommunismus. (Zu diesem Teil der Diplom-Arbeit stehe ich heute nicht mehr!)

Dann habe ich Grundstrukturen des Leninismus dargestellt und anhand der konkreten Ereignisse in der Sowjetunion in den 20er und 30er Jahre aufgezeigt, dass die sowjetischen Kommunisten auf Grund realer Zwänge überhaupt nicht durchführen konnten, was sie durchführen wollten. [64]

Der Kommentar von Dr. W. hat mich gelinde gesagt etwas verwundert. Er schrieb, ich hätte in meiner Arbeit die Auffassung vertreten, dass der Stalinismus zwar nicht das notwendige aber das wahrscheinliche Resultat der objektiven Entwicklungsbedingungen war. Tatsächlich hatte ich aber den bahroschen Determinismus vertreten. Für die Arbeit gab er mir eine zwei.

Eine mündliche Abschlussprüfung gab es nicht. Man hätte seine Arbeit theoretisch von jemand anders schreiben lassen können. Aufgefallen wäre das nicht. [65] Das fand ich schade. Ich hätte gerne meine Arbeit mündlich verteidigt. Das hätte in meinem Selbstverständnis das Diplom aufgewertet.

Im Zusammenhang mit der Diplomarbeit las ich u. a. den Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn. In den drei Bänden erfuhr ich noch umfassender als bei Elleinstein, was in der Sowjetunion zu Stalins Lebzeiten abgelaufen war. Dann hatte ich eine ganz kurze trotzkistische Phase, die aber nur einige Wochen andauerte. Sie begann, als ich Trotzkis Buch Verratene Revolution las und endete, als mir im Laufe des Lesens der dreibändigen Trotzki-Biographie von Isaak Deutscher klar wurde, dass Trotzki als zweitwichtigster Mann nach Lenin während und nach der Oktoberrevolution die undemokratische Machtergreifung und alles darauf folgende Elend entscheidend mit zu verantworten hatte. Trotzki hatte auch das spätere stalinsche System schon zu Beginn der 20er Jahre theoretisch vorweggenommen, als Lenin auf die NÖP setzte. [66]

Ende 1979 war ich Diplom-Sozialwirt. Ich war 27 Jahre alt. Gemessen daran, dass ich zwölf Jahre vorher aus der Volksschule entlassen worden war, ohne das Ziel der 8. Klasse erreicht zu haben, ist das so schlecht ja nicht. Das HWP-Diplom ist rechtlich dem Universitäts-Diplom gleichgestellt.

Mit dem HWP-Abschluss hatte ich außer dem Diplom auch die Berechtigung erworben, an der Universität zu studieren. So schrieb ich mich sofort zum WS 79/80 an der Universität Hamburg ein für die Fächer Philosophie, Sozialkunde/ Politik und Erziehungswissenschaft. Das Studienziel war Gymnasiallehrer.


Seit Januar 1977 wohnte ich am Berliner Tor im Studenten-Wohnheim »Gustav-Radbruch-Haus« (Wir sagte auch »Gustav Scheißhaus«.) Ein »Studentensilo« mit ca. 500 Studenten auf 14 Etagen. (Wo häufig die Fahrstühle kaputt waren.) Dort wohnte ich dreieinhalb Jahre bis zum Sommer 1980, als ich für drei Monate nach London fuhr. Ich habe in späteren Zeiten oft an dieses Haus, an mein dortiges kleines Zimmer gedacht. Ich habe oft nachts davon geträumt, dass ich wieder dort wäre, dass ich mein Zimmer dort noch hätte. (Ähnlich wie von meiner Tankstelle.)

Im März 1978 ließ ich im Bundeswehrkrankenhaus Hamburg Wandsbek eine Schiel-Operation durchführen. Gesagt hatte ich dies niemanden. Ganz grade sind die Augen dadurch nicht geworden aber es gab eine leichte kosmetische Verbesserung. Später ist das Auge wieder stärker nach innen gewandert. (Der Professor, der mich operierte, hatte mir in der Vorbesprechung bereits gesagt, dass das Auge eventuell wieder nach innen oder sogar nach außen wandern kann. »Wir haben hier Schauspieler schon zehn Mal operiert, bis es grade war.« So oft wollte ich es nicht machen lassen.)

Dann besorgte ich mir Kontaktlinsen mit Iris-Struktur, um die Unfallfolgen auf dem linken Auge zu überdecken und beide Augen gleich aussehen zu lassen. Der Nachteil bei diesen großen Weichlinsen war, dass ich mit ihnen bei weitem nicht zu gut sehen konnte. Die Linse auf dem linken Auge verrutschte so stark, dass ich Straßenschilder nicht mehr erkennen konnte. Deshalb trug ich diese Linsen immer nur zu ganz bestimmten Anlässen. Z. B. auf Partys, in der Hoffnung vielleicht ein Mädchen erfolgreich für mich zu gewinnen. (»Flirten« wäre bei mir der falsche Ausdruck. Flirten konnte ich nie. Trotz aller Anstrengungen habe ich es auch nie gelernt.) Was aber langfristig viel schlimmer an den Weichlinsen war und was ich erst Jahre später erfuhr, es wuchsen Blutgefäße in die an sich durchsichtige Hornhaut. Die Weichlinsen sind nicht sauerstoffdurchlässig. Deshalb passiert das. 1986/87 habe ich die Weichlinsen wieder abgeschafft.

Ende meiner 20er Jahre begann ich Gewichtsprobleme zu bekommen. War ich in meiner Kindheit und Jugendzeit untergewichtig, so bekam ich jetzt einen nicht zu übersehenden Bauch. Das viele Sitzen und Liegen bei gleichzeitig reichlichem Essen. (Ich esse gern. Essen ist länger.) Ab jetzt kamen die Körnerkuren [67], sonstige Diäten und der bekannte Jo-Jo-Effekt. (Es gab bei mir Schwankungen zwischen 65 und 85 Kilo. Bei einer Körpergröße von 172 cm. Als ich Ende 2004 diesen Text ins Internet stellte, wog ich um die 70 Kilo.)

Mein Magen knurrt hin und wieder. Das machen Hunde auch. Deshalb muss man sie aber nicht gleich füttern. (Mein eigener Aphorismus.)


In den Sommerferien 1978 war ich drei Wochen in London, in den Sommerferien 1980 fast drei Monate. Ich ging täglich eine Doppelstunde zur Schule. Ich musste selbst bezahlen und konnte mir mehr nicht leisten. Dann las ich englische Zeitungen, sah englisches Fernsehen und sprach mit anderen Bewohnern des »Students Hostel« in Islington, wo ich die meiste Zeit wohnte. Viele meiner Gesprächspartner waren Deutsche. Wir sprachen aber nur Englisch. (Es gab dort auch einige Australier, die so schwer verständlich waren, wie jemand aus dem bayerischen Wald – für Menschen, die nicht aus dem bayerischen Wald kommen.) [68]

Das erste Buch, das ich auf Englisch las, war Conjectures and Refutations. (Vermutungen und Widerlegungen) Eine Aufsatzsammlung von Karl Popper. Das Buch gab es damals noch nicht auf Deutsch. Lediglich einzelne Aufsätze daraus. Ich war bereits zwei Jahren zur Volkshochschule gegangen und hatte mit Unterstützung von Bekannten englische Songtexte übersetzt. (Beatles, Rolling Stones, Simon und Garfunkel, Bob Dylan u. w. Und da ich die Musik dieser Gruppen, bzw. Sänger oft hörte, prägten sich die Vokabeln gut ein.) Ich hatte deshalb inzwischen einen gewissen Wortschatz. Beim Lesen der Popper-Aufsätze musste ich pro Seite zwei bis drei Wörter übersetzen. Ich las gern Asterix und Peanuts auf Englisch. Und Andy Cap. Damals wurde mir erst das Wortspiel bei seinem Namen bewusst. Ins Deutsche kriegt man das nicht rüber. Da heißt er Willy Wacker. (Einer meiner Lieblingssprüche von ihm: »Hauptsache der Mann ist gesund und die Frau hat Arbeit.«)

Ich erfuhr auch zum ersten Mal, dass der Name des Philosophen Immanuel Kant für englisch sprechende Menschen einen sehr ordinären Klang hat. Es ist so als würde ein englischer Philosoph »John Fotze« heißen. In meinem »Oxford Dictionary«, dass ich mir in London kaufte, war hinter dem Wort »Cunt« ein Warnzeichen. »Spoken taboo!« Immerhin. Es gibt Wörterbücher, da werden solche Wörter gar nicht erwähnt, obwohl sie massenhaft in Gebrauch sind. (Schriftlich auch in pornographischen Kurzgeschichten, die ich auch des Öfteren auf Englisch lese. Besonders seit es das Internet gibt.)

Ich war natürlich auch viel in der Stadt unterwegs, sah mir die wichtigsten Gebäude an, besuchte alle möglichen Museen, auch das Britische, besichtigte den großen Kuppel-Saal, in dem ca. einhundert Jahre früher Marx seine ökonomischen Studien betrieben hatte, besuchte selbstverständlich auch das Grab von Karl Marx auf dem Highgate-Friedhof, fuhr nach Greenwich, zum Null-Meridian etc.

In den Außenbezirken der Stadt in schmalen Straßen und auf kleine Plätzen, mit kleinen Läden und spielenden Kindern, verspürte ich die Atmosphäre von Penny Lane, einem meiner Lieblingssongs der Beatles. Im Sommer 1980 war The winner takes it all von ABBA in den Hitparaden und wurde ständig an allen möglichen Orten abgedudelt. Einer meiner Lieblingssongs meiner Lieblingsgruppe. Was aber bitte nicht so verstanden werden soll, dass ich mich zu den Gewinnern zählte. Zu den Gewinnern habe ich mich nie gezählt. [69]

Besonders wohl gefühlt habe ich mich auf beiden Englandreisen nicht. Es ist mir schon immer schwer gefallen unter fremden Mensch Kontakte zu knüpfen, nicht nur zu Frauen. Auf beiden Reisen fühlte ich mich nach einer gewissen Zeit ziemlich einsam und war froh, wieder nach Hause zu kommen.


Nach meinem Austritt aus der SDAJ, eigentlich aber schon seit meiner Rückkehr aus Biesdorf, begann ich zu vereinsamen. Zu meinen Freunden und Bekannten von vor 1970 konnte ich natürlich nicht zurück. Von denen trennten mich inzwischen Welten. Und von meinen religiös-fanatischen Verwandten auch.

Ein Beispiel: Anfang der 80er Jahre erlebte ich auf einer Familienfeier, wie sich meine Mutter und meine älteste Schwester darüber unterhielten, dass während der großem Trübsal der Teufel tausend Jahre festgebunden wird. (So steht es in der Offenbarung. 20:2 des Machwerks.) Ich sah den Freund meiner Schwester an, der verlegen wegblickte [70], dann sah ich unwillkürlich auf meine Uhr und fragte: »Sag mal, welches Jahrhundert haben wir eigentlich?«

Zu dieser Zeit hätte ich mich streiten mögen und können, mit Menschen, die einer anderen philosophischen oder politischen Grundrichtung angehörten als ich. Aber was sollte ich zu einer Zeit, als ich Marx, Hegel, Kant, Schopenhauer, Popper etc. aber auch Kopernikus, Darwin, Einstein, Planck, Schrödinger etc. und deren Theorien näher kennen lernte, mit Leuten anfangen, die allen Ernstes davon ausgingen, dass irgendwann einmal ein Teufel tausend Jahre lang festgebunden wird? [71]

Mein ehemaliger Patenonkel Horst, ein dumm-fanatischer Christ, erzählte meiner Mutter, ich wäre gar kein Student, sondern ich würde herumgammeln. Sie solle sich von mir nicht für dumm verkaufen lassen. Ich war so blöd, ihm Kopien meiner Studienbescheinigungen zu schicken. Heute sage ich mir, es wäre besser gewesen, ihn in seinem dummerhaftigen Irrtum zu belassen. Das ist nur ein weiteres Indiz dafür, mit was für einer Verwandtschaft ich gestraft war. [72]

Nach meiner Rückkehr aus London im Herbst 1980 zog ich in die Rappstraße, ca. einhundert Meter entfernt von den Universitäts-Gebäuden, in denen ich viel zu tun hatte. (»Pferdestall« – so hieß das Gebäude, wo das Institut für Politologie untergebracht war – und »Philturm« – so hieß das Hochhaus, in dem u. a. der Institut für Philosophie untergebracht war.) Dort wohnte ich bis zum Herbst 1983.

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12. Kapitel
Die Grünen

Nach meinem Austritt aus der SDAJ suchte ich eine neue politische Heimat. Das erste, wo ich mich hinwandte, war die Hochschulgruppe des »Sozialistischen Büros«. Das kennt heute wohl fast keiner mehr. Ich weiß selbst nicht mehr, was die eigentlich für Positionen hatten. Irgendwo zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie. Mit diesen Leuten war aber leider absolut nichts los. Ganz schwache theoretische Diskussionen. Absolut keine Praxis.

Ich war Gründungsmitglied der Grünen in Hamburg. Bei den aller ersten Vorbereitungstreffen im Herbst 1979 war ich dabei, noch bevor die »Gruppe Z« den Landesverband Hamburg übernahm.

Die »Gruppe Z«, das waren einige hundert, vielleicht auch nur 100 Leute (das weiß ich nicht so genau), die aus dem KB kamen. KB = Kommunistischer Bund. Bundesweit wurde er »KB Nord« genannt, da er in Norddeutschland, speziell in Hamburg seine Hochburg hatte. Das war eine ehemals maoistische Vereinigung, deren Mitglieder nach der Annäherung Maos an die USA zu großen Teilen zu heimat- und orientierungslosen Linksradikalen geworden waren. Einige von ihnen gingen Ende 79 / Anfang 80 zu den Grünen und übernahmen sofort den Landesverband Hamburg. Die anderen Grünen kamen aus allen möglichen Richtungen (u. a. Anthroposophen, mit denen ich zum ersten Mal in meinem Leben in Kontakt kam), waren zu einem Großteil unerfahren in Organisationsarbeit und hatten einer solchen Gruppe nichts entgegenzusetzen. Wahrscheinlich kamen aus dieser Gruppe weit mehr als 10% der Mitglieder in Hamburg, aber selbst mit 10% der Mitglieder hätte diese Gruppe absolut dominiert. Leute wie Thomas Ebermann, Rainer Trampert und Jürgen Reents, die in den 80er Jahren bei den Grünen auch bundesweit eine Rolle spielten, kamen aus dieser Gruppe. Von nun an erinnerte vieles auf den Parteitreffen an die DKP. (Jürgen Trittin gehörte auch zur »Gruppe Z«. Hat sich aber im Gegensatz zu vielen anderen Angehörigen dieser Gruppe stark davon weg entwickelt.)

Ich traf dort sogar einige ehemalige SDAJler wieder, die einige Jahre vorher von der SDAJ zum KB gewechselt waren. U. a. Raimund W., meinen ehemaligen Gruppenleiter aus Wandsbek, der mich 1970 bezüglich der Anreise zu den Rostock-Wochen falsch informiert hatte. In der SDAJ hieß es, er sei ein Verfassungsschutzagent. Das würde manches erklären. Aber Vorsicht ist geboten. Ich weiß ja aus meinem eigenen Fall, was die SDAJ an hanebüchenen Unsinn über Abtrünnige verbreitete. (Bei unserem ersten Zusammentreffen schien er mich mit einem anderen zu verwechseln, denn er fragte mich nach mir. »Seit wann bist du den aus der DKP raus? Sag mal, was ist eigentlich aus diesem Peter Möller geworden?«)

Als die Dominanz der Z-Gruppe offensichtlich wurde, gab es natürlich bei vielen Grünen ein Unbehagen darüber, aber die »Nicht-Zler«, die die Mehrheit der Mitglieder stellten, konnte sich nicht von dieser Dominanz freimachen, die faktisch bis zum Ende der 80er Jahre andauerte. Seit Sommer 1980 trafen sich mehrfach bis zu 30 Hamburger Grüne, die sich bald »Autonome Grüne Hamburgs« nannten und die Dominanz der Z-Gruppe beseitigen wollten. Zu einem wirklich offensiven Vorgehen waren sie aber nicht bereit und in organisatorischen Fragen dermaßen blauäugig, dass sie keine Chance hatten. Ich habe anfänglich an der Gruppe teilgenommen und wurde sogar von mehreren Leute als Gegenkandidat zu Corny Littmann auf dem Platz 1 der Landesliste der Hamburger Grünen ins Gespräch gebracht. Nun hätte ich gegen Corny L. keine Chance gehabt, da dieser von der Z-Gruppe gestützt wurde und die Grünen hatte 1980 auch noch keine Chance in den Bundestag zu kommen. Aber es zeigt, was andere Menschen mir zutrauten. Ich habe mich Ende April 1981 aus dieser Gruppe zurückgezogen, da ihre Erfolglosigkeit für mich offensichtlich war und ich es auch nervlich nicht mehr durchstand. Zu der Zeit wurde ich auch immer häufiger krank. Ich habe mich zu oft über alle Maßen aufgeregt und bei vergeblichen Versuchen, die Sache etwas effektiver zu gestalten, aggressiv reagiert. Die weitere Entwicklung hatte mir zwar recht gegeben, aber was nützte mir das? (Corny L. gehörte meines Wissens nicht zur Z-Gruppe und als die Grünen 1983 die reale Chance hatten, in den Bundestag zu kommen, da hat die Z-Gruppe schon dafür gesorgt, dass ihre Leute an der Spitze der Liste standen.)

Die Hamburger Grünen waren eine Hochburg der »Fundis« (Fundamentalisten), lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Die »Realos« (Realisten) hatten dort keine Chance. Ich war zu dieser Zeit kein Realo. Ich hatte zwar die K-Gruppen-Sektiererei hinter mir gelassen, aber ich war überzeugter Bahro-Anhänger. Im ersten Parteiprogramm der Grünen stand noch, dass die Großbetriebe in überschaubare Einheiten entflochten und von den dort Arbeitenden selbst verwaltet werden sollten. Und ich stellte den Antrag, dass auch die Überwindung der Arbeitsteilung ins Programm der Grünen aufgenommen werden sollte. Dies war eine urmarxistische Forderung, die im Sowjetmarxismus stillschweigend fallengelassen worden war und die Bahro wieder ausgegraben hatte. Bei Marx gab es ohne Überwindung der Arbeitsteilung, besonders der zwischen Hand- und Kopfarbeit, keinen Kommunismus. Und zu der Zeit wollte ich noch immer den »wirklichen« Kommunismus, nicht das, was man im Osten daraus gemacht hatte. Ich hatte es selbst vom Hilfsarbeiter zum Hochschulabsolventen gebracht und damals glaubte ich noch, dass das jeder kann. Die Natur des Menschen (und damit auch die natürliche Ungleichheit der Menschen, die es neben der gesellschaftlich erzeugten Ungleichheit auch gibt) hatte ich noch nicht im Blick.

In meinem Tagebuch habe ich einen Parteigruppenabend der Grünen Hamburg-Mitte von Anfang 1980 protokolliert und einen von mir dort gehaltenen Diskussionsbeitrag, der unter dem Motto stand: »Das beste Radioprogramm bleibt ohne jede Wirkung, wenn es auf einer Frequenz ausgestrahlt wird, für die niemand einen Empfänger hat.« Darin kritisierte ich die K-Gruppen-Mentalität und versuchte den anwesenden Z-Leuten klarzumachen, dass es keinen Wert hat, richtige Forderungen zu stellen, wenn sie mit dem Bewusstseinsstand der Massen nicht in Übereinstimmung stehen, dass man sein allgemeines Auftreten in Übereinstimmung bringen muss mit dem Entwicklungsstand der Menschen. Ich hatte aber keinen Erfolg. Heute weiß ich, dass man mit der Forderung nach Überwindung der Arbeitsteilung auch nicht gerade die Massen begeistern konnte.

Auf meine Initiative hin wurde im Sommer 1980 die grüne Hochschulgruppe an der Universität Hamburg gegründet. Nach ca. einem Jahr zog ich mich völlig aus ihr zurück, da sie mit linken Splittergruppen zusammenarbeitete, was für mich mit Erfolglosigkeit verbunden war. »Vor so etwas braucht der AStA keine Angst zu haben.« Das war das letzte, was ich dort gesagt habe. Und es hat gestimmt. Ich vertrat die Auffassung, wir sollten eine Zusammenarbeit mit den Jusos anstreben, statt mit Anarchisten und anderen Spontis, konnte mich aber leider nicht durchsetzen. Kurz nach meinem Ausstieg hörte die Gruppe dann auf zu existieren.

Interessant ist, dass auch ein mehr oder weniger offener Sympathisant des MSB-Spartakus in der Grünen Hochschulgruppe mitarbeite, der sich ebenfalls für die Zusammenarbeit mit den Anarchos einsetzte. Der MSB wusste, dass eine solche Zusammenarbeit die Gefahr beseitigen würde, dass die Jusos eine Alternative zur Zusammenarbeit mit dem MSB bekämen. Ich wurde in der Zeit auch von Lars B., einem der wenigen SDAJler, die mich meistens noch grüßten, wenn sie mich trafen, aufgefordert, auf einem Pressefest der DKP einen Stand zu machen. Das war aber nur ein für die DKP typischer Vereinnahmungsversuch, weshalb ich mich dagegen aussprach. [73]

In dem Zusammenhang meines Ausstiegs aus der grünen Hochschulgruppe kam es zum Bruch mit Günter Sch., mit dem ich ca. ein Jahr lang zu tun hatte. [74] Das einzige Positive, dass ich heute mit diesem Menschen verbinden kann, ist, dass ich über ihn Hans Joachim Störig und Stanislav Lem kennen lernte. Störig verdanke ich einen großen Teil meiner Grundausbildung in der Geschichte der Philosophie (neben den Rowohlt Bildmonographien) und Lems Romane und Kurzgeschichten haben bei mir den »Naiven Realismus« zerstört [75] (Angeregt durch Lem las ich Anfang der 80er Jahre viele weitere Science Fiktion Romane, von denen ich im Einzelnen nur noch Picknick am Wegesrand und Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang von den Brüdern Strugatzki erinnere. U. a. auch durch das Lesen solcher Romane bedingt, hatte ich zur Technik eine positivere Einstellung als es – damals jedenfalls – bei den Grünen üblich war.)

Inzwischen ist aus den Grünen eine grüne FDP geworden. Ich habe mittlerweile zwar auch viele linke Illusionen abgelegt, nichts desto trotz wäre ich heute in dieser Partei, was die Sozialpolitik anbetrifft, linksaußen, wäre ich dort heute noch organisiert. Die einstigen Fundamentalisten sind Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre aus dieser Partei ausgetreten und selbst Ströbele, den man noch am ehesten als linkes Feigenblatt der Grünen bezeichnen könnte, ist weitgehend für Hartz IV. [76]

1983, bevor die Grünen zum ersten Mal in den Bundestag kamen, wurde noch auf einem Parteitag beschlossen, dass kein Abgeordneter mehr als 1950 DM Einkommen haben soll. Das sind ca. 1000 Euro.

Ich erinnere noch sehr gut die erste Rede, die Otto Schily, der damals noch bei den Grünen war, im Bundestag gehalten hat. Er zeigte auf, was es aus juristischer Sicht bedeutet, wenn sich zwei große Machtblöcke gegenseitig androhen, auf der jeweils anderen Seite im Verlaufe eines Atomschlags einige hundert Millionen Menschen umzubringen. Damals hörte ich mir häufig Bundestagsdebatten an und es war das erste Mal, dass ich mich mit meiner Auffassung da wiederfand.

Wenn damals jemand gesagt hätte, in zwanzig Jahren stellen die Grünen den Außenminister und dann wird Deutschland zum ersten Mal seit 1945 wieder eine aktive Kriegspartei sein, dann hätte das keiner geglaubt. Auch Fischer hätte das damals nicht geglaubt. Und Schily ist inzwischen nicht nur bei der SPD, sondern ein strammer Schrödermann und hat in einigen Fragen der Innen- und Asylpolitik die SPD rechts überholt. [77]

In der ersten Hälfte der 80er Jahre war ich grün. In der zweiten Hälfte entfernte ich mich zunehmend von grünen Positionen, besonders von radikalökologischen. Die Idealisierung der Natur, die einige Leute betreiben, kann ich nicht nachvollziehen. Die Natur ist ein großes Restaurant, in dem jedes Lebewesen sowohl Gast als auch die angebotene Speise ist. Wer die Natur für ein »Paradies« hält, der müsste einen Metzger für einen Engel halten. Als Ende der 70er Jahre die grüne Bewegung entstand, war ich noch nicht selbständig genug, ich schwamm noch in Zeitströmungen mit. Außerdem suchte ich gerade zu der Zeit nach einer neuen politischen Heimat. Erst Mitte der 80er Jahre entwickelte ich in stärkerem Maße die Fähigkeit zu selbständigem Denken und die Fähigkeit notfalls auch gegen den Strom zu schwimmen. Die Probleme wie Artenschwund, Überbevölkerung, Klimawandel etc. sehe ich nach wie vor. Aber ich gebe heute andere Antworten, ich schlage heute andere Lösungen vor als die Grünen. [78]

Damals las ich einige Bücher und diverse Zeitschriftenartikel zu Umweltproblemen, von denen ich nur noch Ein Planet wird geplündert von Herbert Gruhl konkret erinnere. Ich hörte aber damals bereits auch andere Argumente, die mir zunehmend einleuchteten. Ob Ressourcen knapp werden, ist eine Frage konkreter Produktionsverfahren und massenhaften Konsumverhaltens. Jeder materielle Stoff ist potentielle Ressource. Autos kann man nicht nur mit Benzin betreiben, das aus dem in den nächsten Jahrzehnten knapp werdenden Erdöl hergestellt wird (und das bei seiner Verbrennung Umweltprobleme schafft), sondern auch mit Wasserstoff, das aus Wasser hergestellt wird. Es gibt zwar in großen Teilen der Welt ein Trinkwasserproblem. Aber ein Wasserproblem generell gibt es auf unserem Planeten nicht. Und bei der Verbrennung von Wasserstoff entsteht als Abfallprodukt Wasser. [79]

Vieles, was von grüner Seite kommt, hat leider auch den Aspekt der »Maschinenstürmerei«, der diffusen Technikablehnung. [80] Greenpeace ist nicht nur eine Umweltschutzorganisation, die sich z. B. für Wale einsetzt, z. T. ist sie eine reaktionäre Organisation, die vernünftigen wissenschaftlich-technischen Fortschritt verhindern will. Das Aufhalten dieses Fortschritts halte ich weder für wünschenswert noch für machbar. Die Industriegesellschaft oder der Massenwohlstand sind nicht das Problem. Das Problem ist die konkrete Art von Industrie, die konkrete Art der Produktion von Massenwohlstand. Hier ist häufig zu wenig Voraussicht und zu viel kurzfristiges Profitdenken. Nach meiner Auffassung ist materieller Massenwohlstand, auch für die Völker, die daran noch nie Anteil hatten, mit dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen vereinbar. [81]

Durch meine Mitarbeit bei den Grünen lernte ich zum ersten Mal Schwule kennen, bzw. Schwule, die kein Geheimnis daraus machten, dass sie schwul sind. Bis zu diesem Zeitpunkt erzählte ich noch Schwulenwitze und glaubte, Schwule seien irgendetwas abartiges. U. a. lernte ich Corny Littmann kennen, der damals noch nicht so bekannt war wie heute. Ich wohnte damals noch im Gustav-Radbruch-Haus. Dort gab es einen großen Saal, in dem der Landesverband der Hamburger Grünen durch meine Vermittlung Anfang der 80er Jahre viele Treffen abhielt. Einige Mitbewohner hielten mich plötzlich für schwul, weil ich schwule Bekannte hatte. Ich war aber immer hetero. Wäre es anders, gäbe es keine Gründe, es zu verheimlichen.

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13. Kapitel
Universität Hamburg

An die meisten meiner Seminare und Vorlesungen an der Universität Hamburg erinnere ich mich heute nicht mehr. Von ihrer Existenz weiß ich nur noch aus meinen Tagebuchaufzeichnungen und meinen Studienunterlagen. Aber auch Seminare und Vorlesungen (und gelesene Bücher) an die man sich nicht mehr erinnert, haben einem zu dem gemacht, was man ist, was man für Auffassungen, was man an Wissen hat. Belegt hatte ich folgendes:

In Philosophie: Einführung in die Formale Logik 1 und 2 (Pflichtkurse, wurden mit Klausuren abgeschlossen), Latein Grammatik für Anfänger und Fortgeschrittene. (Pflichtkurse) Einführung in die Philosophie, Die Vorsokratiker, Platon Gorgias, Die theoretische Philosophie des Aristoteles, Descartes Meditationen, Die englischen Empiristen (Locke, Berkeley, Hume), Kants Prolegomena, Hegels Rechtsphilosophie, Die Entstehung der marxistischen Theorie, Marx Deutsche Ideologie, Theorie des Leninismus, Bloch Prinzip Hoffnung, Adorno Negative Dialektik, Wittgenstein und der Wiener Kreis.

In Sozialkunde/Politik: Gesamtüberblick Politische Wissenschaften, Probleme der Theorienbildung, Politische Sozialisation, Sowjetsystem und Stalinismus, Die Sowjetunion nach Stalins Tod, Sowjetsozialistische Systeme Osteuropas, Theorie und Praxis sowjetischer Außenpolitik, Konflikte Krisen Kriege seit 1945, Faschismustheorien, Analyse des Internationalen Systems, Ökologie und Ethik, Umweltpolitik, Politologie der Schule, Einführung in die neuere Geschichte.

In Erziehungswissenschaft: Einführung in die Erziehungswissenschaft, Allgemeine Didaktik, Didaktik der Sozialwissenschaften.

Einige Seminare waren so voll, dass sie faktisch Vorlesungen waren. Das erinnere ich besonders von Hegel Rechtsphilosophie, ein Seminar, das von Prof. Schnädelbach veranstaltet wurde. Es nahmen über 100 Leute teil, von denen einige nicht mehr in den Seminarraum passten und vor der Tür auf dem Flur saßen. Gute Studienbedingungen waren das nicht gerade.

Beim Philosophie-Studium habe ich den Fehler gemacht, sofort Seminare über Hauptwerke von den bedeutendsten Philosophen zu belegen, anstatt mich über einfachere Texte an die Philosophie heranzutasten. Heute weiß ich, dass dies der Grund dafür war, dass ich zu Beginn meines Philosophie-Studiums häufig den Eindruck hatte, das falsche Studienfach gewählt zu haben.

Ich habe damals viele Informationen bzw. Kenntnisse über die verschiedenen Philosophen, philosophischen Richtungen und philosophischen Theorien erhalten, aber ich habe diese damals noch nicht verstanden. In der ersten Hälfte der 80er Jahre hatte ich noch nicht das Niveau, um diese verschiedenen Theorien richtig begreifen zu können, sie in meinem Bewusstsein nachvollziehen zu können. Dies setzte einen weiteren qualitativen Sprung in meiner intellektuellen Entwicklung voraus, der irgendwann in der Mitte der 80er Jahre stattfand. Den Unterschied zwischen »Kenntnisse von etwas bekommen« und »etwas in seinem Bewusstsein nachvollziehen können« kann ich in Wörtern (oder Worten) nicht beschreiben. Ich glaube, dass dieser Unterschied auch gar nicht beschreibbar ist. Er ist nur erlebbar. Der einzelne Mensch muss in sich selbst solche qualitativen Sprünge erleben, er muss aus eigenem Erleben die unterschiedlichen Niveaus kennen, um den Unterschied begreifen zu können.


Das Seminar »Konflikte, Krisen, Kriege seit 1945« besuchte ich zweimal, im SS 1982 bei Dr. Istvan Kende, im SS 1983 bei Prof. Gantzel. (Gantzel hatte meines Wissen an der Einladung Kendes entscheidenden Anteil und auch eine gewisse Nähe zu dessen Auffassungen, um das mal sehr vorsichtig auszudrücken.)

Kende war ein Gastprofessor aus Ungarn, der nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 kurzzeitig stellvertretender Erziehungsminister Ungarns war. Damals hatte ich noch das Bedürfnis mich mit Dogmatikern anzulegen – besonders wenn sie aus der Ecke kamen, zu der ich einst selbst gehörte – und ihnen genau das zu sagen, was sie nicht hören wollen. So schrieb ich eine Seminararbeit über den Volksaufstand in Ungarn 1956. In diesem Zusammenhang las ich einige Bücher über diesen Volksaufstand und da wurde mir klar, dass ich von einer der größten Revolutionen des 20. Jahrhunderts bisher fast nichts gewusst hatte.

Im 1. Teil der Arbeit schrieb ich etwas über den allgemeinen Charakter des sowjetischen Systems und der sowjetische Außenpolitik. (Kein Sozialismus, ergo keine sozialistische Außenpolitik.) Im 2. Teil beschrieb ich die Lage Ungarns nach dem 2. Weltkrieg bis zum Ausbruch des Aufstandes. (Die Sowjetisierung, die wirtschaftlichen Missstände, der russische Chauvinismus unter Stalin und der Terror der Geheimpolizei.) Im 3. Teil beschrieb ich den Aufstand selbst. (Entstehung, Verlauf und Niederschlagung.) Im 4. Teil untersuchte ich spezielle Aspekte des Aufstandes. ( U. a. wie die Menschen der verschiedenen sozialen Schichten und die Angehörigen der verschiedenen staatlichen Institutionen auf den Aufstand reagierten, was die Partei tat, was der Westen tat, wie die sowjetischen Führer beschlossen, den Aufstand niederzuschlagen und wie sie die Ungarn bis zum Schluss täuschten.) Im 5. Teil untersuchte ich die Glaubwürdigkeit der verschiedenen Bücher, aus denen ich meine Informationen hatte. Der Grundtenor der Arbeit war: Der Aufstand in Ungarn 1956 war kein (vom Westen unterstützter) faschistischer Putschversuch (der von den ungarischen Arbeitern mit Hilfe der Sowjetarmee niedergeschlagen wurde), sondern ein spontan ausbrechender Aufstand, in dem sich über 90% des ungarischen Volkes (einschließlich der überwältigenden Mehrheit der ungarischen Arbeiter und der ungarischen Kommunisten !) gegen eine unerträgliche Tyrannei wandten.

Kende gab mir keinen Schein für meine Arbeit (d. h. er bestätigte mir nicht die erfolgreiche Teilnahme am Seminar), da ich angeblich die vorhandene Literatur nicht gleichmäßig berücksichtigt hätte. Der wirkliche Grund war, dass ihm meine Grundaussage zum Aufstand nicht passte. Ein Jahr später gab ich eine überarbeitete Fassung mit den gleichen Grundaussagen bei Prof. Gantzel. ab, der mir ebenfalls keinen Schein dafür gab. [82] (Andere Professoren und Dozenten hatten mir angeboten, mir für die Arbeit einen Schein zu geben. Der Gantzel stand mit seiner Auffassung ziemlich allein.)


Ich habe meine drei Texte zur Marxistischen Staatstheorie, zum Stalinismus und zum Ungarnaufstand Anfang der 90er Jahre zu einem Buch zusammengefasst. Ende der 90er Jahre habe ich sie im Internet veröffentlicht unter dem Titel Marxistische Theorie und realsozialistische Praxis. [83]

Häufig ist mir von Lesern, die die Umstände der Entstehung meiner Texte zum Realen Sozialismus nicht kennen, unsachliche, polemische und emotionale Ausdrucksweise vorgeworfen worden, die in Texten mit wissenschaftlichem Anspruch nichts zu suchen hätten. Tatsächlich war es so, dass ich ursprünglich mit dem sowjetischen System sympathisiert hatte und als mir die tatsächlichen Verhältnisse in Osteuropa und die Verbrechen während der Stalinzeit bekannt wurden, meine einstige Sympathie in eine starke Antipathie umschlug.

Und wenn man dann um sich herum im Bekanntenkreis, an der Universität etc. auch noch Leute hat, die im Großen und Ganzen gebildete und mit analytischem Verstand ausgestattete Menschen sind, aber deren wacher Blick – wenn es um Missstände in der westlichen Hemisphäre ging –, sich plötzlich trübte, wenn sie in den Osten sahen, Leute, die Kritiker des sowjetischen Systems bestenfalls mit Polemik, häufig aber mit Intrigen, Rufmordkampagnen etc. verfolgten, dann reagiert man (jedenfalls ich) emotional und polemisch darauf. In diesen Texten hat viel Herzblut von mir dringesteckt. Wäre ich weniger emotional mit dieser Angelegenheit verbunden gewesen, wäre meine Ausdrucksweise nüchterner und sachlicher gewesen.


Ich habe aber nicht nur an Seminaren und Vorlesungen in den Fachbereichen teilgenommen, für die ich eingeschrieben war. Ich habe alles gemacht, wofür ich Interesse hatte und was möglich war, ohne zu fragen, ob ich eine Studienbescheinigung dafür bekomme oder das später mal beruflich verwerten kann. Z. B. Allgemeine Zoologie (vom Einzeller zum Menschen) und Einführung in die Psychologie. Geographie der Sowjetunion. Geschichte Russlands, Geschichte der Sowjetunion, Geschichte der USA und Geschichte der Weimarer Republik. Im Zusammenhang mit letzterem Seminar las ich von Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik.

Nachdem ich meine Aktivitäten bei den Grünen eingestellt hatte, begann ich in einem viel stärkerem Maße als irgendwann vorher in meinem Leben zu lesen. Anfang der 80er Jahre suchte ich gezielt nach unterschiedlichen Interpretationen des Marxismus und dann gezielt nach Kritiken am Marxismus. So lernte ich Poppers Bücher Das Elend des Historizismus und Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde kennen. Obwohl ich von Anfang an nicht in allen Punkten seiner Meinung war, betrachtete ich mich zeitweilig als Anhänger Poppers. Er hat ganz entscheidend dazu beigetragen, dass ich die letzten Reste von linkem Dogmatismus – die auch bei dem von mir damals sehr geschätzten Rudolf Bahro noch vorhanden waren – los wurde. Seine oberflächliche Aburteilung Hegels habe ich nicht geteilt.

In dem Maße, wie ich begann meine kommunistische Jugendzeit kritisch aufzuarbeiten, begann ich auch zum ersten Mal damit, meine christliche Kindheit und die christliche, genauer katholisch-apostolische Geschichte meiner Vorfahren kritisch aufzuarbeiten. Ich suchte nach Büchern über diese Kirche um meine Kindheitserinnerungen durch sachliche Informationen zu ergänzen.

Ich war nun nicht einfach Nichtchrist, sondern ich begann mich kritisch mit Christentum und Religion auseinander zusetzen. Im Zusammenhang mit dem Wachsen meiner philosophischen Kenntnisse wurde mir allmählich klar, dass ich, als ich Atheist geworden war, nur einen Glauben mit einem anderen Glauben getauscht hatte. Ich betrachtete mich zunehmend als Agnostiker. Seit 1986 ließ ich in meinen Gedanken wieder den Begriff »Gott« zu. Dies war aber nicht etwa ein Rückfall in die Naivität meiner Kindheit. Der »Gott«, dessen Existenz ich zunehmend in Erwägung zog, war/ist ein unpersönlicher, pantheistischer Gott. Es ist der hegelsche Weltgeist. (Der sich in Hegel, mir und einigen anderen Menschen seiner Existenz bewusst geworden war/ist ;-) In letzter Instanz bin ich bis heute Skeptizist.

Es gab damals von Rowohlt eine Taschenbuchreihe »Die farbigen LIFE Bildsachbücher«, die aus dem Englischen übersetzt waren. Die ersten 20 Bände hatte naturwissenschaftliche und technische Themen. Die Titel waren u. a. Mathematik; Energie; Der Körper; Die Materie; Licht und Sehen (da lernte ich meine Sehbehinderungen von der wissenschaftlichen Seite kennen); Die Lebende Zelle; Die Maschinen; Mikroben, Gene, Vitamine; Das Wetter; Schall und Gehör; Die Zeit; Grundstoffe, Kunststoffe, Hochpolymere; Medikamente und Drogen. Im Selbststudium verschaffte ich mir Grundkenntnisse in Physik und Chemie. In diesen Fächern war ich bis dahin nie unterrichtet worden.

Die Bände 21 bis 40 hatten geschichtlich-kulturelle Themen. Da kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit den der griechisch-römischen Antike vorausgehenden oder parallel zu ihr existierenden Kulturen. Minoische und mykenische Kultur (die der griechischen Kultur vorausgingen), die Geschichte und Kultur Mesopotamiens, Ägyptens, Chinas, Indiens, Persiens, Japans, des Islams, Afrikas und Amerikas. (Vor der Kolonisierung bzw. Besiedelung durch Europäer.) Ich erfuhr, was für unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse und menschliche Verhaltensweisen schon existiert hatten, aber ich sah auch gewisse Gemeinsamkeiten in allen diesen voneinander unabhängig existierenden Kulturen, aus denen anthropologische Konstanten abgeleitet werden konnten. (Dass linke Theoretiker solche bestritten, war für mich nicht mehr nachvollziehbar.) Einerseits überall Egoismus, Macht- und Eigentumsstreben, andererseits aber auch soziales Verhalten, Verantwortungsbewusstsein für das Ganze. Ich begann den Menschen als ein ambivalentes Wesen zu begreifen. (Und ich erkannte auch, wie sehr sich der Marxismus auf die europäische Geschichte und Kultur beschränkt hatte.)

Zu dieser Zeit begann ich Rowohlt Bildmonographien zu lesen. Über die erfuhr ich erstmals etwas über Philosophen, mit denen ich mich bis dahin wenig oder gar nicht beschäftigt hatte: Sokrates, Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Sartre u. w. Ich las aber auch Monographien über historische Persönlichkeiten, Naturwissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und Dichter. Goethe, Schiller und Lessing kannte ich bis dahin nur vom Monopoly. Auch Einstein kannte ich nur vom Namen her.

Ich las auch zum ersten Mal etwas über Karl May und Wilhelm Busch, den beiden Autoren meiner Kindheit. Als ich zum ersten Mal in der Rowohlt Bildmonographie ein Bild von Karl May sah, wie er sich wie Old Shatterhand gekleidet hattet, da dachte ich: »Na, wie Old Shatterhand sieht der ja nicht gerade aus.« (Da sah Lex Barker erheblich mehr wie Old Shatterhand aus.) [84]

Ich las in den 80er Jahren fast alle Bücher von Hoimar von Ditfurth, den ich sehr schätze und der auf meine heutigen Positionen speziell in der Erkenntnistheorie und in der Auffassung von der Notwendigkeit der Selbstevolution des Menschen einen kaum überschätzbaren Einfluss hat. Ich habe einen Großteil meines naturwissenschaftlichen Wissens aus seinen Büchern und aus seinen Fernsehsendungen »Querschnitte«. [85]

Eine weitere Quelle für mein naturwissenschaftliches Wissen wurde das PM-Magazin, dass ich die ganzen 80er Jahre hindurch ziemlich regelmäßig las.

Im Zusammenhang mit der Einführung in die Psychologie aber auch wegen allgemeinem Interesse las ich einiges von und über Freud, Adler, Jung, Fromm und Reich. Als ich erstmals die Vertreter der Frankfurter Schule, besonders Horkheimer und Adorno, kennen lernte, war ich durch Popper und andere kritische Rationalisten schon gegen sie eingenommen. Adorno war mir von Anfang an zu kompliziert, zu abstrakt, zu praxis- und wirklichkeitsfremd und zu elitär.

Von Erich Fromm las ich: Die Seele des Menschen (seine Fähigkeit zum Guten und zum Bösen), Die Kunst des Liebens, Haben oder Sein und Das Menschenbild bei Marx. In dem Zusammenhang beschäftigte ich mich erstmals mit der marxschen Entfremdungs-Theorie. (In der SDAJ etc. beschäftigte man sich mit diesem Teil des Marxismus nicht. Es wäre zu offensichtlich gewesen, dass die Menschen im Realen Sozialismus weiterhin entfremdete Wesen waren.)

Das ist nur ein Teil dessen, was ich damals las. Ich erwähne hier nur die Bücher, die mich besonders beeindruckten bzw. für meine weitere Entwicklung besonders bedeutsam waren.

Ich habe gelesen und gelesen und gelesen und gelesen. Ich bin mit einem Buch aufgestanden und mit einem Buch ins Bett gegangen. (Irgendwo musste ich meine reichliche Libido ja schließlich »hinsublimieren« ;-) Frei nach Schiller: »Seid verschlungen, Millionen«. (Na ja, ganz so viele waren es nicht ;-)

Heute sage ich mir, ich hätte etwas weniger lesen und dafür etwas mehr für die Lösung meiner praktischen Probleme tun müssen. (Im praktischen Leben, besonders in den zwischenmenschlichen Beziehungen, kam ich nicht so gut zurecht. Mein Vater war in den Alkohol geflüchtet. Ich flüchtete in die Bücher.)

Bei einem der vielen Studentenjobs, die ich hatte, erlebte ich, dass ein Arbeiter mit einem Finger in meine Erbsensuppe ging um mich zu ärgern oder weil er das besonders lustig fand. Und einer seiner Kollegen sagte: »Na, wo er den Finger wohl vorher hatte?« Ich habe die Erbsensuppe nicht weiter gegessen. Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich (über Arbeiter): »So ein primitives Pack.« Danach gewöhnte ich es mir an die Masse der Bevölkerung des Öfteren »Deltas« zu nennen. [86] (Schopenhauer nennt sie »Fabrikware der Natur«.)

Ich war in den 80er Jahren ein begeisterter Titanic-Leser. (Wie in den 70ern bereits ein begeisterter Pardon-Leser.) Ich habe diese Zeitschriften damals gesammelt, besitze heute aber fast kein Heft mehr. Nur die beiden ersten Titanic-Ausgaben von November und Dezember 1979 habe ich in meinem »Schatzkarton« [87] aufgehoben. Ich las ab Mitte der 70er Jahre auch fast alle Bücher von Ephraim Kishon. Dass er ein politisch Rechter war, störte mich, aber über seine Geschichten habe ich trotzdem gelacht. Kishon ist der beste humoristische Schriftsteller, denn ich kenne. (Eine Geschichte, bei der ich Lachkrämpfe bekam, war »Chamsin und Silberrausch«.)


Außer Englisch habe ich Latein, Französisch und Russisch gelernt. Von den beiden letzteren Sprachen ist aber leider (außer einigen französischen und russischen Vokabeln) so gut wie nichts geblieben. Wenn man jenseits seiner dreißig über ca. ein Jahr hinweg eine bestimmten Sprache lernt, dann aber abbricht und sich jahrelang nicht mehr mit dieser Sprache beschäftigt, dann bleibt so gut wie nichts davon im Gedächtnis. Heute bedauere ich die Zeit, die ich nutzlos in solche Sprachstudien gesteckt habe.

Englisch ist die einzige Fremdsprache, an der ich über Jahrzehnte hinweg immer drangeblieben bin und deshalb ist es auch die einzige Fremdsprache, die ich heute »kann«. Und es ist auch sehr sinnvoll, dieser Sprache die Priorität zu geben. Englisch ist die wichtigste Sprache in unserer heutigen Welt. Englisch ist mit Abstand die wichtigste Sprache im Internet.

Von Latein ist auch nicht alles geblieben, was ich mal wusste, aber durch meine häufige Lektüre philosophischer Texte werde ich oft mit lateinischen Wörtern und Redewendungen konfrontiert. Und da ist es vorteilhaft, dass man diese Sprache in ihren Grundlagen mal gelernt hat und außer in dem Fremdwörterbuch auch noch in einem Wörterbuch Deutsch-Latein nachschlagen kann.


Mehrere Seminare an der Universität Hamburg belegte ich bei Prof. Günter Trautmann, u. a. über Faschismustheorien und sowjetische Außenpolitik. Das war ein sehr sympathischer Mensch. Er duzte sich mit den Studenten, jedenfalls mit denen, die häufiger in seinen Seminaren waren. Ich duzte mich auch mit ihm. Und er bezahlte auch mal großzügig eine Runde Pizza im Abaton. »Bei meinem Professorengehalt kann ich das ja mal machen.« 2001 ist er verstorben, noch vor seinem 60sten Geburtstag.

Da ich bereits ein Diplom besaß, hätte ich ohne einen weiteren Universität-Abschluss gleich promovieren können. Mit Prof. Trautmann verabredete ich im Jahr 1983, dass ich unter seiner Regie eine Dissertation über Sowjetische Afrikapolitik schreiben würde. Das war zu einer Zeit, als die Sowjetunion u. a. über kubanische Truppen in einigen afrikanischen Ländern, z. B. Angola und Mosambik, einen größeren Einfluss hatte. Das Thema lag mir aber gar nicht. Es wäre eine Arbeit gewesen, die sich mehr mit Afrika als mit der Sowjetunion beschäftigt hätte.

1984 vereinbarte ich mit ihm eine Dissertation aus dem Bereich »Umwelt, Sozialdemokratie, Gewerkschaften« zu schreiben. Über ein paar Vorbesprechungen und dem Lesen einiger Bücher zu diesem Themenbereich ist das Projekt aber leider nie hinausgekommen. Das lag nicht an mangelnden intellektuellen Fähigkeiten oder mangelndem Fleiß, dass lag an häufigen Erkrankungen.


Ich war in den 80er Jahren sehr häufig krank. Begonnen hatte das Kränkeln schon in den Jahren 1976/77.

Die ersten 25 Jahre meines Lebens war ich, abgesehen von meinen Augen- und Zahnproblemen, ein sehr gesunder Mensch. Erkältungen gab es so gut wie nie und wenn, waren sie schnell wieder weg. Nun änderte sich dies. Ich wurde häufiger krank und wenn ich krank war, wurde ich die Krankheit wochenlang in Extremfällen auch monatelang nicht wieder los. Anfangs ging ich noch zum Arzt, da ich glaubte, es sei irgendetwas organisches. Aber es waren keine Ursachen zu finden und einige Ärzte betrachteten mich ganz offensichtlich als Hypochonder. Ich war aber keiner. Ich war wirklich krank.

Meine Kenntnisse hatten inzwischen einen Stand erreicht, wo mir bald klar wurde, dass es psychosomatisch war. Ich hatte meine intellektuelle Entwicklung, die Brüche, die Entwurzelung, meine zunehmende Vereinsamung, meine Probleme bei der Partnersuche psychisch nicht verkraftet. Zuhause Bücher lesen, das ging. Aber in Vorlesungen und Seminaren sitzen, war häufig unmöglich. Ich fror, ich schwitzte, mir lief der Schweiß den Körper runter. So war kein Studieren möglich. Es war nicht die ganze Zeit über so. Es gab auch immer wieder Monate, in denen es mir gut ging. Aber häufiges Kränkeln wurde nun ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens.

Ich versuchte im Laufe der Jahre durch Selbststudium von Literatur über Psychologie und psychosomatische Erkrankungen und durch Teilnahme an Selbsthilfegruppen der Sache Herr zu werden aber ohne dauerhaften Erfolg. Und eine professionelle Psychotherapie konnte ich mir finanziell nicht leisten. Die Krankenkasse bezahlte so etwas nicht. (Und ob eine solche etwas gebracht hätte ohne Änderung meiner Lebensumstände, ist zweifelhaft.) Ich hätte auf diesem Gebiet viel mehr tun müssen! Dass ich auf diesem Gebiet nicht mehr getan habe, dass ich dieses Kränkeln nicht ernster genommen und entschiedener nach Lösungen gesucht habe, war wahrscheinlich einer der größten Fehler meines Lebens. Aber da ich nicht ununterbrochen krank war, sondern immer wieder längere Phasen eintraten, in denen es mir gut ging, hatte ich immer die Hoffnung, es sei nun vorbei, ich hätte das Kränkeln überwunden.

Ich vermute, dass mich die Stasi auch in den 80er Jahre mehrfach hat vergiften lassen. Denn die Symptome, die ich damals hatte, waren durchaus Vergiftungssymptome. Ich habe mich selbst nie für so wichtig gehalten, vergiftet zu werden, aber die Stasi hatte vielleicht andere Vorstellungen von Wichtigkeit. Vielleicht wollte sie auch ein Exempel statuieren. Wer einmal zu uns gehörte und dann anderswo hingeht, dann lassen wir nirgendwo anders hochkommen. Immerhin war ich mal auf Parteischule im Osten und habe später gegen sie gearbeitet. Wenn auch nur in kleinem Rahmen. Nun sind leider die Akten über die Westaktivitäten der Stasi weitgehend vernichtet und sollten irgendwelche Schweine in meiner Umgebung mich damals vergiftet haben, so werden die sich heute nicht outen. Doch der Schuss ging nach hinten los! Wäre ich in den 80er Jahren gesünder gewesen, dann eventuell auch im Studium und beruflich erfolgreicher. Es gäbe dann aber wahrscheinlich meine Homepage nicht. Nicht in diesem Umfang. Mit meinen Texten habe ich inzwischen eine sechsstellige Zahl von Lesern erreicht und ca. 80% davon sind junge Leute. Meine kritischen Äußerungen zum Kommunismus, zur DDR, zur Stasi etc. werden von viel mehr Menschen gehört, als wenn ich ein Doktor oder ein Dozent geworden wäre. [88]

»Wenn auch die Fähigkeit zu täuschen ein Zeichen von Scharfsinn und Macht zu sein scheint, so beweist doch die Absicht zu täuschen ohne Zweifel Bosheit oder Schwäche.« So René Descartes.

Das Kränkeln hörte Anfang der 90er Jahre auf. Dass zu der Zeit auch die Stasi aufhörte zu existieren, mag Zufall sein. Die Gesundheit, die Robustheit, die ich in den 70er Jahren mal hatte, die habe ich allerdings nie wieder erreicht. Zwei Besonderheiten bei mir sind 1., dass ich schnell friere und immer wärmer angezogen bin als andere Menschen, und 2., dass ich sehr schnell fiebrig bin, dass ein paar Zehntel Grad über der Normaltemperatur des Menschen bei mir normal ist. (»Schlimm sind nur die ersten 10 Jahre.« So sagte der polnische Dissident Kuron, als er gefragt wurde, wie man es im Gefängnis aushält.)

Dass unter solchen Umständen die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, ist verständlich. Auf schlechtem Boden kann auch ein gesunder Kern nur einen Krüppelbaum hervorbringen. Ich bin von zu weit unten gekommen um allzu weit nach oben gelangen zu können. Mit meiner Herkunft und meinen Lebensumständen hätten wohl nur sehr wenige Menschen mehr geschafft ich als ich.

Durch diese Umstände bedingt wurde ich weitgehend zum Autodidakten. (Was auch seine Vorteile hat. Wer einen Lehrer hat, ist vielleicht dadurch weniger fähig zu selbständigem Denken.) Ich habe wahrscheinlich über 90% meines heutigen Wissens selbständig aus Büchern herausgelesen. Was ich an HWP und Universität gelernt habe, ist im Wesentlichen eigentlich, wie man lernt, wie man studiert. Wie man eine Bibliothek, die verschiedenen Arten von Katalogen, wie man mit in Büchern vorhandenen Inhaltsverzeichnissen und Indexen arbeitet. Wie man wissenschaftliche Texte schreibt. Ohne diese Institutionen und ohne meinen intellektuellen Bekanntenkreis, den ich durch meine politischen Aktivitäten bekam, wäre meine spätere Entwicklung zum Autodidakten und Schriftsteller wohl nicht möglich gewesen. Aber was den Wissensstoff anbetrifft, den habe ich nur zu einem sehr kleinen Teil direkt von anderen Menschen oder in Seminaren und Vorlesungen gelernt. Seminare waren mehr Diskussionsforen (wenn sie nicht total überlaufen waren) als Lernveranstaltungen.


Anfang meiner 30er Jahre – nachdem ich meine Aktivitäten bei den Grünen eingestellt hatte und in eine stärkere Vereinsamung geriet, dadurch aber auch mehr Zeit zum Lesen hatte – begann ich nach und nach ein selbstdenkender Mensch zu werden. Bis dahin hatte ich mich, ohne dass mir dies richtig bewusst war, den Gedanken anderer angeschlossen. Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, dass ich vorher überhaupt nicht selbst gedacht habe. Ansonsten ließe sich nicht erklären, warum ich mit den Menschen, mit denen ich Verkehr hatte, nach einer gewissen Zeit immer in Konflikt kam. Ab dieser Zeit ging ich dazu über, wenn ich Bücher las, das dort Geschriebene nur noch als Gedanken anderer anzusehen bzw. als Informationen, deren Richtigkeit nicht außerhalb des Zweifels war. Ich nahm die Gedanken und Informationen auf, aber ich behielt eine Distanz zu ihnen. Bis dahin war ich mal dem, mal jenem Autor verfallen.

Zu dieser Zeit begann ich auch selbständig zu philosophieren und meine Gedanken in meinem Tagebuch aufzuschreiben. Diese eigenen Gedanken hätte ich mir nicht machen können, wenn ich in den Jahren davor nicht philosophische Literatur gelesen und philosophische Lehrveranstaltungen besucht hätte. Aber ich habe diese Gedanken nicht einfach von anderen übernommen. Es begann der weiter vorne schon kurz erwähnte Prozess des Zweifelns, der mich bald in einen Abgrund von Nichtwissen fallen ließ. (Goethe: »Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß. Mit dem Wissen wächst der Zweifel.« Russell: »Es ist ein Jammer, dass die Dummköpfe und Fanatiker immer so selbstsicher sind und die klugen Leute so voller Zweifel.«)

Zu dieser Zeit wurde mir auch erst nach und nach richtig bewusst, aus was für einer Dunkelheit ich mich herausgearbeitet hatte. Was für eine katastrophale Kindheit ich hatte, wie viel ich in meiner Kindheit und Jugendzeit versäumt hatte, welche irreversiblen Schäden, Benachteiligungen mir entstanden waren, aber auch wie ungewöhnlich meine Entwicklung war. [89]


In den 80er Jahren begann ich klassische Musik zu hören. Obwohl ich leider so gut wie kein theoretisches Wissen über Musik habe, konnte ich auf Grund meiner allgemeinen Entwicklung den Symphonien und Klavierkonzerten Beethovens und Mozarts erheblich mehr abgewinnen, als in meiner Jugendzeit. (Inzwischen höre ich mehr klassische als moderne Musik und in meiner CD-Sammlung überwiegen eindeutig die Klassik-CD. Die moderne Musik der 60er und 70er Jahre höre ich aber auch weiterhin zur Unterhaltung.) In dem Maße wie ich begann Klassische Musik zu schätzen, begann ich auch Jazz zu hören. In meiner Jugendzeit fand ich den immer langweilig.

Ich trank in meiner Jugendzeit viel Bier, bis ich irgendwann bemerkte, dass es mir gar nicht schmeckte. In den 80er Jahren begann ich Wein zu trinken, der nach einer gewissen Zeit Bier völlig verdrängt hatte. Anfänglich liebliche, später dann fast nur noch trockne Weißweine. Liebliche Weine sind mir heute ein Gräuel. Härtere Sachen wie Korn, Rum etc. habe ich bestenfalls in meiner Jugendzeit verdünnt mit Cola, Brause etc. getrunken. Ich konnte das Zeug nie vertragen. So wurde ich nicht nur wegen dem abschreckenden Beispiel, dass mein Vater geliefert hatte, kein großer Konsument von Alkohol.

Ich habe in den 70er und 80er Jahren des Öfteren Haschisch konsumiert, ohne dass dies eine große Wirkung auf mich hatte. Einmal probierte ich auch LSD. (Ich war auf einer Lokomotive sitzend durch eine sehr bunte Welt gefahren. Das ist das einzige, was ich noch konkret erinnere.) Ich wusste aber um die Gefährlichkeit von LSD und habe es bei dem einem mal belassen. Eine Zeitlang nahm ich Captagon. Eigentlich eine Aufputschtablette, die aber auch einen gewissen Rausch hervorrufen kann.

Seit 1984 bin ich regelmäßiger Saunagänger und ich ziehe FKK-Strände den Textil-Stränden vor. Dass ich mich im Gegensatz zu 1974 vor anderen nackt bewegen konnte, war bei mir über den Kopf gekommen. Ich wusste inzwischen um die Relativität und die Vielfalt verschiedener menschlicher Verhaltensweisen. Es gibt keinen rationalen Grund, sich nicht vor anderen Menschen nackt auszuziehen, wenn es die Umstände sinnvoll machen. [90]

Ich konsumiere seit Mitte der 70er Jahre Pornographie. Anfänglich achtete ich noch darauf, dass mich möglichst keiner sieht, wenn ich ein Pornokino oder einen Pornoshop betrat oder verließ. Inzwischen mache ich das schon seit Jahrzehnten nicht mehr. So wie die Homosexuellen nicht mehr verbergen, homosexuell zu sein, so verberge ich nicht mehr, dass ich Pornographie konsumiere. Und das lasse ich mir weder von EMMA-Redakteurinnen noch von Pfarrern verbieten. Mitte der 70er Jahre wurden in der Bundesrepublik die Pornographiegesetze liberalisiert. Man durfte nun legal sehen, was man auf der Reeperbahn in bestimmten Lokalen auch vorher schon sehen konnte. Es blieb aber verboten Pornographie mit Tieren, mit Kindern und verbunden mit Gewaltdarstellungen.

Das Folgende sagt nichts über meine sexuellen Vorlieben aus, es ist nur eine Beschreibung von Tatsachen und ein weiteres Beispiel für die Relativität und Vielfalt menschlicher Vorlieben und Verhaltensweisen. Als ich 1978 das erste Mal in London war, betrat ich in Soho einen Pornoshop und bemerkte, dass es in England verboten war, einen erigierten Penis abzubilden. Erlaubt war es aber, Magazine anzubieten, in denen eine Frau nackt und breitbeinig auf einem Stuhl gefesselt war und ein Kerl mit fiesem Gesichtsausdruck mit einer Rasierklinge vor ihrer Vagina herumfuchtelte. Sowas war in Deutschland verboten, der erigierte Penis war erlaubt. Als ich 1982 zum ersten Mal in Kopenhagen war, bemerkte ich, dass dort Magazine verbreitet werden durften, in denen Menschen mit Tieren Sex haben und nackte Frauen ausgepeitscht werden. Als ich 1983 zum ersten Mal in Amsterdam war, stellte ich fest, dass man dort Magazine verbreiten durfte, in denen zehnjährige Mädchen sich vor der Kamera nackt auszogen. (Harte Kinderpornos waren meines Wissens aber auch in Holland verboten.) Vier westeuropäische zivilisierte Rechtsstaaten. Jeder hatte im Bereich der Pornographie seine ganz spezifischen Freizügigkeiten und Verbote.

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14. Kapitel
SPD

Im Verlaufe der Jahre 1982/83 war mir nach und nach klar geworden, dass der Kommunismus eine Illusion ist. Er scheitert an der Natur des Menschen. Aus der Perspektive meiner heutigen Ansprüche ist mir das viel, viel, viel zu spät klar geworden.

Der Hauptfehler auf der linke Seite des politischen und wissenschaftlichen Spektrums war (und ist teilweise heute noch) den Menschen nur oder jedenfalls in aller erster Linie als ein gesellschaftliches Wesen zu sehen, das in seinem Fühlen und Verhalten durch die bestehenden gesellschaftlichen, besonders ökonomischen Verhältnisse bestimmt wird. [91] Die Natur des Menschen wurde entweder als eine zu vernachlässigende Größe angesehen und/oder man hatte eine zu positive Vorstellung von dieser Natur.

Der Marxismus beruht auf einem illusorischen Menschenbild. Die Menschen sind nicht so, wie sie sein müssten, damit der Kommunismus funktionieren kann und man kann sie so auch nicht machen. (Wenn wir mal von zukünftigen Möglichkeiten der Gentechnologie absehen.) Zusätzlich zur gesellschaftlich bedingten Ungleichheit – die ich weiterhin abgebaut sehen möchte, wo immer es geht – gibt es ein bestimmtes Maß an natürlicher Ungleichheit. Ebenso wie ein gewisses Maß an Egoismus, Eigentumsstreben und Uneinsichtigkeit. Das Paradies auf Erden ist nicht erreichbar. (Den Begriff »Paradies auf Erden« habe ich allerdings nie benutzt, auch nicht zu der Zeit, als ich den Kommunismus für möglich hielt. Das war mir schon immer zu hochgegriffen. Auch im Kommunismus hätte es Krankheit und Tod gegeben.)

Wenn das aber so ist, dann sollte man versuchen, das wenige, was man an Verbesserungen erreichen kann, zu realisieren, anstatt gar nichts besser zu machen, bzw. alles noch schlimmer werden zu lassen. (In meinem eigenen individuellen Leben habe ich das leider zu einem großen Teil nicht hingekriegt.) Was nützt es, wenn man die Reichen abschafft und anschließend die Armen ärmer sind, als sie wären, wenn es Reiche gäbe? Ich habe eigentlich überhaupt nichts gegen Reiche. Im Gegenteil. Ich möchte, dass alle reich sind. Ich habe was gegen Armut. [92]

Ich hatte erkannt, dass es ein schwerer Fehler ist, das westliche Gesellschaftssystem nur an seinen Missständen zu messen. Man muss es auch an dem messen, was die Menschheit bisher an gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgebracht hat. Und dann stellt es sich dar als das Beste, was bisher realisiert wurde. Das bedeutet nicht, dass ich die Missstände nicht mehr sah. Aber ich wollte, dass bei allem Streben nach Beseitigung von Missständen das Positive erhalten bleibt.

Ich wusste auf Grund meiner politischen Vergangenheit und meines Studienschwerpunktes wohin die Oktoberrevolution geführt hatte. Ich wusste wohin die französische, chinesische und weitere Revolutionen geführt hatten. Ich hatte 1979 mit Begeisterung die Revolution im Iran begrüßt wo das halbfaschistische Schah-Regime gestürzt wurde und musste dann sehen, wie die Islamische Republik entstand, wo nicht nur ehemalige Schah-Leute sondern Linke und. Liberale unterdrückt und hingerichtet wurden, Verhältnisse entstanden, die schlimmer waren, als die unter dem Schah. Poppers Ablehnung der Revolution und seine Befürwortung eines reformistischen Vorgehens leuchtete mir deshalb mehr und mehr ein.

Kleine Schritte – kleines Glück.
Große Schritte – großes Elend.
(Mein eigener Aphorismus.)

An diesem Entwicklungspunkt angekommen, wurde ich Sozialdemokrat. Und das bin ich im Prinzip bis zum heutigen Tag. Und das bedeutet nicht, ein kritikloser Anhänger sozialdemokratischer Regierungen zu sein. Das bedeutet eine bestimmte Grundentscheidung für eine bestimmte Gesellschaft und eine bestimmte Grundvorstellung von Politik. Die freie, offene, demokratische und soziale Gesellschaft. Abgrenzung sowohl gegen konservative Erstarrung und Interessenspolitik für die Privilegierten, wie gegen dogmatische Heilslehren und andere absolute Wahrheitsansprüche. (Fast wörtlich Karl Popper, dessen Texte entscheidend mit dazu beigetragen haben, dass ich Sozialdemokrat wurde.)

Am 1. Januar 1984 trat ich in die SPD ein. (Etwas, dass zehn Jahre früher für mich unvorstellbar gewesen war.) Für ca. vier Jahre arbeitete ich dort aktiv mit. Erst zwei Jahre in Hamburg, dann noch einmal ca. zwei Jahre in Freiburg. [93]

Von hier an hätte mein Leben einen ganz normalen Verlauf nehmen können. Einen Verlauf, über den es sich nicht gelohnt hätte, etwas zu schreiben. »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.« So Hegel. Die Katastrophen, die Umbrüche interessieren. Sowohl in der Geschichte der Menschheit, wie in der individuellen Geschichte eines einzelnen Menschen.

Ich hatte die religiöse Sektiererei meiner Kindheit und die politische Sektiererei meiner Jugendzeit hinter mir gelassen. Ich kleidete mich ordentlicher. Ich hatte kurze Haare. Ich war Anfang meiner 30er. Ich hatte eine abgeschlossene Hochschulausbildung. Wäre ich in Hamburg und in der SPD geblieben, hätte ich früher oder später einen gut dotierten Job bekommen können. Der Hamburger Staat gehörte faktisch der SPD. Und dann gab es auch noch viele Einrichtungen der SPD und der Gewerkschaften. Gewisse Fähigkeiten zu selbständiger Arbeit, zum Anleiten, rhetorische Fähigkeiten etc. hatte ich. Minister oder Staatssekretär wäre ich nicht gerade geworden, aber für einen gut dotierten Posten irgendwo in der 3. Reihe hätte es auf jeden Fall gelangt.

Aber zum Politiker fehlte mir vieles. Zu aller erst der Ehrgeiz. Auch die Portion Opportunismus und Verlogenheit, die einer politischen Karriere sehr nützlich ist. Doch es gab ja auch Stellen in der Bildungsarbeit, an die ich mit etwas mehr Vorausschau und Ausdauerkraft hätte kommen können. Ich wäre gerne Hochschullehrer oder Dozent in einer Einrichtung der politischen Bildung geworden. Der Wahrheit nachzusinnen, wäre mein Fall gewesen. In der Politik geht es um Macht, nicht um Wahrheit. Wahrheit spielt nur soweit eine Rolle, wie sie der Macht dient. Wo das nicht der Fall ist, wird auf die Wahrheit geschissen. In jeder Partei!

An eine der vielen Stellen zu kommen, die SPD, Gewerkschaften, diverse Stiftungen etc. zu vergeben hatten, wäre aber in einem starken Maße mit Anbiederei verbunden gewesen. Man hätte die Leute kennenlernen müssen, die solche Stellen vergeben, bzw. Einfluss darauf haben, man hätte diesen Leuten gefallen müssen, man hätte sich irgendwelchen Gruppen, Cliquen, Seilschaften, Klüngelkreisen etc. anschließen müssen. Das Ganze wäre einhergegangen mit dem Verlust der Gedankenfreiheit oder mit einer Differenz zwischen dem, was man denkt und dem, was man sagt und tut. Und gemessen an der Menge der Menschen, die nur oder zumindest auch deshalb in der SPD aktiv waren, weil sie an ihrem persönlichen, beruflichen Fortkommen interessiert waren, war die Anzahl der zu vergebenden Stellen auch nicht so gewaltig. Man hätte sich im Wettbewerb mit anderen befunden und hätte oben beschriebene Verhaltensweisen besser draufhaben müssen, als andere. Kurz und knapp: Man hätte in einem beträchtlichen Maße seine Individualität aufgeben und Opportunist werden müssen. Und das wollte ich nicht. Es zeigte sich nach einer gewissen Zeit, dass ich für jede Partei, für jede Organisation letztlich zu individualistisch war, einen zu starken Unabhängigkeits- und Freiheitsdrang hatte, nicht anpassungsfähig oder -bereit genug war.

Es war mir letztlich doch nicht möglich meinen Frieden mit dem Kapitalismus zu machen, mich mit einer Welt abzufinden, in den die Einen im Luxus leben und die anderen vor Armut sterben. Die SPD hat zwar bis heute den Sozialismus als Ziel in ihren Programmen, aber das ist nicht mehr ernst gemeint. Letztendlich bin ich auch in diese Partei mit falschen Vorstellungen eingetreten. In einer Welt wie dieser kann ich nicht staatstragend sein. »Demokratischer Sozialismus« bezeichnet heute faktisch kein Gesellschaftsmodell mehr, sondern ist eine Reihe von Wertvorstellungen, an denen Sozialdemokraten ihr Handeln orientieren. Jedenfalls orientieren sollten. Was nicht unbedingt jeder Sozialdemokrat macht. Für viele Funktionäre und Mandatsträger der SPD sind viele dieser Wertvorstellungen etwas, was man auf Grund der Tradition der SPD eben mit sich rumschleppt, was aber keine Herzenssache ist.

So habe ich erlebt, dass viele Sozialdemokraten Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose (jedenfalls wenn die längere Zeit arbeitslos waren) verachteten, deren Verhalten missbilligten. Ich hatte damals mein Studium formell für ein Jahr unterbrochen (nachdem ich kein BAFÖG mehr bekam) um Sozialhilfe bekommen zu können. Tatsächlich war ich weiterhin Student, konnte bloß keine Scheine machen. In den Seminaren und Vorlesungen, an denen ich teilnahm, musste man keinen Studentenausweis vorlegen. Auch in der Mensa nicht. In der SPD wussten das nur einige wenige Leute, da ich wusste, dass ein solches Verhalten von vielen Sozialdemokraten als völlig intolerabel angesehen würde. Die spätere asoziale Wende unter Schröder die kam nicht aus dem Nichts. Aus der Zeit meiner aktiven Mitarbeit in der SPD weiß ich, dass viele Funktionäre und Mandatsträger der SPD der Auffassung waren, die SPD schleppe auf Grund ihrer Geschichte eine Menge überflüssigem Sozial-Klimbim mit sich rum.

Tucholsky schrieb in den 20er Jahren über die SPD: »Hier können Familien Kaffee kochen.« Das war damals als Kritik gedacht. Heute hört sich das fast idyllisch an. Die SPD hat früher mal für ihre Mitglieder und Anhänger ganze Lebenswelten ausgefüllt. Zur Zeit der Weimarer Republik war die SPD noch eine Arbeiterpartei, die auf reformistischem Wege große gesellschaftliche Änderungen anstrebte im Interesse der großen benachteiligten Mehrheit der Bevölkerung. Heute ist die SPD (besonders dort, wo sie traditionell Regierungspartei ist), was die ca. 10% der aktiven Mitglieder anbetrifft, weitgehend ein Karrieristenclub. Heute kochen da keine Familien mehr Kaffee, heute wird dort abgekocht. (Damit will ich aber nicht jedem aktiven SPD-Mitglied unterstellen nur noch an der persönlichen Karriere interessiert zu sein. Eine solche Generalisierung würde auch vielen Unrecht tun.)

Karriere war nicht meine Sache. Als ich mich politisch organisierte und begann mich zu bilden, wollte ich die Weltrevolution und die Sozialistische Weltrepublik. Welchen Posten ich in einer solchen Republik haben würde, wäre mir ziemlich egal gewesen. Als diese Illusion verflogen war, war es der Wissenserwerb, der mich voll vereinnahmte. An berufliche Verwertung des erworbenen Wissens dachte ich nicht. Ein hohes Einkommen habe ich nie angestrebt. Der »Konsumterror« war/ist mir zuwider. (Genauso zuwider ist es mir allerdings, wenn jemand seine eigenen Bedürfnisse zu einem absoluten Maßstab erhebt, nach dem alle Menschen sich zu richten haben. Ich akzeptiere es, dass für die Masse der Bevölkerung materieller Lebensstandard eine wichtigere Rolle spielt als für mich.)

Die Glitzersachen in den Kaufhäusern, die modische Kleidung, das hat mich nie interessiert. Den größten Teil meiner Kleidung, den würden andere Menschen nicht nur nicht tragen, viele würden solche Sachen nicht einmal mehr in die Kleidersammlung geben. (»Verbrennen, aber vorher desinfizieren!« Wie der westberliner Coca-Cola-Chef MacNamara – James Cagney – in dem Film »Eins, zwei, drei« über die Kleidung von Otto Ludwig Piffl – Horst Buchholz – sagte.) [94]

Ich war in meiner Kindheit »Dreckmöller«. »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« Dieser Satz stimmt glücklicherweise nicht hundertprozentig. Aber er stimmt in einem beträchtlichen Maße. Ich wasche meine Kleidung nicht so oft wie andere. Ich dusche nicht jeden Morgen. Wenn ich weiß, ich bleibe heute zuhause, ich sitze den ganzen Tag am Computer (bzw. die ganze Nacht – diesen Text habe ich zum größten Teil Nachts geschrieben, bis fünf Uhr morgens) warum soll ich dann duschen? Ich selbst rieche mich doch nicht. Und wenn ich weiß, heute gehe ich zum Einkaufen, dann dusche ich. Und dann sprühe ich noch Deo auf mich und meine Kleidung, damit es nicht muffig riecht. Dann lutsche ich Pfefferminz- oder Eukalyptusbonbon. Es könnte ja sein, dass ich sonst aus dem Mund rieche. Ich lebe allein. Da hat man seine blinden Flecke. Vielleicht übertreibe ich es dann auch. Vielleicht rieche ich auch häufig wie ein Koalabär, der in einen Parfüme-Bottich gefallen ist.

Wenn der Punkt erreicht ist, wo man sich selber riecht,
können einen die anderen schon lange nicht mehr riechen.
(Mein eigener Aphorismus.)

Bahro schreibt: »Es gibt Intellektuelle, die ziehen es vor, zu wissen und zu sein, statt zu besitzen. Und sie halten dies für ein besonderes moralisches Verdienst. In Wirklichkeit ist es der Gipfelpunkt ihrer Privilegiertheit.« Genauso sehe ich es auch. [95]


Die SPD hat in meinem Leben nie die Rolle gespielt, wie in früheren Jahren mal die SDAJ. Deshalb gibt es aus der Zeit meiner aktiven Mitarbeit dort auch weniger zu berichten. Ich erinnere auch viel weniger.

Ich erinnere eine Serie von Schulungsveranstaltungen der Juso-Hochschulgruppe. Sie zu leiten kam extra der Professor Detlev Albers aus Hannover einmal die Woche nach Hamburg. Später war er Landesvorsitzender der SPD in Bremen, Mitte der 80er Jahre war er aber ein marxistischer Dogmatiker. Er war zwar bei weitem nicht so unsympathisch wie Lars L., aber auch von ihm hörte ich Sätze wie: »Jetzt muss du aber endlich mal begreifen ...« und »Meine Geduld ist nicht grenzenlos.« Zu der Zeit war ich stark von Popper beeinflusst und hatte Marx schon weitgehend hinter mir gelassen. Man stelle sich mal vor: Da kommt ein Professor auf eigene Kosten einmal die Woche in eine andere Stadt um den Jusos die richtigen Auffassungen zu vermitteln und dann sitzt da so ein Querkopf, der ständig widerspricht und der die Wahrheit einfach nicht zur Kenntnis nehmen will. Sowas können Dogmatiker nicht vertragen. Nun waren linke Dogmatiker in der SPD allerdings eine kleine Minderheit, die auf die Politik der Partei keinen Einfluss hatte.

Ich erinnere ziemlich am Anfang meiner Mitgliedschaft eine Veranstaltung der SPD Altona. Der Bezirksvorsitzende, dessen Name ich nicht mehr weiß, war kurz vorher Finanzsenator geworden. Er ging durch den Saal noch vorne und nickte den Leuten an den Tischen zu. An einigen Tischen starrten die Leuten eisern auf die Tischplatte. Das waren die linken Sozialdemokraten. Der Bezirksvorsitzende gehörte zum rechten Flügel. Der linke und der rechte Flügel der SPD, das waren faktisch zwei Parteien.

Die Mitglieder des Distrikts Bahrenfeld, zu dem ich gehörte, wurden auf Bezirksebene »Bahrenfelder Wackelärsche« genannt, weil sie nicht eindeutig dem linken oder rechten Flügel zuzuordnen waren und damit ihr Stimmverhalten häufig nicht voraussagbar war.

Ich lernte eine Genossin kennen, die unbedingt in die Bezirksversammlung Altona wollte. Wenn sie mit linken Sozialdemokraten sprach, war sie eine linke Sozialdemokratin, wenn sie mit rechten Sozialdemokraten sprach, war sie eine rechte Sozialdemokratin. Man hätte eher einen Wackelpudding an die Wand genagelt, bevor man die auf irgendetwas festgenagelt hätte.

Als ich mich über die Stadtteilgruppe hinaus in Kommissionen zu bestimmten Politikfeldern betätigte, fiel mir auf, dass über zwei Drittel der dort Aktiven im öffentlichen Dienst beschäftigt waren und ihre politischen Aktivitäten mit ihrem beruflichen Fortkommen koppelten.

Im 16. Kapitel schreibe ich einiges darüber, wie ich heutzutage zur SPD und zur Politik insgesamt stehe.  Näheres hier. In diesem Kapitel möchte ich nicht auf spätere Jahrzehnte vorgreifen.


Ca. ab meinem 30. Lebensjahr begann ich damit, mich nicht nur in der Politik, sondern auch bei der Partnersuche realistischer zu verhalten und hatte dadurch weniger Frust und mehr Erfolgserlebnisse als in früheren Zeiten. In den 80er Jahren hatte ich mehrere Freundinnen. Die Verbindungen dauerten von ein paar Wochen bis zu ein paar Monaten. In fast allen Fällen habe ich diese Partnerschaften beendet: Einige von diesen Frauen waren verheiratet, bzw. in einer festen Bindung und konnten sich nicht entschließen, ihren Partner zu verlassen. Einige waren neurotisch, launisch oder extrem egoistisch. (»Ja, wir können zusammensein, aber zu meinen Bedingungen.«) Und einige gefielen mir vom Äußeren her nicht.

Ich mache Frauen, die mich wegen meines Äußeren nicht als Freund wollten, daraus keinen Vorwurf. (Auch wenn ich hin und wieder mal für ein paar Tage sauer war.) Aber ich lasse mir auch keinen Vorwurf dafür machen, dass ich Frauen wegen ihres Äußeren abgelehnt habe. Ich kann nun mal nicht mit jeder Frau. Genauso wie eben viele Frauen nicht mit mir können. Ich hatte die meiste Zeit meines Lebens »linke« Bekanntenkreise und dadurch auch Kontakt zu vielen Frauen, die »emanzipiert« waren, bzw. die glaubten, emanzipiert zu sein. Und viele von denen vertraten allen Ernstes die Auffassung, dass Frauen selbstverständlich das Recht haben, Männer wegen ihres Äußeren abzulehnen, aber Männer, wenn sie Frauen wegen ihres Äußeren ablehnen, Chauvinisten und Frauenfeinde seien. Was solch ein »Geschlechtsegoismus« mit Emanzipation zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Das ist nur die Umkehrung ungerechter Verhältnisse.

Ich hatte damals mehrere Chancen, eine feste Beziehung einzugehen und zu heiraten. Wenn ich heute sagen würde, es hätte mich keine gewollt, wäre das falsch. Ich habe nicht nur Körbe bekommen, ich habe auch Körbe gegeben. (Auch wenn das Verhältnis 10 zu 1 war.) Aber im Gegensatz zu vielen anderen Menschen konnte ich notfalls allein sein, wenn das auch nie mein Ziel und mein Ideal war. Ich habe Menschen kennengelernt, besonders Frauen, die von ihrem Partner schlecht behandelt wurden, geschlagen, bedroht, betrogen etc. und nicht die Kraft hatten, sich von ihm zu trennen. Der Gedanke einsam zu sein, war für sie unerträglicher als einen Partner zu haben, der sie schlecht behandelt. So habe ich nie gedacht und nie gehandelt.

Als ich mich bei der Partnersuche realistischer verhielt, bedeutete dies nicht automatisch Erfolg zu haben, denn auch auf der weiblichen Seite gab es viele, die nicht wussten, dass sie für sich nur ein Äquivalent bekommen und die vergeblich auf ihren Märchenprinzen warteten. Da ich von meinem äußeren Erscheinungsbild her nicht allzu viel darstellte und auch in anderen Lebensbereichen nicht viel zu bieten hatte – z. B. materiellen Wohlstand –, musste ich meine Ansprüche erheblich weiter runterschrauben als die meisten anderen Menschen. Und das hat seine Grenzen. Man muss den Partner ja auch noch lieben können, zumindest muss man ihn mögen, man darf sich mindestens nicht vor ihm ekeln. Es muss Zuneigung auf beiden Seiten vorhanden sein, sonst geht es nicht. Last not least hatte ich immer Beschäftigungen, mit denen ich mich ablenken konnte, die mich stark in Anspruch nahmen. Das war in meinen 20er Jahren die Politik und später dann der Wissenserwerb.

Gegenüber Mädchen bzw. Frauen, die Interesse an mir hatten, die ich aber abgelehnt habe, da sie mir von ihrem Äußeren her nicht gefielen, wären drei andere Vorgehensweisen möglich gewesen:

1. Ich hätte eine Beziehung mit ihnen beginnen können in der Hoffnung, dass ich mich an ihr Äußeres gewöhne und nach einer gewissen Zeit sich Zuneigung und Liebe entwickeln würde.

2. Ich hätte ihnen Liebe und Zuneigung vorheucheln können, sie von vornherein nur nehmen mit dem Gedanken, sie wann immer möglich gegen eine Bessere zu tauschen.

3. Ich hätte ihnen ehrlich sagen können: »Ich liebe dich nicht, erwarte nicht, dass ich dir so etwas jemals sage, es wäre gelogen. Ich werde dir nie sagen, dass du schön bist. Das wäre auch gelogen. Ich nehme dich nur, weil ich an die Frauen, die schön sind und die ich lieben könnte, nicht rann komme. Wir werden nur im Dunkeln Sex haben und ich werde dabei an eine andere Frau denken so wie du auch dabei an einen anderen Mann denken kannst.«

Das unter Punkt 1 stehende habe ich zuweilen versucht, aber ich hätte es vielleicht öfters versuchen sollen. Das unter den Punkten 2 und 3 stehende kam für mich nie in Betracht! Philosophieren, dass Suchen nach Wahrheit zum obersten Lebensziel erklären und im praktischen Leben ständiger Betrug und Selbstbetrug, das wollte ich nicht.

Bei den Partnerschaften, die ich ausgeschlagen oder abgebrochen habe, kann ich natürlich nicht wissen, was anderenfalls aus ihnen und aus mir geworden wäre. Die meisten Partnerschaften scheitern. Viele Männer über 50 beneiden mich heute darum, dass ich Single bin, dass ich nicht unter Kuratel stehe bzw. nicht Unterhalt zahlen muss an eine Frau, von der ich nichts mehr habe. [96]

Inzwischen habe ich mich so daran gewöhnt allein zu leben, dass ich mich wahrscheinlich nur noch schwer umstellen könnte. Und mit Frauen in meinem Alter habe ich Probleme. Alternde Frauen glauben des Öfteren, sie könnten die weniger werdende Attraktivität durch ein meer an Parfum ausgleichen. ;-)


*   *  *

Im Verlaufe des Jahres 1985 kam ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass ich aus Hamburg weg muss, dass ich irgendwo einen Neustart versuchen muss. Ich besprach das aber mit niemandem. Freunde hatte ich keine, aber ich hatte doch viele Bekannte. Viele von denen habe ich bestimmt enttäuscht, indem ich ohne Abschied einfach aus Hamburg wegging. Das tut mir heute leid. Ich informierte mich über verschiedene Universitätsstädte und meine Wahl fiel auf Freiburg.

Abschließend zur 4. Phase meines Lebens: Wenn ich an die damalige Zeit zurückdenke und mich frage, was in der ersten Hälfte der 80er Jahre der allgemeine Grundzug meines damaligen Lebens war, etwas, dass sich durch alles Konkrete, durch alle Details hindurch zeigte, dann waren es drei Dinge: Ich erwarb mir ein umfangreiches Wissen auf den verschiedensten Gebieten, ich war häufig krank und ich war einsam. Aber nicht in dem Sinne, dass ich nicht mit anderen Menschen verkehrte. Ganz im Gegenteil. Ich hatte ständig Leute um mich. Ich ging in Vorlesungen, Seminare, ich war in verschieden Gruppen politisch aktiv, machte Infostände, war auf Diskussionen, wurde zu Partys eingeladen, hatte mehrere Freundinnen, wenn auch immer nur kurzzeitig. Aber immer saß ich irgendwann allein Abends in der Mensa, wenn sie noch mal für zwei Stunden öffnete oder ich saß allein in einem Bus oder einer Bahn oder ich lag zuhause allein und las, oder ging allein spazieren und hing meinen Gedanken nach.

War die 3. Phase meines Lebens eindeutig eine positive, so war die 4. Phase halb und halb. Ich habe auch in dieser Zeit viel gelernt und quantitative wie qualitative Fortschritte gemacht. Ich habe in dieser Zeit aber wahrscheinlich auch die größten Fehler meines Lebens begangen.

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15. Kapitel
Freiburg

Am 31. Dezember 1985 zog ich aus Hamburg weg und brach alle Brücken hinter mir ab. Das war der vierte Bruch in meinem Leben. Ich habe später oft darüber gegrübelt, ob dies nicht der unnötigste Bruch von allen war, der mir nur geschadet hat. Aber auch die drei Brüche davor haben nicht unbedingt zur Mehrung meines individuellen Glücks geführt. Sie haben meine intellektuelle Entwicklung und/oder Unabhängigkeit gefördert. Und so brachte mich auch der 4. Bruch weiter voran.

Über die taz hatte ich ein Zimmer in einem kleinen Dorf nordwestlich von Freiburg gefunden, in Hochdorf, in der Fuhrmannsgasse 1. Dort wohnte ich ca. einen Monat. (Der Bus hielt genau vor der Tür und nach ca. 15 Minuten war man an einer Endstation der Freiburger Straßenbahn.)

Freiburg ist statistisch abgesichert die wärmste Stadt Deutschlands. Nach einigen kühlen und verregneten Sommern in Hamburg war das einer der Gründe, weshalb ich mich für Freiburg entschieden hatte. Auch die Lage zwischen Schwarzwald und Frankreich und die Nähe zur Schweiz spielten eine Rolle

Ein weiterer wichtiger Grund war das Institut für Parapsychologie an der Universität Freiburg. Die drei Semester, die ich dort immatrikuliert war, nahm ich an Vorlesungen und Seminaren zur Parapsychologie teil. Ich las eine Menge zu diesem Thema. Der Enthusiasmus für dieses Gebiet ließ dann aber nach. Es gibt eine gewisse Menge an Phänomenen, die sich nicht erklären lassen, aber neue interessante Erklärungsansätze gibt es nicht. Auf diesem Gebiet gibt es keine Entwicklung. Die Philosophie ist doch erheblich interessanter. Und im Rahmen bestimmter philosophischer Systeme lassen sich auch parapsychische Erscheinungen erklären. [97]

Dass ich in der SPD war, hat mir in dem ersten Jahr meines Aufenthalts in Freiburg sehr genützt. Schon in der zweiten Januarwoche besuchte ich die Juso-Hochschulgruppe, hatte sofort Bekannte, bekam über einen Bekannten ein Zimmer vermittelt, im Stühlinger (man sagt nicht »in« sondern »im«), dem Freiburger Universitäts-Bezirk, wo ich dann über zwei Jahre in der Ferdinand-Weiß-Straße wohnte.

Die Freiburger SPD unterschied sich stark von der Hamburger SPD. In Hamburg war die SPD traditionelle Regierungspartei, in Baden-Württemberg traditionelle Oppositionspartei. Aus beruflichen, aus Karrieregründen in der Partei zu sein, war weniger ausgeprägt. Die SPD stellte zwar den Bürgermeister und hatte das Direktmandat für den Bundestag gewonnen. (Damals war das schon Gernot Erler.) Aber der Begriff »Ortsverein« hatte hier seine Berechtigung. Die SPD-Stadtteilgruppe organisierte Stadtteilfeste, man fuhr gemeinsam zur Weinprobe aufs Land, es gab eine Genossin, die eine Nähmaschine hatte und wo Studenten kleinere Reparaturen machen lassen konnten und anstatt bezahlen zu müssen, bekam man noch eine Tasse Kaffee dazu.

Nach meinem vierten Bruch nahm ich mir vor, in Zukunft egoistischer zu sein, mich mehr um mich und meine persönlichen Belange zu kümmern, anstatt um Politik und Gesellschaft. (Aber nicht in dem Sinne, dass ich nun vorhatte, völlig in den reinen Egoismus abzudriften.) Ich bekam starke Zweifel daran, ob ich die vergangenen ca. fünfzehn Jahre meines Lebens nicht völlig verkehrt verbracht hatte. So suchte ich mir 1986 auch die entsprechende Literatur. Ich las von Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, mehrere Bücher von De Sade und von Josef Kirschner. U. a. Die Kunst ein Egoist zu sein, Manipulieren aber richtig und Erziehe dich selbst.

Ich beschäftigte mich zu dieser Zeit auch stark mit dem Solipsismus-Problem und suchte nach Büchern, Aufsätzen, Zeitschriftenartikeln etc. zu diesem Thema. Während andere Menschen die Frage stellten, ob wir allein sind im Universum, stellte ich die Frage, ob ich allein bin im Universum. Vielleicht ist ein gewisser Grad an Vereinsamung erforderlich um sich ernsthaft mit diesem Thema zu beschäftigen. Die meisten Menschen stehen einer solchen Frage natürlich mit Unverständnis gegenüber, da sie gar nicht erkennen, dass es hier ein Problem gibt. [98]

Einige Monate lang hörte, sah und las ich keine Nachrichten in Radio, Fernsehen und Tageszeitungen. Die Zeitung von gestern liest man nicht mehr. Warum sollte man dann die Zeitung von heute lesen? Statt dessen las ich platonische Dialoge. Platon hat man schon vor 2000 Jahren gelesen und sollte es in 2000 Jahren noch Menschen geben, dann werden einige von denen auch dann noch Platon lesen. Im Zusammenhang mit dem Supergau in Tschernobyl Ende April 1986 habe ich dieses Verhalten wieder aufgegeben. Freiburg und Umgebung war eine der Gegenden, wo radioaktiver Regen runterkam. Da war es sinnvoll, zumindest die Wettervorhersage zu hören. (Man kann zwar versuchen, die Ereignisse in der Welt nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, aber man entkommt ihnen dadurch nicht.)

Zu der Zeit las ich den Roman Der Name der Rose. Dies wurde zum Auslöser dafür, dass ich mich etwas näher mit dem Mittelalter und der mittelalterlichen Philosophie beschäftigte.


Während meiner Freiburger Zeit musste ich neben dem Studium arbeiten. Unterstützung wie BAföG bekam ich schon lange nicht mehr. Häufig waren es Jobs als Bauhilfsarbeiter. Nicht nur in Freiburg, sondern in der Umgebung, im Schwarzwald und auf dem Kaiserstuhl. Je ländlicher, umso stärker der Dialekt. Irgendwann verstand man nichts mehr. Und auf dem Bau hat man es nicht immer mit besonders intelligenten Menschen zu tun. (Womit ich nicht behaupten will, Bauarbeiter seien generell dumm.) Da ich während meiner Studentenzeit häufig auf dem Bau gejobbt habe, weiß ich, wie fahrlässig es da häufig zugeht, wie oft der Arbeitsschutz vernachlässigt wird. Ich wundere mich, dass nicht viel häufiger Leute vom Gerüst fallen.

Die Fahrt zur Arbeit im Zug oder im Auto war jedes Mal ein Erlebnis. In der »Földiklinik« in Hinterzarten, einer Fachklinik für Lymphologie war ich häufig beschäftigt. Die wussten, dass ich zuverlässig und fleißig bin und riefen deshalb immer erst mich an und fragten ob ich Zeit hätte, bevor sie die Studentenvermittlung vom Arbeitsamt anriefen. Dort machte ich allerlei Haus-, Garten- und Bauarbeiten. Der Hausmeister, Herr Zielke, der mein Vorgesetzter war, hatte ständig lustige Sprüche auf Lager. »Wer Kaffee trinkt, hat nicht alle Tassen im Schrank.« Oder: »Der Geisterfahrer auf der A 8 wird gebeten, sofort zuhause anzurufen.«

Einige Monate arbeitete ich ziemlich regelmäßig für eine Metallbaufirma und machte dort an einer speziellen Kopiermaschine Kopien von großen Konstruktionsplänen. Zu der Zeit hatte ich viele »Geistesblitze«, intuitive Erkenntnisse, die plötzlich in mir auftauchten und die ich in ein bereitliegendes Notizbuch eintrug. (Vielleicht lag es an den Salmiakgeistdämpfen, die aus der Kopiermaschine drangen ;-) Viele dieser Gedanken verarbeitet ich kurz darauf in »Meiner Philosophie«.


Weihnachten 1986 war noch einmal in Hamburg. Mein Vater und seine Frau (mit 59 hatte er noch einmal geheiratet) hatten mich eingeladen und die Fahrkarte bezahlt. Bei ihnen testete ich an, ob sie bereit seien, mich finanziell zu unterstützen. Denen ging es finanziell nämlich nicht schlecht. Mein Studium litt auch darunter, dass ich nebenher arbeiten musste. Diese Bereitschaft bestand aber nicht. Mein Vater hatte damals seine allerletzte Chance, ein bisschen von dem wieder gut zu machen, was er früher versäumt hatte, nämlich seine Kinder bei ihre Ausbildung zu unterstützen. Er hat diese letzte Chance nicht genutzt. Später habe ich von meinen Schwestern gehört, dass er mir gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Was nützt mir das?

Ich habe meinen Vater danach nie wieder gesehen. In den 90er Jahren hatte er mehrere Schlaganfälle, von denen ich durch meine zweitälteste Schwester erfuhr. Ich bin aber nicht nach Hamburg gefahren um ihn im Krankenhaus zu besuchen. 1996 ist er gestorben. Zu seiner Beerdigung bin ich nicht gegangen. Sein Grab habe ich nie besucht. Seine Frau bot mir dann 2.500 DM »Erbe« an. Ich habe das Geld ausgeschlagen und empfohlen, es verwahrlosten Kindern oder den Opfern religiöser Fanatiker zu spenden. Ob sie es gemacht hat, weiß ich nicht.

Ich habe keinen Grund über meinen Vater auch nur einen einzigen positiven Satz zu schreiben. (Trotzdem habe ich es mehrfach in diesem Text gemacht.) Er hat mich gezeugt. Das war's. Ansonsten verdanke ich ihm nichts.

Meine Schwestern gaben eine Todesanzeige auf mit einem religiösen Spruch und Trauerbekundungen unter die sie ungefragt auch meinen Namen setzten. Das ist die typische Dummdreistigkeit, die ich von meinen Verwandten gewöhnt bin und die ein Grund dafür ist, weshalb ich mit denen nicht verkehre. (Viele meiner Verwandten waren leider auch in anderen Bereichen psychische Trampeltiere, anmaßend und aufdringlich. Die konnten mir gar nicht helfen, sosehr sie auch den ehrlichen Wunsch hatten.)

Auch meine Mutter habe ich Weihnachten 1986 das letzte Mal gesehen. Über meine Mutter kann ich auch so gut wie nichts Positives sagen. Sie war gutmütig. Im Gegensatz zu meinem Vater hat sie mir während meines Studiums des Öfteren Geld geliehen und zum Teil dann nicht zurückverlangt und sie hat für einen Kredit gebürgt, den ich aufnahm um meinen zweiten Englandaufenthalt zu finanzieren. Aber diese kleinen finanziellen Gefälligkeiten konnte bei weitem nicht ausgleichen, was mir in meiner Kindheit durch ihr Verhalten an Schäden entstanden sind. Ich könnte ihr z. B. jede Rechnung für Kontaktlinsen und Zahnprothesen zuschicken. Nun sagt mancher: »Sie hat es nun mal nicht besser gewusst und gekonnt.« Das mag ja sein. Aber dann hätte sie eben nicht Mutter werden dürfen. Außerdem kann man mit einem solchen Einwand sehr viele Menschen von aller Schuld freisprechen.


Im Januar 1987 las ich auf Anregung einer Bekannten den Steppenwolf von Hermann Hesse. Dieses Buch besaß ich bereits seit ca. 10 Jahren. Es war mir 1977/78 von einem Bekannten (Uwe Lütten) geliehen worden, der sich Anfang September 1978 das Leben genommen hat. (Den Tag darauf reiste ich für knapp drei Wochen nach England. Von seinem Tod habe ich erst nach meiner Rückkehr nach Hamburg erfahren.) Ich hatte dieses Buch damals kurz angelesen, aber kein Interesse daran entwickeln können. (In den späten 70er Jahren hatte ich auch schon mal den Faust und die Buddenbrooks angelesen. Aber zu der Zeit hatte ich noch nicht das Niveau, um diese Bücher zu schätzen und in ihnen etwas zu entdecken.) Jetzt, zehn Jahre später, war Der Steppenwolf für mich eine Offenbarung. (Obwohl dies kein angenehmes Wort für mich ist.) In meiner Entwicklung war es inzwischen zu einem weiteren qualitativen Sprung auf ein höheres intellektuelles Niveau gekommen und – das war mindestens genauso wichtig – ich war in einer anderen Lebenslage. Ich war der Steppenwolf! Die Person, die dort beschrieben wurde, glich mir – abgesehen von diversen Details – dermaßen, dass es fast meine eigene Lebensbeschreibung hätte sein können! Meine individuelle Geschichte, meine Lebenslage, meine innere Gemütsverfassung.

Ich war 35 Jahre alt. Es hat nie zuvor und nie danach in meinem Leben ein Buch gegeben, dass eine solche Wirkung auf mich hatte. (Und ich habe in meinem Leben sehr viele Bücher gelesen.) Das Buch schlug wie ein Vorschlaghammer in mein Leben hinein. Das mag sich für Außenstehende etwas übertrieben anhören. Aber es war so. Schwächere Formulierungen würden die Wirkung dieses Buches auf mich und auf meine weitere Entwicklung nicht richtig wiedergeben. Es war, als hätte ich einen Hieb mit einer (geistigen) Keule erhalten. Ich sah in einen Spiegel hinein. Und ich sah, dass ich so nicht bleiben konnte. (Leider ist nie meine Hermine aufgetaucht.)

Wenn ich dieses Buch heute zuweilen lese, hat es nicht mehr die Wirkung wie 1987. Nicht nur, weil ich es bereits kenne, sondern weil ich in einer anderen Stimmung bin. 1987 befand ich mich in der gleichen Gemütsverfassung wie Harry Haller.

Ich hatte vier Brüche in meinem Leben, in denen ich in einem starken Maße mit fast allem gebrochen hatte, was vorher war. Wie der Steppenwolf hatte ich bei allen diesen Brüchen etwas gewonnen, aber ich hatte es mit Vereinsamung, mit Unverstandensein und mit Krankheit bezahlen müssen.

Harry Haller war zwischen zwei Zeiten geraten, ich war zwischen zwei soziale Schichten geraten. Harry Haller stellte fest, wenn man sich selbst nicht liebt, dann kann man auch andere nicht lieben. Ich stellte fest, wenn man sich selber nicht helfen kann, dann kann man auch anderen nicht helfen. Wer in seinem eigenen Leben nicht klarkommt, wer sich überhaupt nicht um sich selbst, um sein eigenes Wohlergehen kümmert, der fällt irgendwann auch für die Gemeinschaft aus, wie derjenige, der von Beginn an auf puren Egoismus macht.

Ich hatte zwar einen Schein, auf dem stand, dass ich Diplom-Sozialwirt sei. Aber ich war kein Diplom-Sozialwirt. Ich war gar nichts. Ich war wie der Steppenwolf berufslos, heimatlos, familienlos. Stand außerhalb aller sozialer Gruppen, von niemanden geliebt. Frei und unabhängig. Und wie dem Steppenwolf wurde mir diese erstrebte Freiheit zum Verhängnis.

Ich sage ohne falsche Bescheidenheit: Ich gehöre wie Harry Haller zu den Menschen, die eine (geistige) Dimension mehr haben, als die meisten anderen. Das führt dazu, dass eine innige Bindung zu den meisten anderen Menschen gar nicht möglich ist, da das, was mir am wichtigsten ist, sich außerhalb ihres geistigen Horizonts befindet. Dieses Problem wäre erheblich kleiner, hätte ich mich schon immer in einem intellektuellen Umfeld befunden.

Es gibt im Steppenwolf auch Dinge, die mir nicht gefallen. Wenn jemand einen autobiographischen Roman schreibt, dann sollte er über sich selbst etwas bescheidener reden. Loben sollte man sich von anderen lassen. So sehr ich dieses Buch schätze und inzwischen viele Male gelesen habe, die Stellen, wo Hesse über Harry Haller, der er ja selbst ist, allzu positiv schreibt, stören mich immer wieder. Hesse und Der Steppenwolf stehen für mich also nicht etwa außerhalb der Kritik. (Hesse ist auch zu metaphysisch. Erkenntniskritik bezogen darauf habe ich nicht bei ihm gefunden.)

Wenn ein Literaturwissenschaftler dieses Buch liest, dann werden dem ganze andere Dinge auffallen und interessieren. Mir ist an diesem Buch das aufgefallen, was für mein Leben von Bedeutung war.

Ich bin bis zum heutigen Tag in vielen Bereichen Steppenwolf geblieben. Was den allgemeinen Grundcharakter und die allgemeine Lebenssituation anbetrifft. Meine innere Gemütsverfassung ist heute aber besser als 1987. Ein wichtiger Unterschied zu Harry Haller ist auch, dass ich ein starker Befürworter des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bin und die moderne Welt und Kultur nicht in dem Maße ablehne, wie Harry Haller das macht. Deshalb habe ich im Gegensatz zu Hesse nicht den metaphysischen, sondern den wissenschaftlich-technischen Weg gewählt, zur Überwindung meines Steppenwolfdaseins und zur Lösung der Menschheitsprobleme generell.

Unter den vielen englischsprachigen Songs, die ich zwecks Vokabellernens übersetzt habe, ist auch I Am A Rock, von Simon and Garfunkel. Dieser Text traf teilweise schon seit Mitte der 70er Jahre auf mich zu. Je älter ich werde, umso stärker gibt er mein Leben wieder. Mit der Ausnahme allerdings, dass ich Lachen nicht gering schätze. [99]


Wie weiter vorne bereits kurz angesprochen, war ich in meiner Jugendzeit ein begeisterter Witzerzähler. U. a. lag das daran, dass ich ein gutes Gedächtnis besaß und einige hundert Witze kannte. Ich hatte zu dieser Zeit auch schon Sketche von Kittner und Neuss, Gedichte von Heinz Erhardt u. ä. vorgetragen.

1987 begann ich eigene Texte zu schreiben. Dass ich wieder stärker Humor betrieb, dazu wurde ich durch den Steppenwolf angeregt.

Ein Norddeutscher in Baden-Württemberg: Da klingt die Aussprache für die Einheimischen schon amüsant. Gleiche Dinge werden in Nord- und Süddeutschland oft unterschiedlich genannt. Zu Beginn wusste ich nicht, was z. B. Weckle, Schorle oder »saurer Sprudel« ist. (Mineralwasser mit Kohlensäure) Die Landschaft in Nord- und Süddeutschland unterscheidet sich, wie auch gewisse Gebräuche. So schrieb ich u. a. Texte, in denen diese Unterschiede besonders hervorgehoben wurden.

Ich suchte einen Künstlernamen, der mich als Norddeutschen auswies. Norddeutsche werden in Süddeutschland gelegentlich »Fischköpfe« genannt. Während des Kabaretts oder dem Vorlesen von Geschichten sprach ich absichtlich mit spitzen »s« und gerollten »r«. Ich überbetonte meinen norddeutschen Akzent. Alles dies sollte im Künstlernamen seinen Niederschlag finden. Und dann fiel er mir plötzlich ein: Sven Sprottenkopp.

Und da die Süddeutschen gemäß ihrer Aussprache »Schprottenkopp« daraus machten, schrieb ich mich »Sven Zprottenkopp«. Und meine erste Geschichte hieß: Ein Hamburger in Freiburg. Die Geschichte, in der ich neben eigenen Einfällen einige alte Witze verarbeitete, handelte von einem »Nordarbeiter«, d. h. einem Norddeutschen, der wie ein Gastarbeiter nach Süddeutschland kommt und dort vieles merkwürdig findet. [100]

Vom Herbst 1987 bis zum Frühjahr 1989 bin ich im Schnitt zweimal im Monat aufgetreten. An der Universität, in Kleinkunst-Kneipen und in Jugendzentren. Einmal machte der Südwestfunk einen ca. dreiviertelstündigen Mitschnitt. Ob und wie viel davon später im Radio gesendet wurde, weiß ich allerdings nicht.


Schon als ich nach Freiburg ging, hatte ich mir vorgenommen, mein Uni-Studium notfalls auch ohne Abschluss zu beenden, sowie ich einen dauerhaften Job bekommen sollte, der mir einigermaßen zusagt. Mit dem HWP-Diplom hatte bereits einen Hochschulabschluss. Ein weiteres Diplom hielt ich nicht unbedingt für nötig.

Nach einigen erfolgreichen Kabarettauftritten hatte ich die Hoffnung, ich könnte in Zukunft meinen Lebensunterhalt mit Kabarett verdienen. Bis dahin wollte ich aber einen festen Job haben, da mich die finanzielle Unsicherheit auf Dauer doch etwas störte.

Ein anderer Student, mit dem ich des Öfteren über Philosophie diskutierte, hatte sein Studium abgeschlossen, sich beim Arbeitsamt gemeldet und da er als bisheriger Student keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder -hilfe hatte, ans Sozialamt verwiesen worden. Die Stadt Freiburg stellte ihn für fünf Monate in einer sozialen Einrichtung ein. Nach diesem Zeitraum hatte man einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe, die nicht die Stadt zahlen muss, sondern das Arbeitsamt.

Als ich von dieser Möglichkeit erfuhr, entschloss ich mich, davon Gebrauch zu machen. Dafür musste ich aber meinen Studenten-Status aufgeben. Als Student hatte man keinen Anspruch auf Sozialhilfe. So ließ ich mich dann zum Wintersemester 87/88 ohne Studienabschluss exmatrikulieren.

Aber ich wollte auf jeden Fall einen Abschluss für mich selbst. Ich wollte einmal zusammenhängend aufschreiben, zu welchen Auffassungen mich mein bisheriges Leben, meine bisherigen Gedanken gebracht hatten. Und so schrieb ich im Herbst 1987 »Meine Philosophie«. (Das war der letzte Text, den ich auf einer Schreibmaschine schrieb.) Zum großen Teil war es eine Systematisierung von Gedanken, die ich seit 1985 in meinem Tagebuch aufgeschrieben hatte. Am Anfang hatte ich meiner Schrift den Titel Zur Freiheit verurteilt gegeben. Das war mir dann aber doch zu pathetisch. (Außerdem war dieser Satz schon von Sartre vereinnahmt. Und mit dem hatte ich viele Differenzen. Bei mir bedeutet dieser Satz etwas anderes als bei Sartre.) Ich wollte ja kein Buch schreiben, dass ich einem Verlag anbieten wollte. Das Selbstvertrauen hatte ich gar nicht. Dazu hatte ich mich viel zu minderwertig gefühlt. (Und gemessen an den »großen Philosophen« war ich es ja auch.) [101] Ich wollte meine Philosophie aufschreiben, meine Gedanken, die ich nicht für besonders gewaltig und hochstehend ansah, aber eben als mein gedankliches Produkt, nicht etwas, das ich irgendwo abgeschrieben hatte, oder irgendwelche Dinge, die ich nur schrieb, um einen Studiennachweis oder einen Titel zu erwerben. Meine Philosophie. Punktum.

In Meiner Philosophie beschrieb ich im 1. Teil, wie ich zum Skeptizisten, Solipsisten und Nihilisten geworden war und zeigte im 2. Teil Möglichkeiten auf, diese Positionen wieder zu überwinden. Im 3. Teil stellte ich dar, warum mir ein idealistisches Weltbild plausibler ist als ein materialistisches und im 4. Teil schrieb ich etwas über mein Menschenbild. Ich war einst ein marxistischer Dogmatiker, war zum Skeptizisten geworden und dann zum undogmatischen Pantheisten. Der Pantheismus lässt sowohl die Möglichkeit das naturwissenschaftliche Weltbild ernst zu nehmen, als auch einen geistigen Kern der Welt für wahrscheinlich zu halten. (Deshalb ist der Pantheismus für mich nicht ein »höflicher Atheismus«, wie Schopenhauer meinte.) Der Pantheismus war für mich aber nie ein Glaube, ein Dogma, sondern eine plausible philosophische Hypothese. [102]

Die heutige Fassung von Meiner Philosophie stimmt nicht in allen Punkten mit der von 1987 überein. Besonders Anfang der 90er Jahre habe ich viel umgestellt, Kapitel weggelassen, andere zu einem zusammen gefasst etc. Ab 1998 habe ich im Zusammenhang mit der Erstellung des philolex den Anmerkungsteil nach und nach beträchtlich erweitert. (Auch bedingt durch Kritiken von Lesern, nachdem ich Meine Philosophie 1999 im Internet veröffentlicht habe.) Aber der Kern, die Grundaussagen Meiner Philosophie haben sich seit 1987 nicht mehr geändert. (Es gab ursprünglich am Ende drei gesellschaftspolitische Kapitel, in denen ich stark an Popper angelehnt den Dogmatismus verwarf und die Reform der Revolution vorzog. Statt »erleben« hatte ich zu Beginn »empfinden« als Universalverb.)

Es gibt zwei Bücher, die aufzeigen, was für ein Mensch ich in der zweite Hälfte der 80er Jahre war: Meine Philosophie und Der Steppenwolf.

Am Ende meiner Studentenzeit hatte ich Studierfähigkeit erworben. (Jedenfalls gemessen an meinen heutigen Ansprüchen.) Ich bin nicht von heut auf morgen vom Hilfsarbeiter zum Intellektuellen geworden. Ich war ein Talent, aber kein Genie. Es war ein sehr langsamer aber stetiger Prozess. 20 Jahre nachdem ich die Volksschule verlassen hatte, ohne das Ziel der 8. Klasse erreicht zu haben, war ich ein Intellektueller. Wenn ich nun den Faust las, dann waren das nicht nur Wörter und Sätze, irgendeine Geschichte halt, jetzt konnte ich darin etwas entdecken. Ich konnte mir jetzt vorstellen, was Goethe wohl gemeint hatte, als er Faust sagen ließ: »Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.« Aber was nützte mir das?

Hätte ich bei meinem Studienbeginn an der HWP 1976 oder an der Universität 1979 bereits das qualitative intellektuelle Niveau gehabt (nicht das Detailwissen), dass ich 1987 am Ende meiner Studentenzeit hatte, dann hätte ich ohne Probleme Doktor oder Professor werden können. Da bin ich mir ziemlich sicher. Aber woher hätte ich dieses Niveau damals haben sollen?

Auch wenn ich keinen Uni-Abschluss gemacht habe, mein Uni-Studium war für meine intellektuelle Weiterentwicklung entscheidend wichtig. Ohne dieses Studium gäbe es heute von mir keine philosophischen Texte und keine Auffassung von der Notwendigkeit der Selbstevolution des Menschen.


Ich war damals stark von Erich Fromm beeinflusst, u. a. von seinem Buch Haben oder Sein. Nach Fromm schöpft ein »Haben-orientierter« Mensch seine Identität aus dem, was er hat, z. B. materielle Güter, religiöse Überzeugungen, Titel etc., oder auch aus dem, was er nicht hat. Ein »Seins-orientierte« Mensch schöpft nach Fromm seine Identität aus dem, was er ist, wie er denkt, handelt. Ein Seins-orientierter Mensch wächst, produziert, ist schöpferisch, lebt. Ein Haben-orientierter Mensch besitzt etwas faktisch totes. Diese Auffassungen Fromms und mein praktiziertes Leben stimmten weitgehend überein. Mir war Zeit zum Lesen, Denken, Diskutieren, Schreiben etc. immer wichtiger gewesen als Eigentumserwerb. Das letzte Refugium der Haben-Orientierung bei mir war das Büchersammeln. Und dieses letzte Refugium wollte ich schließen.

Was mir damals nicht genug bewusst war: Haben ist oft die Voraussetzung für Sein. Um Fromms Theorien verstehen zu können, braucht man eine gewisse Menge an Bildung, anders ausgedrückt, »man muss Bildung haben«. Man muss Zeit und Konzentrationsvermögen haben. Wer ein finanzielles Vermögen hat, wer sich um die materiellen Grundlagen seines Lebens nicht zu kümmern braucht, hat mehr Zeit für seins-orientiertes Verhalten. Und Bücher, die man häufig nutzt, die sollte man auch haben.

In der ersten Jahreshälfte 1987 habe ich alle meine Bücher verkauft, verschenkt oder weggeworfen. Heute bedauere ich das sehr. Ich hatte mal eine ganze Zimmerwand voll. Ca. drei Viertel der Bücher, die ich 1987 besaß, hätte ich allerdings später nie mehr benutzt. (Viele Bücher habe ich überhaupt nie gelesen. Nur zwei Beispiele: Die gesammelten Werke von Ernst Bloch für 180 DM. Gelesen habe ich davon »Prinzip Hoffnung«. Die gesammelten Werke Lenins. An die 40 Bände. Richtig drin gelesen – nicht nur durchgeblättert – habe ich vielleicht in zehn.) Schade ist es um das Viertel meiner Bücher, das weiter einen Wert für mich gehabt hätten. (Aber auch hier heilt die Zeit fast alle Wunden. Das Internet hat inzwischen eine solche Bedeutung erlangt, dass es alle wichtigen Informationen bereitstellt.)


Die Stadt Freiburg beschäftigte mich für fünf Monate beim Ökomedia Institut, das verfügbare ökologische Medien auflistete (Filme, Bücher etc.) und jährlich ein Festival ökologischer Filme veranstaltete. [103] Besonders wohl gefühlt habe ich mich beim Ökomedia Institut, besonders die letzten Monate, nicht. Aber meine Arbeit dort führte zu einer wichtigen Neuerung in meinem Leben. Meine Aufgabe bestand darin an einem PC eine Adressenkartei mit dem Datenbankprogramm »dBase« zu erstellen. Es war auch gerade eine Version von »Starwriter 3.0« angeschafft worden. (Textverarbeitung, Datenbank, Zeichenprogramm.) Ich arbeitete mich in die verschiedenen Programme ein und der Computer und seine vielfältigen Einsatzmöglichkeiten begannen mich zu faszinieren.

Ich bemerkte schnell, welche immensen Vorteile ein Computer mit Textverarbeitungsprogramm gegenüber einer Schreibmaschine hat und kaufte mir im Herbst 1988 meinen ersten eigenen Computer. Einen XT (Extended Technology), Commodore 1, mit einem 5¼ Zoll-Laufwerk und keiner Festplatte. Eine Floppy-Disk hatte eine Kapazität von 360 KB. (Kilobyte) Eine externe Festplatte, mit einer Kapazität von 10 MB (Megabyte) und der Größe eines Schuhkartons hätte man zusätzlich erwerben können. (Die Schuhkartons sind seit damals nicht kleiner geworden ;-) Die Taktgeschwindigkeit war 4,4 MHz – Megahertz, soweit ich erinnere. Heutige PC sind tausende mal schneller! Der Computer hatte 640 KB RAM. (Random Access Memory – Arbeitsspeicher. – »Mehr wird nie jemand brauchen.« So 1983 Bill Gates. Heute brauchen viele von ihm gelieferte Programme 4 Gigabyte RAM, d. h. über vier Millionen Kilobyte.)

Der zweite Computer, den ich mir Anfang der 90er Jahre kaufte, war ein AT (Advanced Technology), ein 286er mit 3½ Zoll-Laufwerk und einer Festplatte von 50 MB. Die Geschwindigkeit war 16 MHz. Man konnte den Computer auf acht MHz runterschalten, da ansonsten einige Computerspiele nicht mehr richtig gelaufen wären. Der teuerste Computer, den man damals bei Vobis kauften konnte, war ein 386er mit vier MB RAM. Der kostete fast 4.000 DM. Ein solch teures Gerät konnte ich mir nicht leisten. An solchen Zahlen erkennt man, welche immensen Fortschritte es im Computerbereich in den letzten 20 Jahren gegeben hat. Mein erster 12 Zoll Farbmonitor kostete damals bei Vobis 999 DM. 17 Zoll Monitore oder Flachbildschirme waren – jedenfalls für Otto Normalverbraucher – noch gar nicht existent. Irgendwann um das Jahr 2000 herum, bei Karstadt in der Computerabteilung: 19 Zoll Flachbildschirme für 6.000 DM. Sehnsüchtige Blicke habe ich darauf geworfen, wie andere Männer auf ein Pin-up-Girl. »Schade, dass ich das Geld nicht habe!« USB-Sticks mit 32 Gigabyte Speicher? Science-Fiction!

Mit dem Computer schrieb ich nicht nur Texte, sondern ich machte auch Computerspiele und ich verschaffte mir allgemeine Kenntnisse über den Computer, sowohl der Hardware, wie der Software. Fast ausschließlich autodidaktisch. Seit dieser Zeit ist der Computer ein fester Bestandteil meines Lebens geworden, den ich mir nicht mehr wegdenken kann und will. In den 90er Jahren hatten alle meine Beschäftigungen in stärkerem oder weniger starkem Maße mit Computern zu tun.


In der Hoffnung im Rhein-Main-Gebiet mehr Auftrittsmöglichkeiten zu haben, zog ich im Frühjahr 1989 nach Frankfurt. Das war ein Fehler. Frankfurt war bei weitem nicht so angenehm wie Freiburg. Ich war auch in Frankfurt häufig krank und so war es unmöglich, in größerem Maße nach Auftrittsmöglichkeiten zu suchen.

Im Herbst 1989 hörte ich endgültig mit dem Rauchen auf. Zwischen 1969 und 1989 habe ich ca. ein Drittel der Zeit viel geraucht, ca. ein Drittel der Zeit gar nicht (das waren Phasen, in denen ich es mir abgewöhnt hatte) und ca. ein Drittel der Zeit habe ich wenig geraucht. (Das waren die Phasen, wo ich glaubte, man könne ja gelegentlich mal eine rauchen. Nach einer gewissen Zeit waren, es dann zwei oder drei, dann fünf etc. Und dann war man wieder voll drin.) In Freiburg hatte ich aus Liebeskummer wieder angefangen zu rauchen. Ich hatte mich wieder einmal Dummerweise in eine kleine blonde Studentin verliebt. [104]


*   *  *

Und dann passierte etwas, das ich für das 20. Jahrhundert nicht mehr erwartet hatte: In Osteuropa brach das sowjetische System zusammen.

Auf Grund meiner politischen Vergangenheit und da die Sowjetunion und alles, was mit ihr zusammenhing, über Jahre hinweg mein Studienschwerpunkt war, beobachte ich die Entwicklung im Osten Europas verständlicher Weise mit besonderem Interesse.

Wie weiter vorne näher ausgeführt, hatten die Kommunisten ein verkehrtes Menschenbild. Die Natur des Menschen macht den Kommunismus unmöglich. Über dieses verkehrte Menschenbild hinaus waren die Kommunisten aber zusätzlich auch noch Dogmatiker. Sie zogen nicht in Erwägung, sich mit ihrem Menschenbild und ihren Zukunftsvoraussagen zu täuschen. Und aus ihrem absoluten Wahrheitsanspruch leiteten sie einen absoluten Machtanspruch ab.

Dort, wo es den Kommunisten gelang, die Macht zu ergreifen, begannen sie mit dem Versuch, etwas unrealisierbares zu realisieren. Was dabei herauskam, war die »Industrielle Despotie«. An diesem Begriff Bahros hatte ich festgehalten, auch nachdem ich unter dem Einfluss Poppers seinen Geschichtsdeterminismus verworfen hatte.

Mir war spätestens seit 1982/83 klar, dass die Industrielle Despotie den Wettkampf der Systeme mit dem durch Sozialstaats-Elemente ergänzten Kapitalismus verloren hatte. Und es war mir klar, dass sich daran auch in Zukunft nichts mehr ändern würde.

Ich las damals noch gelegentlich VSA-Literatur. In einem Artikel stand, nach der Erschließung der Bodenschätze in Sibirien würde es in der Sowjetunion einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung geben. Über solche Auffassungen konnte ich nur noch müde lächeln.

Mir war klar, dass nicht der Kapitalismus, sondern das sowjetische System in Osteuropa irgendwann verschwinden würde. Aber wann und unter welchen Umständen, darüber hätte ich keine Aussagen gemacht. Für das 20. Jahrhundert hatte ich ein Verschwinden dieses Systems nicht erwartet.

In der ersten Hälfte der 80er Jahre starb die Breschnew-Generation aus. Das waren die Leute, die die Grundlage ihrer Karriere in den späten 30er Jahren gelegt hatten, als sie sich bei den großen Säuberungen besonders hervortaten. An den Händen dieser Leute klebte das Blut hunderttausender ermordeter Kommunisten. Diese Leute waren zu neuen Einsichten und neuem Handeln nicht fähig. [105]

1985 kam zum Scheitern des sowjetischen Systems nun mit Gorbatschow der »subjektive Faktor« hinzu. Er und viele, die ihn stützten, hatten erkannt, dass man so wie bisher nicht weitermachen konnte, wollte man nicht immer weiter hinter dem Westen zurückbleiben. Gorbatschow wollte nicht das sowjetische System abschaffen, er wollte es reformieren. Aber bei dem Versuch es zu reformieren, brach es zusammen.

Die Sowjetunion hätte eventuell auch einen Weg wie China gehen können. Einführung einer weitgehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung bei gleichzeitigem Machterhalt der Kommunistischen Partei. Es wäre eine Art Rückkehr zur NÖP Lenins gewesen. Ob das in der Sowjetunion möglich war, steht in den Sternen. Aber selbst wenn, dann hätte es ja nichts am Scheitern der »Industriellen Despotie« geändert. Nur die Art, wie man auf dieses Scheitern reagiert hätte, hätte sich unterschieden. Und dass China irgendwann mal an der »ökonomischen Basis« den Sozialismus wieder einführt, ist sehr unwahrscheinlich. Sie werden vielleicht auf Dauer ein autoritäres politisches System bei gleichzeitiger Liberalität in der Wirtschaft haben. Mit Kommunismus hat das ganze herzlich wenig zu tun. Da kann sich die regierende Partei tausendmal »kommunistisch« nennen.

Dass in der Sowjetunion überhaupt ein Reformer an die Macht kommen konnte, hatte zur Voraussetzung die Entspannungspolitik in Europa, die seit Anfang der 60er Jahre betrieben wurde und besonders mit dem Namen Willy Brandt verbunden ist. Das sowjetische System hätte auch in Form des 3. Weltkrieges zusammenbrechen können. Und dann sähe die Welt heute anders aus.

(Nordkorea und Kuba haben den Wettkampf der System auch verloren und die dortigen Regime brechen nicht zusammen. Es hat zwischen den beiden Koreas und zwischen Kuba und den USA nichts Vergleichbares zur Entspannungspolitik in Europa gegeben.)

Noch im Sommer 1989 hielt ich einen baldigen Untergang des Stalinismus in Osteuropa für unwahrscheinlich. Auch unter dem Eindruck des Massakers in Peking, wo die Studentenrevolte blutig unterdrückt wurde.

Dann kam der Umschwung in Ungarn, der mich besonders freute, da ich seit der Erstellung meines Ungarnreferats sieben Jahre vorher viel über Ungarn wusste und mir auch bekannt war, was an Geschichtsfälschungen bezüglich des Ungarnaufstandes betrieben – und von vielen westdeutschen Linken geglaubt – wurde. Nachdem ich zweimal von linksdogmatischen Professoren für mein Ungarnreferat keinen Schein bekommen hatte, freute es mich natürlich außerordentlich, dass nun die Ungarische KP und der Ungarische Staat Einschätzungen vornahmen, die meinen Darstellung der Ereignisse entsprachen. An Prof. Gantzel habe ich damals einen sehr sarkastischen Brief geschrieben.

Im Herbst beobachtete ich mit zunehmenden Interesse die Entstehung oppositioneller Gruppen und die Zunahme von Demonstrationen in der DDR.

Am 9. Oktober 1989 kam ich gegen viertel vor zehn nach Hause und da ich wusste, dass an dem Abend eine Demonstration in Leipzig angesagt war, stellte ich den Fernseher an, ZDF Heute-Journal, das um 21.45 begann. Die Sendung lief bereits seit einigen Minuten und ich hörte den Moderator sagen: »In Leipzig demonstrieren also 70.000 Menschen und die Polizei beschränkt sich darauf, den Verkehr zu regeln. Das ist eine neue Situation.« So war es. An dem Abend war der »point of no return« überschritten.

Wie man heute weiß, standen in den Seitenstraßen bewaffnete Volkspolizei, Volksarmee und Betriebskampfgruppen. Es hätte ein Blutbad geben können, wie im Juni des gleichen Jahres in Peking. Der 9. Oktober war der Tag der Entscheidung. An diesem Abend war die DDR-Führung stehend KO.

Was dann kam, in Leipzig am 16. Oktober 120.000 Demonstranten, am 23. Oktober 300.000 Demonstranten, am 4. November auf dem Alexanderplatz in Berlin 500.000 Demonstranten, die riefen »Wir sind das Volk« war die unabwendbare Weiterentwicklung. Der Mauerfall in der Nacht vom 9. auf den 10. November war der Höhepunkt dieser Entwicklung, aber nicht der Tag der Entscheidung. (Auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor standen Westberliner, die dort ein happening veranstalteten, nicht Ostberliner, die die Mauer gestürmt hätten. So revolutionär waren die nun auch wieder nicht.)

In den folgenden Monaten ging die DDR »den Bach runter«. Jede andere Formulierung wäre eine Verniedlichung der Tatsachen. Die staatlichen Institutionen lösten sich in einem Tempo auf, bzw. verloren ihre Autorität, die ich nicht erwartet hatte. Und wohl fast niemand sonst. Außerdem gingen Hunderttausende sofort in den Westen. (Trotz Wiedervereinigung wurden es schließlich fast zwei Millionen. Ohne Wiedervereinigung wären es noch ein paar Millionen mehr gewesen.) Die DDR war nicht mehr zu retten.

Die Wiedervereinigung war unabwendbar. Nur durch einen massiven Einsatz der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen, hätte der Untergang der DDR aufgehalten werden können. Aber die sowjetische Regierung hatte ihre schützende Hand fortgenommen. Damit war das Schicksal der DDR besiegelt. Wer dagegen in Bonn gerade Bundeskanzler war, das spielte überhaupt keine Rolle! Kohl verdankt seinen Platz in der Deutschen Geschichte dem Zufall, dass gerade während seiner Amtszeit das sowjetische System in Osteuropa zusammenbrach. Lafontaine, zu dieser Zeit Kanzlerkandidat der SPD, vertrat 1989/90 eine »Anti-Einheitshaltung«. Er lag damit neben der Befindlichkeit der Menschen in Ost- und Westdeutschland. Er hat mit dieser Haltung die Volkskammerwahl im Frühjahr 1990 und die Bundestagswahl im Herbst 1990 verloren. Aber selbst wenn er Bundeskanzler gewesen wäre, hätte es die Wiedervereinigung gegeben, weil es zu ihr überhaupt keine Alternative gab.

Die westdeutschen Linken sprachen immer vom »Schweinesystem«. Sowenig ich den Kapitalismus bis zum heutigen Tag mag, das sowjetische System war das größere Schweinesystem. Wenn man heute über die Berufsverbote in Westdeutschland in den 70er und 80er Jahren spricht, dann gehört dazu über die politische Unterdrückung in Ostdeutschland zu sprechen. Da gab es Berufsverbote in ganz anderen Dimensionen, quantitativ und qualitativ. Dort kamen aufmüpfige junge Menschen nicht mal auf die erweiterte Oberschule, geschweige denn an die Universität. Dort gingen Menschen für Protestaktionen für Jahre ins Zuchthaus, die im Westen niemand sonderlich beachtet hätte. Wer das (aus meiner Altersgruppe) bis heute nicht begriffen hat, ist geistig beschränkt. Das gleiche trifft zu beim Vergleich von Verfassungsschutz und Stasi. (Man stelle sich mal vor, es hätte in Westdeutschland Gefängnisse unter Kontrolle des Verfassungsschutzes gegeben für Staatsfeinde. Für Leute, die Flugblätter verteilten oder abfällige Bemerkungen über die Regierung gemacht hätten.)

Unter den deutschen Politikern des 20. Jahrhunderts war einer der Besten Willy Brandt. D. h. aber nicht, dass er außerhalb der Kritik stünde. Die Berufsverbote, die auf seine Initiative zustande kamen, waren ein Fehler. Sie haben der DKP unnötig Sympathisanten zugetrieben. Die DKP war auf Grund ihrer DDR-Nähe zur Erfolglosigkeit verurteilt. Es war unnötig, sie durch Berufsverbote aufzuwerten. Aber die Motivation, aus der heraus diese entstanden, ist nachvollziehbar. Dass ein Mensch, der in Moskau oder Ostberlin politisch »ausgebildet« wurde (man kann auch sagen »indoktriniert« wurde) in Westdeutschland nicht Politiklehrer an einer Schule werden konnte, ist verständlich. Man hätte aber stärker differenzieren sollen. Nicht jede Arbeit im Öffentlichen Dienst war für moskautreue Kommunisten ungeeignet. (In einem Land, in dem ein Scharlatan wie Schill Richter werden konnte, hätte auch ein DKP-Mitglied Richter sein können.)

Ich bin ein Benachteiligter des kapitalistischen Systems. Das kann ich ja wohl ohne Übertreibung sagen. (Und ich bin ein Nutznießer des Sozialstaates. Ohne ihn hätte ich kein Studium über den 2. Bildungsweg machen können.) Trotzdem bin ich dazu in der Lage, zu erkennen, dass das sowjetische System, wenn es auch partielle Vorteile für Arbeiter und Arbeiterkinder hatte, im Ganzen betrachtet, das schlechtere System war. Und ich bin sehr sehr sehr froh, dass es untergegangen ist! Und ein Großteil dessen, was die ehemals »sozialistischen« Länder heute an Problemen haben, z. B. Straßenkinder, Massenarbeitslosigkeit, Niedriglöhne und anderes soziales Elend, das sind die Spätfolgen des stalinschen Schweinesystems. Wären diese Länder den westeuropäischen Weg zum Sozialstaat gegangen, sehe es dort heute erheblich besser aus. (Natürlich muss man jetzt den Kampf gegen z. T. frühkapitalistische Zustände und für einen effektiven Sozialstaat aufnehmen.) [106]

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16. Kapitel
Berlin

Im Frühjahr 1990 entschloss ich mich nach Berlin zu ziehen. Berlin, so sagte ich mir, wird in den nächsten Jahrzehnten die interessanteste deutsche Stadt sein. Aus Frankfurt wollte ich sowieso wieder weg.

Über ein Inserat in der taz fand ich von Frankfurt aus in Zimmer zum 1. Juni in Berlin-Heiligensee, im äußersten Nordwesten Westberlins. Dort wohnte ich im Juni und Juli 1990.

Ich machte intensive Besuche in Ostberlin und den um Berlin herumliegenden Kleinstädte und ländlichen Gegenden. Es fiel mir jetzt vieles auf, was mir Mitte der 70er Jahre nicht aufgefallen war.

Als ich in Heiligensee wohnte, war gerade ein Grenzübergang nach Hennigsdorf geschaffen worden, das nordwestlich von Heiligensee liegt. Ich bin mit dem Fahrrad dort rübergefahren und habe mir diese Kleinstadt etwas näher angesehen und habe dabei Wörter gesteigert, die sich gar nicht steigern lassen: Tot, töter, am tötesten. Nest, nester, am nestigsten. Es war so etwas von trostlos und öde. Und das, obwohl diese Stadt ein wichtiger Industriestandort war. (Seither mache ich im Schnitt einmal im Jahr eine Radtour nach Hennigsdorf und habe beobachtet, wie es sich Schritt für Schritt verändert hat. Heute ist es mit 1990 nicht mehr vergleichbar. Da hat sich ganz gewaltig was getan.)

Die Bezirke Prenzlauer Berg und Friedrichshain waren Ruinenstädte! Die Häuser, die Straßen und Fußwege waren fast überall verfallen. Die Gebäude auf der Museumsinsel und die Häuser drum herum verfallen und mit Einschusslöchern aus dem 2. Weltkrieg (!) übersäht. (Die Exponate der Museen waren aber sehr sehenswert. Stammte fast alles aus Vor-DDR-Zeiten.) [107]

Die neugeschaffenen Bezirke Marzahn und Hellersdorf waren ein unüberschaubares Meer von Plattenbauten, die sich so gut wie überhaupt nicht voneinander unterschieden. Dazwischen waren Parkplätze und hier und da eine Kaufhalle. Vereinzelt sah man sogar mal einen Baum. Großlohe war ein Idyll dagegen.

Die Kleinstädte um Berlin herum waren verfallen. Viele Häuser unbewohnbar. In Bernau war ich im dortigen Stadtmuseum und sah mir ein Modell des mittelalterlichen Stadtkerns an. Dort, wo der einst war, standen nur noch Plattenbauten. Es war zum Heulen! Eine Mitarbeiterin des Museum versuchte mir einzureden, die mittelalterlichen Häuser seien alle auf Grund der damals verwendeten Baumittel verfallen. Eine reine Schutzbehauptung! Der mittelalterliche Stadtkern war ein Opfer der DDR geworden. Die DDR konnte Industriellen Wohnungsbau betreiben, aber das individuelle, das Haus, das anders aussah, als das Nachbarhaus, und das danach, das konnten sie nicht erhalten und so was konnten sie nicht hervorbringen. Mit Ausnahme einiger weniger Prestige-Objekte. Fast jeder, der so etwas hätte pflegen und erhalten können, war vor 1961 in den Westen gegangen oder in die Resignation und innere Emigration getrieben worden. Geblieben waren die Passiven und die Gläubigen ans System.

Die ganze Stadt Nauen roch wie ein kürzlich benutztes aber anschließend nicht gelüftetes Clo. Anwohner erzählten mir, dass es mitunter wochenlang so rieche. Wenn der Wind über längere Zeit hinweg von Norden komme. Nördlich der Stadt lagen große Rieselfelder.

In Oranienburg war das, was die sehr intensiven Luftangriffe des 2. Weltkrieges übrig gelassen hatten, total verfallen, auch das Schloss.

Ich fuhr auch nach Potsdam, ich sah dort das »Neue Palais« wieder, in dem ich 1973 nach den 10. Weltfestspielen am »großen Fressen« teilgenommen hatte. Jetzt fiel mir auf, wie verfallen alles war. Was nützt es denn, wenn man die Hohenzollern verjagt und anschließend verfallen die Kulturstätten? (Genauso unannehmbar ist es allerdings für mich, wenn nur eine privilegierte Minderheit etwas von solchen Kulturstätten hat.)

Zusätzlich zu dem, was ich persönlich erlebte, las ich einiges z. B. über Bitterfeld und die dortigen katastrophalen Umweltzerstörungen, über Atomkraftwerke, die im Westen niemals eine Betriebserlaubnis erhalten hätten etc. (Der Supergau in Tschernobyl war in erster Linie eine Katastrophe des Sowjetsystems, erst in zweiter Linie eine Kernkraftwerks-Katastrophe. [108] Im DDR-Atomkraftwerk Greifswald hätte es 1975 fast eine ähnlich Katastrophe gegeben.)

Ich hatte einst zu einer Bewegung gehört, die das alles zu verantworten hatte. In der zweiten Jahreshälfte 1990 wurde mir erst richtig klar, wie gründlich und total die Kommunisten gescheitert waren, was für Ruinenlandschaften sie hinterlassen hatten und wie viele Kommunisten selbst zu (menschlichen) Ruinen geworden waren.

Es gab an vielen Stellen Lücken in der inneren und äußeren Mauer, ein Ergebnis der Arbeit der »Mauerspechte«. Die klopften kleinere oder größere Teile aus der Mauer und verkauften sie, in kleine Stücke gehauen, an die Touristen. Zwischen dem Westberliner Bezirk Reinickendorf und dem Ostberliner Bezirk Pankow trug ich mein Rad im Juni 1990 durch eine solche Lücke und fuhr einige Kilometer auf dem einstigen Todesstreifen entlang. (Im Westen sagte man »Todesstreifen« im Osten »Grenzstreifen«.) Am Grenzübergang Wollankstraße angekommen, sahen mich die Grenzer an, als käme ihnen ein Geist entgegen. (Ähnlich wie die beiden Grenzer im Herbst 1975 am Grenzübergang Friedrichsstraße.) Zu dieser Zeit war das noch die Grenze zwischen zwei Staaten (bzw. zwischen einem Staat und einer Halbstadt mit umstrittenen Status), die die Grenzer noch vor kurzem scharf bewacht hatten. Ich stieg auch auf bereits verlassene Wachtürme, die leider schon ausgeschlachtet und demoliert waren. Ein Jahr früher wäre ich dort noch erschossen worden.

Ich war beim Baubeginn des Grenzübergangs Ackerstraße/Bernauer Straße anwesend, als dort die Mauer eingerissen wurde Meinen »Mauerstein« habe ich mir dort selbst aufgehoben. (Viele an die Touristen verkaufte »Mauersteine« sind Fälschungen. Auch die dazu gelieferten Zertifikate.)

Vielfach waren die Besuche in der DDR eine Reise in die Vergangenheit. Die unbefestigten, sandigen Fußwege in den Außenbezirken Ostberlins, erinnerten mich an die Stapelfelderstraße Anfang der 60er Jahre, an die unsere Reihenhausreihe grenzte. Die Fahrkartenschalter erinnerte mich an den Fahrkartenschalter im Bahnhof Rahlstedt in den 60er Jahren. Während ich auf dem Pariser Platz, an dem damals noch keine Gebäude grenzte außer dem Brandenburger Tor, einen kleinen Imbiss einnahm, erlebte ich, wie zwei Meter entfernt eine Mutter ihr kleines Kind an einem Baum abhielt. Das hatte meine Mutter mit mir in den 50er Jahren gemacht.

Auf der belebten Warschauer Straße pinkelten am helllichten Tage Männer an die Bäume, in den Parks schlugen sich Frauen in die Büsche. Was soll man/frau machen, wenn es so gut wie keine öffentlichen Toiletten gibt? Die Notdurft muss ja schließlich verrichtet werden.

Ich kenne keine Statistik zu diesem Thema, aber nach meinem Erleben gab es unter Ostdeutschen einen prozentual erheblich höheren Anteil von Ausländerfeinden als unter Westdeutschen. In Kreuzberg besetzten linke Jugendliche Häuser, im ostberliner Bezirk Lichtenberg rechtsradikale Jugendliche. Die Herrschenden in der DDR hatten nicht nur das sozialistisch/kommunistische Ziel verfehlt. Nein, sie hatten es nicht einmal geschafft, die Masse der Bevölkerung mehr zu zivilisieren, als dies in Westdeutschland geschehen war.

Ich erlebte zu dieser Zeit auch schon die ersten Animositäten zwischen »Ossis« und »Wessis«. (Ich selbst benutze diese Begriffe ungern, weil sie auf die Vergangenheit bezogen sind und die Spaltung fortsetzen.) Schon in den ersten Wochen, im Juni 1990, traf ich zu meinem Erstaunen auf Ost- und Westberliner, die die Mauer wiederhaben wollten. Sie fühlten sich von den von der jeweils anderen Seite kommenden Menschen gestört. [109]

Am Vorabend des 3. Oktober 1990 war ich auf dem großen Fest »Unter den Linden« (Prachtstraße in der historischen Mitte Berlins.) Ich hatte mir gedacht: »Gegen Mitternacht gehst du mal durch das Brandenburger Tor.« Leider hatten einige hunderttausend anderer Menschen die gleiche Idee, weshalb ich schon vor dem Pariser Platz in einer riesigen undurchdringlichen Menschenmenge stecken blieb. Nicht mal das Feuerwerk konnte ich von dort richtig sehen.


Ich bin in den 90er Jahren mehrfach in der Erwachsenenbildung und in der sozialen Betreuung von Arbeitslosen tätig gewesen. Die Menschen. mit denen ich zu tun hatte, waren fast alle ehemalige DDR-Bürger. 2½ Jahre war ich nebenberuflich Hausmeister, in dem Haus, in dem ich wohne, in Friedrichshain, im ehemaligen Ostteil der Stadt. Ich habe in diesem Zusammenhang viel mit einstigen DDR-Bürgern zu tun gehabt und dabei festgestellt, dass man sie in drei Gruppen einteilen kann. Das Folgende entspricht meiner subjektiven Erfahrung. Es muss nicht statistischen Erhebungen entsprechen. Ich hatte vorwiegend mit Ostdeutschen zu tun, die zwischen 40 und 60 Jahre alt waren und im Verlaufe der politischen und wirtschaftlichen Umgestaltung ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Die größte Gruppe waren die ganz normalen Menschen, die früher weder Begünstigte, Funktionäre oder ähnliches waren, noch Dissidenten. Von diesen waren ca. 80% »Ostalgiker« und Wessihasser. (Wenn sie auch nicht alle mich persönlich gehasst haben.) Nachdem die unrealistischen Vorstellungen aus der Wendezeit verflogen waren und sie die Härte des Umbruchs kennengelernt hatten, entdecken sie plötzlich die positiven Dinge von einst. »Maior e longinquo reverentia«, wussten schon die Römer. (»Aus der Ferne betrachtet ist alles schön«.) Der sichere Arbeitsplatz und die sichere Wohnung, die Solidarität und das Zusammengehörigkeitsgefühl im Betrieb oder Wohnhaus, die Gemütlichkeit etc. Sie wollten die DDR und die Mauer zurück. Aber: Den Westwagen, den viele von ihnen inzwischen besaßen, den wollten sie natürlich behalten. Ebenso die Möbel, den Fernseher, den Videorekorder und die vielen anderen Haushaltsgeräte, die häufig mit Krediten finanziert waren und die sie zu DDR-Zeiten nicht bekommen konnten. Schon gar nicht zu den Preisen und in der Qualität. Und behalten wollten sie natürlich die Reisefreiheit. Man wollte das Positive von einst mit dem Positiven von heute und ohne sich selbst grundsätzlich zu ändern. Es waren völlig unrealistische Vorstellungen. (Aber ich möchte auch erwähnen, dass fast niemand von diesen Menschen seinen Arbeitsplatz schuldhaft verloren hatte, und dass fast alle bereit waren zu arbeiten. In der sozialen Hängematte wollte sich von denen fast keiner ausruhen.)

Neben dieser großen Gruppe gab es zwei kleinere Gruppen, wo erheblich mehr Realismus war. Die der einstigen Dissidenten und die der einstigen Funktionäre. (Es gab nicht nur bekannte Funktionäre und Dissidenten. Es gab einige hunderttausend Funktionäre und einige zehntausend Dissidenten.)

Die einstigen Dissidenten, Leute, die schon zu Zeiten, als der Untergang der DDR noch nicht absehbar war, sich gegen das System stellten, allerdings in der Regel unterhalb der Schwelle, wo man ins Gefängnis kam, die sich dem System entzogen, in die innere Emigration oder ins Privatleben gingen, haben der DDR nicht hinterhergetrauert, auch wenn einige von ihnen ursprünglich mal eine andere DDR und keine Wiedervereinigung wollten. Die, die ich kennengelernt habe, waren Leute, die im Westen in einer Bürgerinitiative gewesen wären, aber nicht in einer Partei, in welcher auch immer. Die Gemütlichkeit, den solidarischen Zusammenhalt etc. den die meisten ehemaligen DDR-Bürger vermissten, gab es für sie nicht. Sie hatten die DDR so nicht in Erinnerung. Und die meisten von ihnen hätten sich lieber die Hand abgehackt als PDS zu wählen.

Ich habe auch einstige Funktionäre der unteren und mittleren Ebene kennengelernt. U. a. einen ehemaligen Dozenten von der Parteihochschule, Mitarbeiter des Innenministeriums, eine ehemalige Schulleiterin etc. Bei dieser Gruppe ehemaliger DDR-Bürger gab es viel, zum Teil sehr harte Kritik an vielen Zuständen in der DDR. Aber fast immer mit dem Resultat: »Hätten wir dieses oder jenes anders gemacht, dann hätte der Sozialismus geklappt.« Und die eigene Rolle wurde grundsätzlich schöngeredet. Von denen, die ich kennengelernt habe, war keiner in der neuen Gesellschaft angekommen und es war keinerlei entsprechende Bereitschaft erkennbar. Einen Menschen ähnlich wie Günter Schabowski habe ich nie getroffen.


In den ersten Wochen schon sah ich mir die verschiedenen Bibliotheken und die drei Berliner Universität an. Kurzzeitig dachte ich sogar daran, mich an einer wieder zu immatrikulieren. Besonders häufig war ich in der Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße. Von der Cafeteria aus hatte man dort einen Blick auf eine trostlose Brachfläche, wo einst mal der Potsdamer Bahnhof war. Auch der angrenzende Potsdamer Platz war öde und verlassen. Der einst belebteste Platz Berlins war eine innerstädtische Brache. Damals stand in einer Sonderausgabe des GEO über den Potsdamer Platz: »Wenn es Geier gäbe in Deutschland, hier würden sie kreisen.« Heute blickt man von der gleichen Stelle, an der ich Anfang der 90er Jahre oft saß, durch eine Gebäudelücke hindurch auf den Marlene-Dietrich-Platz.

Andere häufig benutze Bibliotheken war die AGB (Amerika-Gedenkbibliothek) am Halleschen Tor und die Ostberliner Stadtbibliothek in der Brüderstraße. Und dann die nächst gelegene Bibliothek an meinem jeweiligen Wohnort. Das war einige Zeit die Stadtbibliothek Schöneberg, dann die Stadtbibliothek Neukölln und dann die Stadtbibliothek Friedrichshain.


1991 war ich nach fünf Jahren wieder mal in Hamburg. Ich wollte die Stätten meiner Kindheit und Jugendzeit aufsuchen und Material für Kabarett-Texte sammeln. In den sechs Jahre, seit ich aus Hamburg weggezogen war, hatte es in mir große Veränderungen gegeben. Ich sah die Stadt nicht mit anderen Augen (auch nicht mit einem anderen Auge ;-), sondern mit einem anderen Gehirn. Es hatte inzwischen einen weiteren qualitativen Sprung in meiner intellektuellen Entwicklung gegeben. [110]

In Gegenden, wo ich früher mal jahrelang gewohnt hatte, fielen mir Dinge auf, die mir damals nicht aufgefallen waren. Ich sah viele schöne Häuser, deren Schönheit ich früher nicht bemerkt hatte. [111] Ich sah plötzlich die vielen Kriegslücken in den Häuserfronten, ich sah Häuser, die nebeneinander standen, obwohl sie von ihrer Architektur nicht zusammenpassten. Plötzlich interessierte mich der Hafen, den ich in früheren Zeiten gar nicht zur Kenntnis genommen hatte. (In der ersten Hälfte der 70er Jahre hatte ich mehrfach im Hafen gejobbt. Die großen Schiffen hatten mir damals aber nicht imponiert. Die waren eben da. So wie für jemanden, der im Schwarzwald lebt, eben die Berge da sind.) Im Museum für Hamburgische Geschichte sah ich zum ersten Mal ein Stadtmodell Hamburgs aus dem Jahre 1937, in dem ich das Haus wiederfand, in dem ich die ersten acht Jahre meines Lebens verbracht hatte.

Ich fuhr nach Barmbek in den Stuvkamp und sah, dass ich in einem sehr schönen Haus gelebt hatte. (Wenn auch eine Zwei-Zimmer-Wohnung für eine sechsköpfige Familie zu eng war.) Die Neubauten daneben waren unästhetische 50er Jahre Bauten. Auf den vorherigen durch den Krieg entstandenen Brachflächen und in den Baugruben dieser Häuser hatte ich als kleines Kind gespielt.

Ich fuhr auch mit dem Zug vom Hauptbahnhof nach Rahlstedt, wo ich den Großteil meiner Kindheit und Jugendzeit verbracht hatte. Als ich 1985 aus Hamburg weggezogen war, da hatte ich diesen Stadtteil schon seit vielen Jahren nicht mehr aufgesucht. Ich sah die Rahlstedter Bahnhofsstraße und die Schweriner Straße herunter und dachte mir: »Was für ein Kaff! Wie konnte man bloß dermaßen an so etwas kleben?!«

Ich ging auch über den Campus der Universität und hatte dabei wehmütige Gefühle.


Anfang der 90er Jahre wurde der Wintergarten in der Potsdamer Straße von den »3 Tornados« betrieben. (Damals hieß es soweit ich mich erinnere noch »Quartier Latein«) Da gab es regelmäßig den »Blauen Montag«, wo nicht bekannte Nachwuchsstars, bzw. solche, die es werden wollten, auftreten konnten. Man bekam für den Beitrag 100 DM. Dort lernte ich Arnulf Rating kennen und Günter Thews, der kurz darauf leider an AIDS starb. Ich habe mit meinen Sketch Ein etwas reaktionärer älterer Lagerverwalter dort mehrfach den Saal mit einigen hundert Leuten zum Lachen gebracht. [112] Leider konnte ich aber nur ca. alle drei bis vier Wochen dort auftreten. Denn »Nachwuchsstars« gab es viele.

1990/91 bin ich auch häufig in der »Scheinbar« aufgetreten, in der Monumentenstraße. Dort bekam man als Gage Freigetränke. Ich machte die Erfahrung, dass ich an einem Abend gut ankam und an einem anderen so gut wie gar nicht, obwohl ich den gleichen Text vortrug. Was ich gebraucht hätte, wäre ein Regisseur gewesen. Den fand ich aber nicht. Ich versuchte auch, mich einer Gruppe anzuschließen bzw. selbst eine Gruppe zu gründen. Beides klappte nicht.

Zu der Zeit schickte ich auch humoristische Kurzgeschichten an verschiedene Zeitungen und Magazine, mit der Hoffnung, dass sie veröffentlicht werden. Leider ohne Erfolg.

Ich habe meine kabarettistischen Aktivitäten Anfang der 90er Jahre eingestellt. Es war nicht erkennbar, dass ich meinen Lebensunterhalt damit verdienen kann. Ich hätte es sowieso nur als Hobby betreiben können. Und wie in anderen Lebensbereichen fehlte auch hier die Kontinuität. Ich begann etwas und irgendwann verlief es dann im Sande. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass das Publikum und die Kollegen von einem Kabarettisten erwarteten, dass er immer weit links steht. Dies fiel mir Anfang der 90er Jahre im Zusammenhang mit dem 1. Golfkrieg auf. Ein Kabarettist hatte zuerst einmal gegen die USA und den amerikanischen Präsidenten zu sein, bevor er gegen Saddam Hussein sein konnte. Und als Linker ist man immer für den Frieden. Frieden um jeden Preis war aber nicht meine Einstellung.

Als die Deutschen einmal den Fehler gemacht hatten, Hitler an die Macht zu wählen, gab es zum Krieg keine Alternative mehr. Je früher, desto weniger Opfer. Je später, desto mehr Opfer. Hätten die europäischen Völker sich an die Ratschläge von Pazifisten wie z. B. Bertrand Russell gehalten, der auch den Nazis gegenüber am Pazifismus festhalten wollte, wären sie von den Nazis unterjocht worden. Es gibt Situationen, wo der Friede nicht durchzuhalten ist. Die konkrete Art der alliierten Kriegführung ist zum Teil kritisierbar, z. B. der Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung und die Zerstörung unwiederbringlicher Kulturgüter. Das war nicht nötig um Hitler zu besiegen. Der Krieg als solches aber war unabwendbar Es ging in einer Diskussion mal um die Frage, an welchen Entwicklungspunkt der 2. Weltkrieg für Deutschland verloren war. Ich vertrat die Auffassung, dass dies am Abend des 30. Januar 1933 der Fall war.

Ob Saddam Hussein gegenüber der Krieg unvermeidbar war, da will ich mich nicht festlegen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihm gegenüber eine Politik des Wandels durch Annäherung zu betreiben. Willy Brand ist Anfang der 90er Jahre nach Bagdad gefahren, um Geiseln zu befreien, was ihm auch gelungen war. Er war auch in diesem Punkt konsequent seiner Linie der Entspannungspolitik gefolgt. Als er Anfang der 60er Jahre als Westberliner Bürgermeister begann mit den Machthabern auf der anderen Seite der Mauer zu verhandeln, war ihm auch klar, was das für welche sind. (Kurz vorher war er von dort noch als Trotzkist und Gestapo-Agent beschimpft worden.)

Aber wie auch immer, Saddam Hussein war ein Massenmörder. Er ließ Kinder vor den Augen ihrer Eltern totfoltern, um aus denen Informationen heraus zupressen, um nur mal ein besonders abscheuliches Verbrechen zu nennen. Es gib zig weitere abscheuliche. Ich bin im allgemeinen kein Anhänger US-amerikanischer Politik und die soziale Kälte des US-amerikanischen Kapitalismus mag ich nicht. Wenn ich aber nur die Wahl hätte, in den USA unter Bush Senior oder Junior zu leben oder im Irak unter Saddam Hussein, dann hätte ich die USA vorgezogen, wie jeder halbwegs vernünftige Mensch egal welcher politischer Überzeugung. Und wenn ich nur die Wahl gehabt hätte in einem irakischen oder US-amerikanischen Gefängnis zu sitzen oder gar hingerichtet zu werden, dann wäre auch diese Entscheidung zu Gunsten der USA gefallen. (Die Todesspritze ist weniger schlimm als über Tage hinweg auf bestialische Weise tot gefoltert zu werden. – Ich bin gegen jede Art Todesstrafe!) Also zuerst einmal die USA kritisieren und erst dann Saddam Hussein, das war nicht mein Standpunkt. [113] Damit hatte ich mich aber in den Augen vieler Kabarettisten und Kabarett-Besucher als Kabarettist disqualifiziert. Schon dass man sich über die Deutsche Einheit freute und entsprechende Feste besuchte, machte einen verdächtig.

Viele tragen die Bretter vorm Kopf, die ihnen die Welt bedeuten. (Mein eigener Aphorismus.)


Ich habe in der ersten Hälfte der 90er Jahre sowohl im ehemaligen Ostberlin wie Westberlin gewohnt und gearbeitet. Bis zum Herbst 1994 hatte ich elf verschiedene Zimmer, die ich immer über Mitwohnzentralen bekommen hatte. Dort wohnte ich zwischen einem Monat und 1½ Jahren. In Heiligensee, Prenzlauer Berg, Schöneberg, Kreuzberg, Zehlendorf, Friedenau, Pankow und Neukölln.

Die ersten Jahre hat mich das gar nicht gestört. Ich besaß einen Computer, eine Reisetasche voll Kleidung und weitere Dinge, die man im täglichen Leben benötigt und die in zwei Umzugskartons passten. Ich zog immer mit dem Fahrrad um. Ich fuhr mehrmals zwischen neuem und altem Zimmer. [114]

1994 wuchs aber das Bedürfnis nach einer festen Wohnung und ich fand sie in Friedrichshain in der Libauer Straße 23, direkt an der Ecke zur Kopernikusstraße, auf halber Strecke zwischen der Oberbaumbrücke, einst Grenzübergang zwischen dem Westberliner Bezirk Kreuzberg und dem Ostberliner Bezirk Friedrichshain (die beiden Bezirke wurden mittlerweile zu einem zusammengeschlossen), und der einstigen Stalinallee, die Anfang der 60er Jahre in Karl-Marx-Allee umbenannt worden war. Zuerst wohnte ich zweieinhalb Jahre im Seitenflügel. Mit Nordfenstern und einer hohe Kastanie davor. Im Sommer musste ich tagsüber das Licht anmachen. Drei Winter heizte ich mit Kohle. Dann zog ich in eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Vorderhaus mit Süd-West-Balkon. Diese habe ich – größtenteils mit eigener Arbeit und eigenem Geld – saniert und modernisiert. (U. a. Dusche und Gasetagenheizung.) Vorher war es eine völlig heruntergekommene Wohnung in einem Ostberliner Altbau.

Die nächste Parallelstraße ist die Simon-Dach-Straße, in der sich Ende der 90er Jahre eine Kneipen-Szene entwickelte. 1994 war die Simon-Dach-Straße noch eine ganz gewöhnliche verfallene Straße in einem Ostberliner Altbaugebiet. Knapp einhundert Meter nordöstlich ist der Boxhagener Platz, beliebter Szene- und Demo-Treffpunkt, Markt- und Flohmarktplatz. Knapp einhundert Meter südlich ist an der Revaler Straße ein Komplex alternativer Freizeiteinrichtungen. Heute ist das ganze Gebiet hier voller Kneipen. Wenn ich abends von meinem Balkon auf die Kopernikusstraße blicke, dann strömen dort die Passanten in großen Scharen vorbei, als ob es eine Haupteinkaufsstraße wäre (was es nicht ist). 90% davon sind junge Touristen.

Ich habe mich allerdings nie als Friedrichshainer angesehen. Die Einkaufsmöglichkeiten waren damals in diesem Bezirk noch äußerst schlecht. Wenn ich meine Wohnung verließ, fuhr ich meistens mit dem Rad über die Spree nach Kreuzberg oder Neukölln.


1995, nachdem ich meine heutige Wohnung in Berlin-Friedrichshain bezogen hatte, nahm ich noch mal Kontakt mit der Berliner SPD auf mit der Überlegung, mich zu reaktivieren. Aber ich erlebte Klüngelkreise schon auf unterster Ebene. Daran wollte ich mich nicht beteiligen. Aus Geselligkeitsgründen in einer Partei zu sein, lohnt sich nicht, dafür geht es dort viel zu hart zu. Aber ein gewisses Mindestmaß an Zusammengehörigkeitsgefühl erwarte ich. Da ich aus gesundheitlichen Gründen sowieso keine Mandate oder führende Funktionen anstrebte, habe ich meine SPD-Mitgliedschaft endgültig sacken lassen. Offiziell ausgetreten bin ich nie.

Nachdem Gerhard Schröder Kanzler wurde, besonders aber nach seiner knappen Wiederwahl, begann ich mich zunehmend über die SPD zu ärgern, obwohl oder vielleicht gerade weil ich mich von meiner Grundüberzeugung her immer noch als Sozialdemokrat fühle. Nachdem es Schröder in seiner ersten Legislaturperiode nicht gelungen war, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen (davon hatte er – jedenfalls verbal – sein politisches Überleben abhängig gemacht), bekämpfte er in seiner zweiten Legislaturperiode nun die Arbeitslosen. Mit Maßnahmen, wie sie an den Stammtischen schon seit Jahrzehnten gefordert worden waren.

Gegen Reformen, gegen ein ständiges Überdenken auch sozialstaatlicher Maßnahmen habe ich nichts einzuwenden. Es gibt keine richtigen Antworten für alle Zeiten. Das haben kluge Leute von Goethe bis Willy Brandt gewusst. Aber den Reichen die Steuern erlassen, die Steuer-Betrüger mit Amnestieangeboten ins Land zurücklocken wollen und gleichzeitig den Armen ihre bescheidenen Einkünfte kürzen und auf die angeblich faulen Arbeitslosen schimpfen, das mache ich nicht mit. Wenn der SPD-Führung nichts Besseres einfällt als eine breitangelegte Kapitulation vor Geldgier und Egoismus, dann ist meine Kompromissbereitschaft zu Ende. Die Schröder-Regierung betrieb weitgehend eine dilettantische CDU-Politik. Was Wunder, dass viele SPD-Wähler zuhause blieben und andere sagten: »Da wählen wir doch lieber gleich das Original, statt der Fälschung.«

Ich war Sozialdemokrat geworden, weil ich mich sowohl gegen dogmatische Heilslehren, wie gegen Interessenspolitik für die Privilegierten wenden wollte. Die Politik Schröders war aber leider zu großen Teilen faktisch eine Interessenspolitik für die Privilegierten. Aus welcher Motivation und mit welchen Zielen sie auch immer betrieben wurden. Hartz IV ist nur Sozialraub ohne Auswirkungen auf die Menge der Arbeitsplätze und der Staatsverschuldung. Hartz IV hatte sich schon nach kurzer Zeit als finanzieller Flop erwiesen. Sozialraub, der zusätzlich auch noch teurer ist, als das, was man vorher hatte. Das kommt eben dabei heraus, wenn man mit heißer Nadel asoziale Gesetze strickt.

Zusätzlich zu diesen inhaltlichen Differenzen kam, dass ich Schröders Auftreten und Verhalten als stur und arrogant empfand. Und die Selbstverständlichkeit, mit der er es für gerechtfertigt hielt, im Interesse des Machterwerbs bzw. des Machterhalts seine Wähler zu belügen und zu betrügen, finde ich zum Kotzen. (Hätte Schröder vor der Wahl 2002 gesagt, was er nach der Wahl an Sozialstaatsabbau vorhat, hätte er ein Drittel seiner Stimmen nicht bekommen. Und das wusste er auch.) Ich war in den vergangenen zwanzig Jahren häufig mit Lafontaine nicht einer Meinung. 1989/90 hat er mit seiner »Anti-Einheitshaltung« neben dem Befinden der Menschen in Ost- und Westdeutschland gelegen und hat damit die Volkskammerwahl und die Bundestagswahl 1990 verloren. Die Art wie er Parteivorsitzender wurde war merkwürdig und die Art, wie er den Parteivorsitz aufgab, noch merkwürdiger. Aber 2005 war ich der Auffassung, »wenn ich Lafontaines heutige Positionen mit dem vergleiche, was Schröder und seine Leute an Politik machen, dann bin ich tausendmal lieber mit Lafontaine in der Opposition als mit Schröder an der Regierung.« Viele Sozialdemokraten haben so gedacht. Deshalb gibt es heute eine bundesweite Linkspartei. Die PDS war fünfzehn Jahre lang in den alten Bundesländern eine Splitterpartei, weit davon entfernt die 5%-Klausel zu überspringen. Das hat Schröder geändert, nicht Lafontaine. Vor Schröder war die SPD eine Partei im »30%-Turm« nach Schröder eine Partei im »20%-Turm«.

Peter Hartz, unter dessen Regie die Hartz-Gesetze erarbeitet wurden, wurde später wegen Untreue strafrechtlich verurteilt. Nach vielen Kommentaren aus dem Jahr seiner Verurteilung 2007 kam er im Anbetracht der Vielzahl seiner Straftaten ziemlich glimpflich davon. Gerhard Schröder macht jetzt ganz dick Kasse als Lobbyist und profitiert besonders von seiner Freundschaft mit Putin. Er profitiert jetzt in einem großen Ausmaße von der von ihm durchgesetzten Senkung des Spitzensteuersatzes von 53% auf 42%. (Nach Gerhard Schröder wird mir Helmut Kohl fast sympathisch.) (Früher in der DDR gab es folgenden Witz. Frage: Sind die Russen unsere Freunde oder unsere Brüder? Antwort: Na, unsere Brüder! Freunde kann man aussuchen. Putin ist Schröders Freund.)

Der Flughafen Berlin-Brandenburg sollte bis ins Jahr 2002 von einem privaten Konsortium gebaut werden. Für unter zwei Milliarden Euro. Das finanzielle Risiko lag bei den privaten Investoren. Der SPD-Bürgermeister von Berlin Wowereit entschied aber: »Das machen wir selber.« Wowereit wurde Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafengesellschaft, obwohl ihm jede kaufmännische und technische Kompetenz für eine solche Aufgabe fehlt. Inzwischen hat sich unter Wowereits Oberaufsicht das Bauvorhaben von 1,7 auf 5,1 Milliarden Euro verteuert. Die 3,4 Milliarden Mehraufwand müssen zu einem großen Teil vom Land Berlin getragen werden. Das Geld fehlt in Berlin an allen Ecken und Ende. Für die Sanierung und Neubau von Schulen, Straßen, Schienen etc. pp. Aber Wowereit zeigt keinerlei Betroffenheit oder Schuldbewusstsein. Der macht seinen Bürgermeisterjob einfach weiter, als wenn nichts gewesen wäre.

Das ist nur ein besonders schlimmes Beispiel. Ich könnte diverse weitere Geldverschwendungen aufzeigen. Wie Hartz IV Empfängern jeder Cent vorgerechnet wird, während oben verdiente Genossen mit Staatssekretärs- und Abteilungsleiterposten versorgt werden, die nicht nötig sind.

Früher glaubte ich, da ja nun mal irgendjemand regiert, sei es für die kleinen Leute, sei es aus linker Perspektive immer noch besser, die SPD regiert statt der CDU, auch wenn einem an der SPD manches nicht gefällt. In früheren Jahrzehnten lag man mit einer solchen Einstellung auch durchaus richtig. Nach Schröder und Wowereit stimmt das nicht mehr. Schlechter als die kann es auch kein CDU-Politiker machen. Es gibt überhaupt keinen Grund mehr, die SPD für etwas Besseres als die CDU zu halten. Es gibt zwar einzelne Details, wo die SPD sozialer ist, das wird aber durch den Dilettantismus auf anderen Gebieten zu Nichte gemacht. Die (führenden) Sozialdemokraten, denen das Soziale eine Herzenssache war, die sind fast alle gestorben.

Heute (2013) sehe ich es so: Die meisten (nicht alle!) Politiker, ob von der SPD oder anderen etablierten Parteien, sind Lügner, Heuchler, Betrüger, Stellenjäger, Geldabsahner und Geldverschwender etc. Sie sind dies aber in unterschiedlich starkem Maße. Deshalb sollte man nicht alle über einen Kamm scheren, sondern sich die konkrete Person ansehen. Darüber hinaus führen viele Politiker gesellschaftlich notwendige Arbeiten aus und sind oft Workaholics. Da muss man aber auch im Einzelfall sehen, welche Politiker nicht die meiste Arbeit von ihren Mitarbeitern machen lassen, die sie auf Kosten der Allgemeinheit beschäftigen dürfen. In anderen Ländern und politisch-gesellschaftlichen Systemen sind die Politiker auch so. Aber zusätzlich sind sie oft noch Volksunterdrücker, Plünderer, Mörder, Folterer, Kriegstreiber etc. Man muss die vergleichsweise kleineren Halunken nicht mögen, nur weil es auch noch größere Halunken gibt. Da ich aber inzwischen glaube, dass man mit Menschen etwas substanziell besseres als einen sozialen und demokratischen Kapitalismus nicht machen kann, lebe ich lieber in einem Land, das von Schröders und Wowereits regiert wird, als in einem Land, das von Assads und Mugabes regiert wird. Mit irgendeiner Art von Restsympathie für die Schröders und Wowereits hat das allerding überhaupt nichts zu tun.


Ich hatte zeitweilig mit dem Gedanken gespielt, mich in der WASG zu organisieren und auch aktiv zu betätigen. Es bestand aber das Problem, dass ich im Bereich von Wissenschaft und Technik, Gentechnologie, Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik etc. bis hin zur Befürwortung der Selbstevolution des Menschen Auffassungen vertrete, mit denen ich in jeder Partei und besonders in einer linken Partei große Schwierigkeiten hätte. Falls ich mit diesen Auffassungen in einer solchen Partei überhaupt geduldet werden würde, wäre ich jedenfalls eine Belastung, ein ständiger Konfliktherd. Deshalb ist es besser, wenn ich mich heraushalte. Die Linken sind z. Z. leider hoffnungslos »vergrünt«. Aber vielleicht ändert sich das mal wieder. Die Arbeiterbewegung und die aus ihr hervorgegangenen Organisationen haben ursprünglich mal den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die Industrialisierung für eine gute Sache gehalten.

In der Partei »Die Linke«, organisiere ich mich nicht. Daran ändert auch nichts, dass ich in manchen Programmpunkten (aber nicht in der Mehrheit der Programmpunkte!) mehr mit dieser Partei übereinstimme, als mit der SPD. Es gibt bei der Partei »Die Linke« viele, die wirklich dazugelernt haben und Demokraten geworden sind. Gysi hat mehrfach deutlich gesagt, dass die DDR, so wie sie war, zu Recht untergegangen ist. Aber es gibt dort auch jede Menge »Ostalgiker«, die mit verk(l)ærtem Blick auf das untergegangene real-sozialistische System blicken. Die ehemalige Bundesvorsitzende Lötzsch, weigert sich, die DDR »Unrechtsstaat« zu nennen und bagatellisiert die Stasi. Die stellvertretende Bundesvorsitzende Wagenknecht nennt sich nach den kommunistischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts noch immer »Kommunistin«. Solche Personen sind für mich peinliche oder lächerliche Erscheinungen. Für mich ist es nach wie vor ein großer Unterschied, ob man von seiner Gesinnung her ein linker Sozialdemokrat ist oder ein Kommunist. (Eine Zeit lang stand in diesem Absatz: »Ich wähle diese Partei auch nicht«. Dort habe ich meine Meinung geändert. Die SPD hat sich so zum Negativen verändert, dass einem aus klassisch sozialdemokratischer Position heraus gar nichts anderes bleibt, als die Linkspartei zu wählen. Oder eine Partei von der mit Sicherheit feststeht, dass sie nicht über 5% kommt.)

Ich bemerke aber auch, dass Politiker von der Partei »Die Linke«, dort wo sie Regierungsverantwortung tragen, sich in ihrem Pragmatismus von SPD-Politikern nicht sonderlich unterscheiden. Der ehemalige Wirtschaftssenator Wolff hat in Berlin eine Politik gemacht, die ein SPD-Wirtschaftssenator nicht anders gemacht hätte. Selbst ein Wirtschaftssenator von der CDU oder FDP hätte sich nur in Nuance von dem unterschieden. Ich will also keineswegs sagen »mit denen darf man nicht zusammenarbeiten, weil sie heimlich die stalinistische Diktatur wieder einführen wollen.« Vergleiche hinken. Aber es ist ähnlich wie einst mit den ehemaligen Nazis, die in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland hohe politische Ämter inne hatten. Die wollten auch nicht heimlich die Nazi-Diktatur wieder einführen. Aber sie waren eben unappetitliche Erscheinungen. Und ebenso ist es heute mit Kommunisten 20 Jahre nach dem Untergang ihrer Diktatur.


Ich war in den 90er Jahren auch häufig arbeitslos. Ich habe mich in solchen Situationen, besonders zu Beginn, nicht besonders intensiv um einen neuen Arbeitsplatz gekümmert. Wäre ich der Sohn eines Millionärs oder ein Lotto-Gewinner, würde auch keiner danach schreien, dass ich nicht erwerbstätig bin. Außerdem gab es nicht genügend Arbeitsplätze für alle Arbeitswilligen. Ich litt nicht darunter keinen Job zu haben, weder psychisch noch materiell. Ich konnte mit meiner vielen Freizeit etwas anfangen. Hätte ich einen Arbeitsplatz gehabt, wäre dafür ein anderer arbeitslos gewesen, der vielleicht darunter gelitten hätte. Ich habe das meinen jeweiligen Sachbearbeiter beim Arbeitsamt auch offen gesagt, auch auf die Gefahr hin, dass man mir das negativ auslegt und eine Sperre beim Bezug des Arbeitslosengeld verhängt. Solange es nicht genug Arbeit für alle gibt, solle man doch zuerst einmal die mit Arbeit versorgen, die darunter leiden, keine zu haben. (Ich muss nicht unbedingt arbeiten. Mir reicht das Geld ;-)

Von Geld lebt keiner. Wir leben immer von Arbeit. Soweit hat Marx ja nun mal recht. Und wer nicht arbeitet, lebt von der Arbeit anderer. Egal ob er ein privates Vermögen besitzt oder staatliche Unterstützung in Anspruch nimmt. Wenn wir eine Gesellschaft hätten, wo jeder erwachsene gesunde Mensch das Recht auf und die Pflicht zur Arbeit hätte, dann könnte man den nicht arbeitenden Menschen tadeln und ihn fragen: »Wieso isst du, trinkst du, wohnst du, kleidest du dich etc. und trägst doch nichts dazu bei, dass die Güter von den wir leben, erarbeitet werden?« Aber in einer Gesellschaft, wo für Millionen Menschen, die arbeiten wollen, die psychisch und materiell unter ihrer Arbeitslosigkeit leiden, keine Arbeit da ist, und reiche Müßiggänger im Luxus leben und sie niemand dafür belangt, in einer solchen Gesellschaft braucht sich niemand Vorwürfe zu machen oder machen zu lassen, wenn er nicht arbeitet.

Es gibt unter Armen und Reichen fleißige und faule Menschen. Es gibt unter den Millionären Workaholics, die arbeiten 80 Stunden die Woche, und es gibt Leute, die missbrauchen ihr Vermögen, um ohne Arbeit zu leben. Unter den Armen gibt es Menschen, die für sehr geringe Einkommen sehr fleißig sind – mein Vater gehörte zu denen –, es gibt unter den Armen Menschen, die darunter leiden, keine Arbeit zu haben. Und es gibt Faulenzer, die sich in der sozialen Hängematte ausruhen. Der Unterschied zwischen armen und reichen Faulenzern ist nur der, dass die reichen Faulenzer erheblich besser leben, als die armen Faulenzer. Ethisch-moralisch gibt es keinen Unterschied.

Als Schröder in der Tagesschau sagte (man hörte den erhobenen Zeigefinger mit): »Es gibt kein Recht auf Faulheit«, da war das reine Demagogie. (Er spekulierte mit solchen Sprüchen auf Wähler, wie mein Vater einer war.) Solange es keine Pflicht zur Arbeit gibt, gibt es ein Recht auf Faulheit. Es interessiert Schröder und andere nicht die Bohne, ob Leute arbeiten oder nicht. Nur in dem Moment, wo jemand Unterstützung aus öffentlichen Kassen beansprucht, wird er für die Politiker zum Ärgernis. Über faule Reiche schimpft die SPD schon lange nicht mehr. Nur noch über angeblich faule Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger.

Auf der linken Seite sagt man: »Die herrschenden Gedanken sind die Gedanken der Herrschenden.« So ganz an der Haaren herbeigezogen ist das ja nicht. Schon Goethe ließ Faust sagen: »Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist.« Wenn jemand ein Vermögen hat, egal wie auch immer er zu diesem gekommen ist, und nun ohne zu arbeiten im Luxus lebt, dann ist dies der herrschenden Moral nach nicht verwerflich. Wenn jemand aber nicht das Glück hatte, in eine reiche Familie hineingeboren zu werden und arbeitslos wird und nun Unterstützung aus öffentlichen Kassen in Anspruch nimmt, dann handelt er in den Augen vieler Menschen unmoralisch. Auch in den Augen vieler SPD-Politiker. Da habe ich eine andere Moral. Der reiche Müßiggänger, der in der Lage wäre, zu arbeiten und damit einen Beitrag zu leisten, zur Erbringung der Güter und Dienstleitungen, von denen wir leben, es aber nicht macht, der handelt unmoralisch. [115]

Ich habe immer Zeit-Arbeitsverträge gehabt oder freiberuflich für Honorar oder Gage gearbeitet. Zeiten, wo ich für Geld arbeitete, wechselten mit Zeiten, wo ich arbeitslos war und in Bibliotheken oder zuhause las. Was früher mal die Studentenjobs, das waren später die Arbeitsstellen auf Zeit und Honorartätigkeiten. Was früher mal das BAföG war, das war später das Arbeitslosengeld. Da ich nur für mich selbst sorgen muss und, wenn es sein muss, sehr bescheiden leben kann, habe ich wirtschaftlich-finanziell immer sorglos gelebt. Ich könnte noch vom ALG II etwas sparen, wenn es nötig wäre. Ich hatte immer einen materiellen Lebensstandard weit unter dem Durchschnitt, aber das hat mich nicht gestört. Ich habe es mir so ausgesucht. Wenn es mir so wahnsinnig wichtig gewesen wäre, einen festen Arbeitsplatz zu haben, dann hätte ich mir einen verschaffen können. (Sowie ich mir ja auch, wäre es mir so wahnsinnig wichtig gewesen, eine feste Frau hätte verschaffen können.)

Während andere Menschen meiner Altersgruppe heirateten, Kinder bekamen und großzogen, Jahrzehnte lang in dem gleichen Haus wohnten und zur gleichen Arbeitsstelle gingen, Karriere machten, sich ihr Leben versichern ließen etc., wurde ich einfach nicht erwachsen. Obwohl ich seit 1987 kein eingeschriebener Student mehr bin, verewigte ich faktisch mein Studentendasein und damit meine Jugendzeit. Da ich häufig umzog und keinen längeren Kontakt zu einer bestimmten Menschengruppe behielt, nahm ich gar nicht wahr, dass andere Menschen meiner Generation inzwischen erwachsene Kinder hatten. Die eine und andere (junge) Oma war inzwischen auch schon darunter.

Wer jung bleibt, bleibt auch offen für neues. Ich gehöre nicht nur zu der Minderheit unter den Menschen meiner Generation, die im Internet surfen, ich habe eine eigene umfangreiche Homepage. (Diese Anmerkung stimmt im Laufe der Zeit nur noch zum Teil. Weil auch Menschen meines Alters zunehmend das Internet zumindest passiv nutzen.)

Ich bin kein Anhänger Adornos. Aber mit seinem Lebens-Motto kann ich übereinstimmen: »Nicht erwachsen werden, ohne infantil zu bleiben.«

1997 zog in meinem Haus ein fünfzehnjähriger Junge ein. Der wusste nicht, wer die Beatles waren und hörte den ganzen Tag über Techno-Musik. Da wurde mir allmählich klar, dass eine neue Generation herangewachsen war und ich nicht mehr zu den jungen Leuten gehörte. Ich hatte inzwischen auch ein großes Ruhebedürfnis entwickelt, u. a. weil man dann leichter philosophische Literatur lesen und schreiben kann.

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17. Kapitel
Über die Notwendigkeit höherer Arten

Ich hatte nicht aufgehört Kommunist zu sein, weil ich etwa angefangen hätte, den Kapitalismus zu mögen. Ich hatte nicht meinen Frieden gemacht mit einer Welt, wo einige wenige Menschen riesige Vermögen besitzen und hunderte Millionen andere Menschen vor Armut sterben. Ich hatte lediglich aufgehört Unrealisierbares anzustreben.

Da das »Böse« (bei aller Problematik dieses Begriffes) in der menschlichen Natur steckt, ist allein durch eine andere Erziehung und durch eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse eine substantielle und langanhaltende Verbesserung der Welt nicht möglich.

Verursacht durch mein zunehmendes Wissen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, den immensen Fortschritten in der Gentechnik und bei der Erforschung des menschlichen Genoms und meiner Wertvorstellungen entwickelte sich bei mir in der ersten Hälfte der 90er Jahre nach und nach folgende Auffassung: Wenn eine substantielle und langanhaltende Verbesserung der Welt an der Natur des Menschen scheitert – und darüber hinaus das Damoklesschwert der Selbstausrottung über uns hängt –, dann sollte man die menschliche Natur via Gentechnik ändern. Orientiert an humanistischen Idealen. Wir sollten die Gentechnik und die Erforschung des menschlichen Genoms auch mit dem Ziel betreiben, Mittel zu finden, den Menschen auch (nicht nur!) mit Hilfe der Gentechnik friedlicher, gesünder, klüger und schöner zu machen. [116]

Dabei geht es mir überhaupt nicht darum, den Menschen auf seine Natur zu reduzieren. Auch gentechnisch verbesserte Menschen werden als Babys zur Welt kommen. Sie werden Erziehung und Bildung brauchen, sie werden im Verlaufe ihrer Sozialisation eine psychische Struktur herausbilden und werden bestimmte Lebensumstände haben, die neben ihrer Natur für ihr Fühlen und Verhalten ursächlich sein werden. Aber bevor der Mensch eine Psyche und Lebensumstände haben kann, muss er zuallererst einmal als natürliches Wesen existieren. Die Natur des Menschen ist die Basis, auf der die anderen »Schichten« aufbauen und wenn an der Basis etwas geändert wird, dann wird das Auswirkungen haben, auf die auf diese Basis aufbauenden Schichten. [117]

Ich plädiere aber nicht für Abenteurertum. Größte Vorsicht und Bedächtigkeit ist geboten. Wenn jemand sagt, beim gegenwärtigen Stand von Wissenschaft und Technik sei ein Eingriff in die Keimbahnen des Menschen noch nicht sinnvoll, dann kann ich dies verstehen. Aber die prinzipielle Bereitschaft zur Änderung des genetischen Bauplans des Menschen orientiert an humanistischen Idealen sollte vorhanden sein. Wenn jemand sagt, es sei dem Menschen prinzipiell unter allen Umständen und für alle Zeit verboten, den genetischen Bauplan der nachwachsenden Generationen zu verändern, dann bin ich damit nicht einverstanden. Ich kann nicht einsehen, warum die Natur des Menschen eine Art Heiligtum sein sollte, an dem nichts geändert werden darf.

Wieso sollte nur die »blinde« Natur Evolution betreiben dürfen? Gerade diese natürliche »darwinsche« Evolution ist in einem beträchtlichen Maße mit Grausamkeit verbunden. Die bewusst aus humanistischen Motiven und mit humanistischen Zielen betriebene »nachdarwinsche« Evolution bietet dagegen die Möglichkeit, Grausamkeiten zu vermeiden, z. B. indem Fehlentwicklungen schon im Keime abgebrochen werden, lange bevor bewusste leidensfähige und leiderzeugende Wesen entstehen. Und Menschen, die es für gerechtfertigt halten, Embryonen in den ersten drei Monaten ihrer Entwicklung abzutreiben, wenn die Kinder, die sich aus ihnen entwickeln würden, nicht in die Lebensplanung bereits existierender Menschen passen, wieso haben die Probleme damit, wenn die Entwicklung weniger Tage oder Wochen alter Embryonen abgebrochen wird?

Über viele Generationen hinweg würden schrittweise Veränderungen am genetischen Bauplan der nachwachsenden Generationen aber zur Entstehung neuer, höherer Arten führen, Lebewesen, die aus den Menschen hervorgegangen sind, so wie wir aus den Affen, die sich aber irgendwann nicht mehr als Menschen betrachten werden. (Nicht eine neue Menschenrasse, sondern Lebewesen, die so weit über uns Menschen stehen, wie wir über den Affen.)

Ich kam zu der Überzeugung, dass die Menschheit nur die Wahl hat eine Durchgangsphase oder eine Sackgasse der Evolution zu sein. In Zukunft wollte ich meine – nicht besonders großen – Kräfte dafür einsetzen, dass die Menschheit ihre Selbstevolution zu höheren Arten betreibt.

Und es kam noch ein weiterer Gedanke hinzu: Ich hatte inzwischen herausgefunden, dass der Mensch viele Fragen stellen kann, deren Beantwortung ihm nicht möglich ist. Ich wusste aus meinen eigenen Erleben, aus meiner individuellen Geschichte, was qualitative Sprünge im intellektuellen Bereich bedeuten. Ich hatte seit Mitte der 80er Jahre die Auffassung, dass der Mensch nicht die höchste Stufenleiter intellektuellen Erlebens sein muss, dass es über uns hinausgehen kann. Ich wusste, dass der intellektuelle Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen nicht nur quantitativer Art ist. Und ich erhoffe mir durch die Entstehung höherer Arten einen qualitativen Sprung auf höhere intellektuelle Niveaus.

Wir Menschen mögen noch so viele philosophische Systeme hervorbringen, vorhandene vergleichen, kritisieren, verwerfen etc., wahrscheinlich ist das Beste, was wir zur Förderung des philosophischen Erkenntnisprozesses tun können, die Schaffung höherer Arten mit einem qualitativ höherem Erkenntnisvermögen. Und was unsere menschlichen philosophischen Anstrengungen aus deren Perspektive wert sein werden, können wir nicht wissen. Vielleicht werden höhere Arten viele unserer Gedanken als Vorstufen ihrer höheren Erkenntnisse ansehen, vielleicht werden sie aber auch alles verwerfen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich unsere menschliche Philosophie einst als Affentheater entpuppen wird. Dass ist für einen Menschen, der einen Großteil seines Lebens damit verbringt, sich Wissen über die verschiedenen Philosophen und philosophischen Systeme zu verschaffen, eine bittere Vorstellung. Aber als konsequenter Skeptizist muss ich dies in Erwägung ziehen. [118]

Eine große Bedeutung hatte, dass ich beeinflusst war von Hoimar von Ditfurth, der zwar (meines Wissens) nirgends die Selbstevolution des Menschen gefordert hatte, aus dessen Schriften eine solche Forderung sich aber nach meinen Überzeugungen zwangsläufig ergab. In seinen ganzen Schriften verstreut, besonders konzentriert in seinem Buch Innenansichten eines Artgenossen und dort im Kapitel Die Welt ist nach oben offen zeigte er auf, dass wir eine Durchgangsphase der Evolution sind, mit eingeschränktem Erkenntnisvermögen, und dass qualitative höhere intellektuelle Niveaus möglich sind, als die Menschen erreichen können. Eben erwähntes Kapitel endet mit der wichtigsten Aussage, die Ditfurth nach meiner Auffassung gemacht hat:

»Vor allem aber möchte ich unterstreichen, dass mein Argument – die Erschließung neuer Welthorizonte im Falle einer evolutiven Weiterentwicklung über die bis heute biologisch verwirklichten kognitiven Funktionen hinaus – prinzipiellen Charakter hat: Es gilt völlig unabhängig von der Frage, ob es dazu auf diesem Planeten kommen wird. Wenn, das ist alles, was ich behaupte, uns haushoch überlegene Lebensformen die Welt betrachteten, dann würden sie mit ihren den unsrigen so weit überlegenen Erkenntnisapparaten jenseits der Grenzen des uns zugänglichen Weltbildes gewiss nicht auf lauter weiße Flecken stoßen, sondern auf Eigenschaften der objektiven Realität, die für uns unwahrnehmbar, unvorstellbar und unausdenkbar sind. Die Welt ist oberhalb der von uns erreichten Stufe der Erkenntnis nicht zu Ende. Sie ist nach oben offen. Die gegenteilige Annahme wäre Ausdruck anthropozentrischer Vermessenheit reinsten Wassers, vergleichbar nur mit dem jahrtausendelang die Köpfe der Menschen beherrschenden Wahn, sie befänden sich mit ihrer Erde im Mittelpunkt des ganzen Weltalls.«

Und wenn man dann auch noch – wie der späte Ditfurth – davon ausgeht, dass die Menschheit sich ausrotten wird, dann ist es doch besser, wir entwickeln uns via Selbstevolution weiter zu höheren Arten als einfach sang- und klanglos aus dem Sein zu verschwinden. (Im Gegensatz zu Ditfurth halte ich die Selbstausrottung des Menschen für wahrscheinlich (ohne Selbstevolution) aber nicht für notwendig.)

So schrieb ich dann im Sommer 1995 den Aufsatz Über die Notwendigkeit der Entstehung höherer Arten. Das ist mir von allem, was ich jemals geschrieben habe, das Wichtigste. [119] Der Text besteht aus drei Kapiteln. Die beiden ersten Kapitel bestehen aus drei Teilen.

Im 1. Kapitel Höhere Arten als Voraussetzung des Überlebens beschrieb ich im 1. Teil, warum die Menschheit wahrscheinlich nie ihre grundsätzlichen Probleme lösen wird und warum sie sich wahrscheinlich ausrotten wird. Im 2. Teil vertrat ich die Auffassung, dass irgendwann intelligente Maschinen entstehen, die in ihrer intellektuellen Kraft den Menschen übertreffen, sich eventuell verselbständigen und uns in die 2. Reihe verdrängen werden. Im 3. Teil zeigte ich auf, dass der Mensch ein Produkt der Evolution ist, und dass es keine prinzipiellen Einwände dagegen gibt, dass der Mensch seine weitere Evolution nicht anhand selbst gewählter Ziele selbst betreiben sollte.

Im 2. Kapitel Höhere Arten als Weiterentwicklung von Vernunft, Gefühl, Ethik und Ästhetik stellte ich im 1. Teil die Behauptung auf, dass die Welt, die wir mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen, nicht mit der tatsächlichen Welt identisch ist. Im 2. Teil beschrieb ich die unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten unterschiedlich hoch entwickelter Wesen und im 3. Teil stellte ich die Hypothese auf, dass höher entwickelte Wesen als der Mensch ein quantitativ, besonders aber qualitativ höheres Erkenntnisvermögen haben werden als wir, und dass sie Zugang zu höheren Seinsbereichen haben werden, die für uns Menschen unerreichbar und unausdenkbar sind.

Im 3. Kapitel Höhere Arten und der Rückkehrprozess des Weltgeistes stellte ich die – an Hegel orientierte – Hypothese auf, dass die Welt(all)geschichte der Rückkehrprozess des Weltgeistes ist. [120]

Ob dieser Text irgendeine langfristige Wirkung haben wird, weiß ich nicht und werde ich nie wissen. Sollte er eine Wirkung haben, so wird diese jenseits meiner Lebenszeit liegen. Ich habe es zumindest versucht. Mehr steht nicht in meiner Macht. (Und sollte es zu einer Selbstevolution zu höheren Arten kommen, dann wird sich vielleicht nie feststellen lassen, ob mein Wirken dazu etwas beigetragen hat, denn es gibt einflussreichere Menschen als mich, die so oder ähnlich denken. Ich will meine Person und mein Schaffen keineswegs überbewerten.) [121]

Wenn man sich mit der Entwicklung des Lebens auf der Erde beschäftigt und versucht, sich die riesigen Zeiträume zu vergegenwärtigen, die vergingen, bevor intelligentes Leben entstand [122], dann wird einem so richtig klar, wie jammerschade es wäre, wenn wir Menschen ohne Nachfolger einfach sang- und klanglos von der Erde und aus dem Sein verschwinden würden. Deshalb habe ich meinem Aufsatz über die Notwendigkeit der Höheren Arten das Motto vorangestellt: »Das Beste am Menschen ist, dass er eine Brücke sein kann zu Höherem. Und am meisten zu bedauern wäre es, wenn aus dieser Möglichkeit keine Wirklichkeit würde.« Es gibt viel Bedauernswertes auf der Welt, aber unsere Selbstausrottung ohne vorher etwas geschaffen zu haben, das uns folgt und uns übersteigt, das wäre mit Abstand das aller Bedauernswerteste!!!

Viele Menschen haben einen Horror bei dem Gedanken, die nachwachsenden Generationen könnten sich zu höheren Arten entwickeln. Das ist meistens dadurch bedingt, dass sie sich nur eine negative Entwicklung vorstellen können. Eine solche ist leider auch nicht ausschließbar. Aber sie ist nicht zwangsläufig. Auch eine positive Entwicklung ist denkbar. Es wird u. a. davon abhängen, wie viele Menschen sich für welche Entwicklung einsetzen. Am wenigsten wird man eine negative Entwicklung dann aufhalten, wenn man einfach den Kopf in den Sand steckt und Entwicklungen ignoriert, oder wenn man glaubt, man könnte den wissenschaftlich-technischen Fortschritt an einem bestimmten Entwicklungspunkt anhalten. Das ist weder möglich noch wünschenswert.

Einige Menschen halten es allen Ernstes für besser, wir würden verschwinden, als uns zu höheren Arten weiterzuentwickeln. Ein Vorwurf, den ich höre: »Weil eine bessere Welt mit den Menschen nicht möglich ist, sollen die Menschen selbst durch etwas Besseres ersetzt werden. Das ist ja katastrophal!« Was bei einem solchen Vorwurf vergessen wird, ist die schlichte Tatsache, dass die Menschen ständig ersetzt werden. Durch andere Menschen. Die (von einigen Menschen so idealisierte) Natur hat es so eingerichtet, dass wir ab einem bestimmten Alter vergreisen und dann sterben. Darauf haben wir z. Z. noch gar keinen Einfluss. In unseren jungen Jahren machen wir Fehler über Fehler und wenn wir es endlich gelernt haben, geht unser Leben dem Ende entgegen. Danke, Mutter Natur, dass Du uns vergreisen und sterben lässt, gerade in dem Moment, wo wir endlich begriffen haben, wie wir unser Leben richtig führen können und sollten!

Ich kann überhaupt nicht einsehen, dass wir uns das auf Dauer gefallen lassen müssen. Die gentechnische Veränderung des Menschen wird wahrscheinlich auch dazu führen, dass unsere Nachfahren viel älter werden als wir heute. (Die Unsterblichkeit halte ich aber – jedenfalls in dieser Welt – für unmöglich.) [123]

Also: Kein existierender Mensch soll im Interesse einer besseren Welt abgeschafft werden. Es soll lediglich der sowieso ständig stattfindende Wechsel der Menschen genutzt werden um den Menschen auch von seiner Natur her besser (und langlebiger) zu machen. Mit dem Ergebnis allerdings, dass dies über kurz oder lang die Selbstevolution des Menschen zu höheren Arten bedeuten wird.

Es wird auch vielfach kritisiert, dass die Entwicklungen bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und bei der Entwicklung von Strategien zur Verbesserung der nachwachsenden Menschen zu sehr vom Profitdenken getragen sei. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass es mehr Menschen gibt, die solche Entwicklungen fordern und fördern, nicht weil sie an Profit, sondern weil sie an einer Verbesserung der Menschen und der Welt interessiert sind.

Prozentual betrachtet gibt es noch nicht viele Menschen, die so oder ähnlich denken wie ich. Zahlenmäßig sind es schon eine ganze Menge und unter ihnen sind häufig die klügsten derzeit lebenden Menschen. Stephen Hawking geht davon aus, dass, wenn wir uns keine totalitäre Weltordnung schaffen, irgendwann irgendwer irgendwo gentechnisch optimierte Menschen schaffen wird, und dass am Ende dieses Jahrtausends, vorausgesetzt die Menschheit gelang dorthin, die Unterschiede zu heute fundamental sein werden.

Es hat auch schon früher Philosophen gegeben, die annahmen, dass im weiteren Verlauf der Evolution höhere Wesen entstehen könnten.  Ernest Renan und  Samuel Alexander. Auch Nietzsche sei mit aller Vorsicht erwähnt. Er hat leider viele Äußerungen von sich gegeben, die die Nazis wörtlich übernehmen konnten. (Er hat aber auch viele Aussagen gemacht, mit denen man gegen die Nazis polemisieren kann.) Ich spreche bei den höheren Arten nicht von »Übermenschen«, weil dieser Begriff leider irreversibel faschistisch belegt ist. Doch wenn man mal für einen Moment versucht, den Begriff Übermensch nicht faschistisch sondern humanistisch zu denken, dann kann ich mit folgender Aussage Nietzsches übereinstimmen: »Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein: Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.«


Auf der Suche nach Menschen, die ähnlich wie ich denken, lernte ich 1999 im Internet den Transhumanismus und den Extropianismus kennen. [124] Für ca. drei Jahre betrachte ich mich als Transhumanisten. Obwohl ich mit anderen Transhumanisten zum Teil beträchtliche Meinungsunterschiede hatte und habe.

Was mir von Beginn an nicht gefiel, war, dass das Wunschdenken häufig mit den Transhumanisten durchgeht – am deutlichsten zeigt sich dies in ihrem Glauben an die Unsterblichkeit –, und dass die Ergebnisse dieses Wunschdenkens dann mit apodiktischem Schwung und sektiererischem Eifer verteidigt werden.

Was ich bei den Transhumanisten und Extropianern aber an Positiven fand, war u. a. etwas, das auf der linken Seite des politischen Spektrums weitgehend verloren gegangen war: Positive Erwartungen an die Zukunft, aktiver Optimismus. Unter den Linken oder ehemaligen Linken gab/gibt es ein weitverbreitetes »No-future-Denken«. Der einstige Optimismus ist dem Pessimismus und der Kleingeisterei gewichen. Technikfeindlichkeit, Provinzialismus, Kleinkariertheit.

Den Linken sind zwei Dinge zum Verhängnis geworden: Die allgemeine »Vergrünung« und der Untergang des (angeblichen) Sozialismus in Osteuropa. Aus unleugbaren Umweltproblemen wurde vielfach der Schluss gezogen, Industrie, Technik, materieller Wohlstand seien »an sich« schlecht. Das Scheitern der Kommunisten führte vielfach dazu, eine substantielle und langanhaltende Verbesserung der Welt ganz abzuschreiben. »Okay, dann machen wir eben auf Kapitalismus, dann machen wir eben in diesem System Karriere.« Ich habe einen anderen Weg gewählt. Die Methoden, mit denen man bisher glaubte, die Welt verbessern zu können, haben sich als unbrauchbar erwiesen. Deshalb braucht man aber nicht unbedingt seine Ideale aufzugeben. Man kann auch nach neuen Methoden suchen.

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18. Kapitel
Wie das philolex entstand

1996 entdeckte ich das Internet. Zuerst nutzte ich es für Bankgeschäfte. Damals hatte das Internet bei weitem noch nicht den Umfang wie heute. (2010) Aber es hatten bereits Leute damit begonnen, private Homepages einzurichten, um auf ihnen ihre Erlebnisse, Gedanken, Fotografien u. ä. zu veröffentlichen. Es gab Fan-Seiten zu verschiedenen Musikgruppen, viele kommerzielle und private Porno-Seiten etc.

1998 lernte ich eigene Internetseiten zu erstellen. Ich wollte vorrangig meine Auffassungen über die Notwendigkeit höherer Arten propagieren. In diesem Zusammenhang veröffentlichte ich einige philosophische Aufsätze über Erkenntnistheorie, Materialismuskritik, mein Menschenbild, meine Vorstellungen über die Existenz höherer Welten und eine Zusammenfassung meiner philosophischen Grundpositionen. [125] Das tat ich nicht, weil ich glaubte, in meinen Aufsätzen irgendetwas Großartiges oder gar Neues vorzutragen, sondern weil diese Texte aufzeigten, wie ich zu meiner Einstellung von der Notwendigkeit höherer Arten gelangt war. Und zusätzlich hoffte ich über diese Texte Diskussionspartner zu finden, die sich für die gleichen philosophischen Fragen interessieren. Anfänglich übersetzte ich auch noch mit Hilfe von Bekannten einige Aufsätze ins Englische um nicht nur im deutschsprachigen Raum Leser zu finden. [126] Seitdem habe ich mit vielen hundert Menschen via Emails philosophische Diskussionen geführt und dabei viel gelernt. (Ich vermuten, dass auch viele meiner Diskussionspartner dabei gelernt haben.) Englischsprachige Diskussionen ergaben sich aber so gut wie keine, weshalb ich die Übersetzung von Texten ins Englische nicht weiter verfolgte.

Dann nahm ich meine Aufzeichnungen zu den verschiedenen Philosophen aus meiner Uni-Zeit und erstellte daraus Internetseiten. Dort wo Lücken in meinen Aufzeichnungen waren, füllte ich sie, indem ich philosophische Literatur las. (In meinem Aufzeichnungen waren manche Fehler, die in den ersten Jahren der Existenz meiner Homepage zu manch polemischer Kritik geführt haben.)

Dann entdeckte ich, dass es außer mir noch andere Leute gab, die im Internet philosophische Texte veröffentlichten. (Da waren 1998/99 noch erheblich weniger als in späteren Jahren. Wikipedia gab es noch nicht. Zum Glück! Eventuell hätte ich sonst nie mit meinem Lexikon begonnen.) Ich las viele dieser Texte und ergänzte meine Seiten durch Links zu Seiten anderer Autoren.

Dann stellte ich fest, dass viele Texte berühmter Philosophen als E-Texte im Internet vorhanden waren. Besonders die US-Amerikaner waren in diesem Punkt den Deutschen weit voraus. Ich ergänzte meine Seiten durch Literaturlisten, wobei Literaturangaben häufig als Link gestaltet waren. Beim Anklicken des Literaturhinweises kam man direkt zum entsprechenden E-Text. (Diese Links habe ich dann allerdings 2015 alle entfernt. Es kam zu oft vor, das Texte und Internet-Seiten verschwanden oder eine neue Adresse bekamen. Mehrere Tausend Links ständig auf ihre Richtigkeit überprüfen, die Arbeit will und kann ich mir nicht machen.)

In einem Buch zu blättern, hat sicherlich seinen Reiz. Aber am Computer kann man häufig viel effektiver lernen. Wie schwierig war es früher oft, an die Originaltexte englischsprachiger Philosophen zu kommen. Heute ist fast alles, was nicht mehr dem Urheberrecht unterliegt, im Internet vorhanden. Fast alles, was ich von Nietzsche gelesen habe, habe ich auf dem Computermonitor gelesen, da fast alle seine Schriften im Internet verfügbar sind. Es ist in solchen Fällen erheblich einfacher Zitate zu übernehmen, nach Zitaten zu suchen, Textteile zu markieren, in Texte seine Kommentare reinzuschreiben etc. Viel Zeit spart man bei der Übersetzung von Fremdwörtern und Vokabeln, wenn man die Übersetzungen per Mausklick erhält. Und wenn man selbst einen Text veröffentlicht (was früher für die meisten Menschen sehr teuer oder unmöglich war, wenn nicht irgendein Verlag sich Profit davon versprach), dann ist dieser Text wenige Sekunden nach dem Hochladen für jeden Menschen mit Internet-Anschluss zugänglich, ob er nun auf der anderen Straßenseite lebt, oder auf der anderen Seite des Planeten.


In Verlaufe einige Jahre sammelten sich viele Seiten und viele Informationen an und ich bekam immer öfter die Frage zu hören: »Warum machst du das eigentlich alles umsonst?«

Meine Internetseite war meine Modelleisenbahn. So wie andere am Abend oder am Wochenende an ihrer Modelleisenbahnanlage basteln, ohne dafür bezahlt zu werden (aber mit erheblich mehr Sorgfalt an die Sache gehen, als diejenigen, die solche Arbeiten gegen Bezahlung machen), so verbrachte ich einen großen Teil meiner Freizeit damit, meine Internetseite auszubauen. Besonders in der kühleren Jahreszeit und wenn mir das Wetter zu schlecht war, um außerhalb der Wohnung etwa zu unternehmen.

Wenn jemand, der eine Modelleisenbahn betreibt, Besuch bekommt, dann führt er seine Besucher in seinen Keller und zeigt ihnen seine Modelleisenbahnanlage. Ohne Eintritt zu nehmen. Er ist ja froh, dass er sie anderen voll Stolz präsentieren kann. Und manch Besucher kommt vielleicht nur aus Höflichkeit mit, weil ihn Modelleisenbahnen überhaupt nicht interessieren. Und dann sagt man aus Höflichkeit Komplimente. »Mensch, das ist ja eine tolle Eisenbahnanlage.« Und denken tut man »Gott, was für ein Kindskopf. Hat der nichts Besseres zu tun, als hier im Keller mit seiner Eisenbahn zu spielen?«

Meine »Modelleisenbahnanlage« muss sich niemand aus Höflichkeit ansehen. Auch geheuchelte Komplimente sind überflüssig. Jeder, der meine Seite besucht, macht das freiwillig. Von den meisten Besuchern erfahre ich nichts. (Außer dass sie die Zugriffszahlen, über die mich mein Provider informiert, in die Höhe treiben.) Würde mich auch nur jeder zweite oder dritte Besucher informieren, eine Kritik, ein Lob etc. äußern, dann müsste ich inzwischen monatlich viele tausend Mails löschen, die ich nicht mal mehr überfliegen könnte, weil das zeitlich gar nicht möglich wäre.

Ca. zwei Jahre nach Beginn des Aufbaus meiner Internetseite richtete ich mir eine eigene Domain ein. In dem Zusammenhang suchte ich nach einem aussagekräftigen und wohlklingenden Namen für meine Sammlung philosophischer Texten und für meine Domain. Das Ergebnis war »philolex«. Für Philo-sophie Lex-ikon.

Aus den Zugriffszahlen meines Providers strato und statistischen Methoden kann ich ersehen, dass ich in über einhundert Ländern von einer inzwischen siebenstelligen Zahl von Menschen gelesen wurde. Dass das kostenlos ist, hilft. Aber das ist nicht die Ursache, nur Erleichterung. Bezahlen muss man für viele andere Seiten im Internet auch nicht. Was ich schreibe, kommt bei vielen an. Ich habe für andere Menschen einen Wert. Das ist für jemanden, der sein Leben lang mit Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen hatte, eine wichtige Sache.

Dass meine Texte bei vielen Schülern, Studenten, Philosophielehrern und interessierten Laien beliebt sind, hat wahrscheinlich u. a. folgenden Grund: Ich habe begonnen zu philosophieren, bevor ich einen komplizierten Wortschatz besaß, bzw. aktiv nutzte. Ich philosophiere in einfachen Sätzen, nicht in welchen, die über eine halbe Seite gehen. Ich habe die Fähigkeit, mich durch komplizierte philosophische Texte durchzubeißen, in denen jede Menge Fremdwörter und komplizierte Satzkonstruktionen vorhanden sind, und ich kann das Gelesenen dann in einer allgemeinverständlichen Sprache wiedergeben. Das ist nicht nur meine Selbsteinschätzung, das habe ich in vielen Mails bestätigt bekommen. [127]

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19. Kapitel
Abschließende Gedanken

Viele schöne Sprüche entstehen aus Versprechern:
»Ich habe in meinem Fehler viel Leben gemacht.«

Unter den vielen englischsprachigen Songs, die ich zwecks Vokabellernens übersetzt habe, ist auch I am, I said von Neil Diamond. Dort lautet eine Strophe:

»Did you ever read about a frog who dreamed of bein' a king
And then became one?
Well, except for the names and a few other changes,
If you talk about me, the story is the same one.«
[128]

Neil Diamond kann das von sich sagen, er hat es aus einfachsten Verhältnissen mit seinen Songs zum Dollar-Multimillionär gebracht. Ich habe es nicht vom frog zum king gebracht, ich bin haarscharf dran vorbeigeschlittert.

Anfang der 90er Jahre, als ich hin und wieder Abenteuerspiele am Computer spielte, bei denen man zu Beginn unterschiedliche Schwierigkeitsstufen wählen konnte, da hatte ich mir des Öfteren gesagt, wenn das Leben ein Abenteuerspiel ist und die Welt eine dreidimensionale Computersimulation, in der ich das »Lebensspiel« spiele, dann habe ich dieses Mal den Schwierigkeitsgrad um eine Stufe zu hoch gewählt. Aber wirklich nur um eine Stufe. Ich hätte beinahe gewonnen.

Ich habe mir im Laufe meines Lebens viel theoretisches Wissen angelesen und auch manches selbst erdacht. Meine praktische Vernunft konnte da nie mithalten. Aber in diesem Punkte gleiche ich vielen anderen viel bedeutenderer Philosophen, deren praktisches Verhalten häufig in einem sonderbaren Missverhältnis zu ihren theoretischen Leistungen stand. Ich habe im philolex einige Philosophen, die im praktischen Leben große Dummheiten begingen, aufgelistet und die größte Ehre, die mir widerfahren könnte, wäre, dass mich jemand nach meinem Ableben in diese Liste aufnimmt. [129]

Ich habe meine Bedürfnisse, meine Wünsche und Ziele nie in Übereinstimmung bringen können mit meinen Möglichkeiten. Deshalb habe ich immer weit unter meinen Möglichkeiten gelebt. (Denn meine tatsächlichen Möglichkeiten habe ich nicht zur Genüge ausgeschöpft.)

Ich hätte häufiger die Hilfe anderer suchen und annehmen müssen. Aber wer Hilfe braucht, ist minderwertig. Eine irrige aber in meiner psychischen Struktur eingebrannte Auffassung.

Mein Leben war ein immerwährender Kampf gegen Trägheit, Nachlässigkeit und mangelnde Kontinuität. Oft gewann ich diesen Kampf (ansonsten hätte ich ja nichts zustande gebracht), aber viel häufiger verlor ich ihn. Ich hätte ansonsten mehr als das Doppelte lernen und schaffen können. Ich habe in den ersten 20 Jahren meines Lebens nicht gelernt kontinuierlich zu arbeiten, geschweige denn kontinuierlich geistig zu arbeiten. (Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob hier nur die Sozialisation eine Rolle spielt, oder ob es nicht schon eine genetische Disposition zu Trägheit oder Aktivität gibt.)

Mein Leben besteht aus einer ganzen Menge guter Ansätze, die ich aber leider zum größeren Teil nicht konsequent genug durchdacht, umgesetzt und zu Ende geführt habe.

Ich war immer mehr oder weniger einsam. Selbst wenn ich unter anderen Menschen war. Obwohl das nicht meinen Überzeugungen und Wünschen entsprach. Aber ich habe es nie geschafft, dieses Problem zu lösen.

(Man könnte nun sagen, auf Grund dieses Grundtatbestandes meines Lebens müsste ich eigentlich zum Existentialismus eine größere Nähe habe, als ich habe. Ich müsste ihn eigentlich positiver bewerten.)

Im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen und bei der Partnersuche bin ich ein Versager. Da ich Erkenntnis zur höchsten Leidenschaft erhoben habe, darf ich mir nichts vormachen. Aber heute weiß ich, dass man auf einem Gebiet minderwertig, auf einem anderen Gebiet dagegen mehrwertig sein kann.

Einsamkeit ist oft Voraussetzung für die Entwicklung wirklich neuer Gedanken, zumindest ist Vereinsamung dem förderlich. Wenn man eng mit anderen Menschen verzahnt ist, dann schwimmt man mit größerer Wahrscheinlichkeit im Strom der Mehrheitsmeinung mit. Welche Auffassungen man hat, hängt dann ab, von der Zeit, dem Land, der sozialen Schicht und der ganz spezifischen Familie, in die man hineingeboren wurde. Viele Intellektuelle aus gutbürgerlichem Hause wären nie Linksintellektuelle geworden, hätten sie nicht gerade Ende der 60er Jahre die Universität oder das Gymnasium besucht. Viele Anhänger der Umweltbewegung wären es nicht, hätte es nicht gerade in ihrer Jugendzeit solche Bewegungen gegeben. Bei der Religion ist es noch offensichtlicher. Die allermeisten Menschen haben die Religion, in die sie hineingeboren wurden. Und für die meistens ist nur diese Religion die richtige.

Die vielen Brüche in meinem Leben waren wahrscheinlich die Voraussetzung für meine qualitative Weiter- und Höherentwicklung. Meine Einsamkeit war wahrscheinlich die Voraussetzung, dass ich die Auffassung von der Notwendigkeit höherer Arten entwickeln konnte. Und diese Auffassung betrachte ich als die wertvollste Frucht meines Lebens.

Mein Leben ist etwa seit meinem 20. Lebensjahr ein fortwährendes Lernen gewesen. Zeit zum Lesen und Nachdenken war mir immer wichtiger als hoher materieller Lebensstandard. Verbunden mit dem fortwährenden Lernen war aber auch eine fortwährende Veränderung meiner politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlich-technischen Überzeugungen. Und ein Mensch, der sich oft ändert, bekommt von anderen Menschen häufig den Vorwurf der Unstetigkeit, der Prinzipienlosigkeit oder gar des Verrats zu hören.

Ich bin der Auffassung, dass ein Mensch, egal wie er zu welchen Dingen auch immer zu einem bestimmten Zeitpunkt gedacht bzw. sich verhalten hat, sich ändern und neue Standpunkte beziehen darf. In Politik, Philosophie, Kultur, Lebensweise etc. Niemand ist verpflichtet sein ganzes Leben dort zu bleiben, wo er als junger Mensch angekommen war. Ein Mensch, der im Alter von 14 Jahren »Beethoven doof fand«, darf im Alter von 40 Jahren Beethoven hören, ohne seinen Prinzipien untreu zu werden. Alles andere hieße, dass »dazulernen«, »sich weiterentwickeln« verboten wäre.

Leider bleiben die meisten Menschen ganz oder in einem beträchtlichen Maße dort stehen, wo sie als junge Leute angekommen waren. Aber es gibt – prozentual zwar wenige, aber zahlenmäßig doch eine ganze Menge – Menschen, die über die Fähigkeit und die Bereitschaft verfügen, sich ihr ganzes Leben lang zu ändern, immer wieder aufs Neue offen zu sein, für neue Gedanken, neue Entwicklungen, neue bisher unbekannte Lebensbereiche etc. Ich gehöre zu diesen Menschen.

Wenn jemand in seiner Jugendzeit auf Grund ungünstiger Lebensumstände und/oder wegen eigener Fehler bzw. Fehleinschätzungen in eine schlechte Sache hineingeraten ist – von der er vielleicht sogar glaubte, sie sei eine gute Sache – dann ist ein solcher Mensch nicht dazu verpflichtet den Rest seines Lebens zu dieser schlechten Sache zu stehen.

Eine schlechte Sache kann man nicht verraten. Man kann nur eine gute Sache verraten. Von einer schlechten Sache kann man sich nur trennen. (Und der Stalinismus war eine verdammt schlechte Sache!) Es gibt leider Menschen, die sind mit ca. 18 bis 25 Jahren »fertig«. In ihren weiteren Lebensjahren sind sie nicht mehr bzw. nur noch in einem sehr geringen Maße veränderungs- und lernfähig. Diese Menschen halten ihre Lernunfähigkeit oft für »Prinzipientreue«. Aus ihrer Sicht ist jeder ein Verräter, der im Gegensatz zu ihnen im Laufe seines Lebens klüger wird.

In meinem konkreten Fall möchte ich noch einen weiteren Punkt hinzufügen. Im Gegensatz zu der großen Mehrheit der Menschen, die in den 70er Jahren links aktiv und organisiert waren, war ich kein Gymnasiast oder Student aus gutsituiertem und gebildetem Elternhaus. Ich habe in meiner Kindheit nicht wesentlich mehr gelernt als Lesen und Schreiben und die vier Grundrechenarten. Sieben Jahre Volksschule und in der frühen Kindheit einen Buchstabenglauben an die Bibel. Das war alles, was ich hatte. Wenn man mich auf das festnageln wollte, was ich in den 70er Jahren – besonders in der ersten Hälfte der 70er Jahre – von mir gegeben habe, dann könnte man auch einen erwachsenen Menschen darauf festnageln, dass er einem als kleines Kind mal die Ehe versprochen hat. Ich war in den 70er Jahren – im übertragenen Sinne – gar nicht geschäftsfähig. Hätte ich damals etwas wirklich Schlimmes angestellt – was glücklicherweise nicht der Fall ist –, dann könnte ich mich beinahe auf Unzurechnungsfähigkeit berufen.

Wenn ich meine Entwicklung davon abhängig gemacht hätte, was mein jeweiliger Freundes- und Bekanntenkreis – oder gar frühere Freundes- und Bekanntenkreise – nachvollziehen können, dann wäre ich bei den Hilfsarbeitern, Alkoholikern und Kleinkriminellen geblieben. In diese soziale Gruppe wurde ich einst hineingeboren.


Auf dem Weg zum Bahnhof Warschauer Straße komme ich an einer großen alten Eiche vorbei. Im Herbst wirft sie viele Eicheln ab. Die meisten davon werden von den Autos platt gefahren, die auf dem Gehweg gefallenen von Straßenfegern zusammengekehrt und in den Müll geworfen. In der Natur würden sie von Tieren gefressen werden. Jede dieser Eicheln hat in sich die Potenz, selbst einen großen Eichenbaum hervorzubringen, der Jahrhunderte existiert. Aber unter Millionen von Eicheln gelingt es vielleicht gerade mal einer, weil sie an einen günstigen Ort gefallen ist, weil die Wetterverhältnisse ihren Spross die ersten Jahre überleben ließ, weil er zufällig nicht gefressen wurde etc. Ähnlich ergeht es noch immer uns Menschen. Zu Milliarden werden wir in die Welt geworfen und was aus uns wird, ob wir unsere Potenzen entfalten können oder nicht, hängt in einem beträchtlichen Maße vom Zufall ab, wie uns die Natur gemacht hat, wo wir hinfallen und wie viel Glück wir im weiteren Verlauf haben. Seines Glückes Schmied kann man nur im Rahmen der objektiven Lebensumstände sein, in denen man sich befindet, lange bevor man beginnt sich ihrer bewusst zu werden, über sie nachzudenken, aktiv auf sie einzuwirken. Aber im Unterschied zu den Eicheln wissen wir um unsere Möglichkeiten und unser Scheitern. Es ist ein Unterschied, ob eine Eichel oder ein Mensch zertreten wird. (Das ist etwas, was Nietzsche und viele seiner Anhänger nicht sehen, weil sie die Entstehung neuer Qualitäten im Verlaufe der Evolution nicht bemerken. Die Stalinisten hätten das auf Grund ihrer marxistischen Ideologie wissen müssen, haben aber auch oft genug bedenkenlos Menschen zertreten.) [130]

Es ist nicht wünschenswert, dass das Schicksal bewusster Wesen für alle Ewigkeit in einem beträchtlichen Maße dem Zufall überlassen bleibt.

Ich habe mich im Rahmen meiner objektiven Lebensumstände zum Philosophen und Schriftsteller entwickeln können. Das kann ich auf Grund des Inhalts und des Umfangs meiner Texte und der Zahl meiner Leser inzwischen ohne Übertreibung sagen. Leicht ist es mir nicht gemacht worden. Ich habe einen hohen Preis dafür gezahlt. Aber wenn ich heute auf mein Leben zurückblicke und mich frage, wäre es nicht besser gewesen, ich wäre dort geblieben, wo ich hingeboren wurde? Hätte ich als Hilfsarbeiter nicht ein glücklicheres Leben gehabt? Sosehr ich Glück auch für erstrebenswert halte und jede Leidverherrlichung, Askese und stoische Leidenschaftslosigkeit ablehne, so will ich doch nicht um jeden Preis glücklich sein. Am liebsten wäre ich ein glücklicher Sokrates. Aber ich bin immer noch lieber ein unglücklicher Sokrates als ein zufriedenes Schwein oder als ein glücklicher Idiot. Meine intellektuelle Entwicklung möchte ich heute um keinen Preis mehr missen. (Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich betrachte nicht jeden Menschen als Idioten, der weniger als ich gelernt hat. Ich betrachte lediglich mich, wie ich Anfang meiner 20er Jahre war, als Idioten.)


Wie lange ich noch Lesen, Denken und Schreiben kann, weiß ich nicht. Trotz meiner großen Wissbegierde gibt es Sachen, die ich nicht unbedingt wissen will. Das Datum des Tages, an dem ich sterben werde, muss ich nicht wissen. Ich weiß aber, dass er irgendwann kommen wird. Das kann in drei Tagen sein oder in dreißig Jahren.

Ich weiß, dass der Tod für viele Menschen ein Tabuthema ist. (Jedenfalls der eigene. Die vielen Leichen jeden Abend im Fernsehen – die echten und die unechten – sind kein Problem.) Es gibt eine Obszönität des Todes. Wenn man heute plötzlich unvermittelt anfängt über den Tod zu sprechen, dann ist es so, als wenn in den 50er Jahren jemand plötzlich unvermittelt angefangen hätte, über Sex zu sprechen. Aber für einen Philosophen ist der Tod kein Tabuthema. Philosophieren bei gleichzeitiger Ausklammerung unserer Vergänglichkeit, kann ich mir nicht vorstellen.

Es gibt Männer, die ereilt in ihren 50er Jahren der plötzliche Herztod. Weiß ich, ob ich zu denen gehöre? (Der Kabarettist Mathias Belz ist, als ich begann an diesem Text zu arbeiten, 2002 mit 57 Jahren plötzlich gestorben.) Wird mir mein Arzt morgen oder nächstes Jahr offenbaren, dass ich Krebs habe? Oder werde ich wie meine vier Großeltern Ende meiner 70er / Anfang meiner 80er Jahre an altersbedingten Herz/Kreislaufsachen sterben? Oder werde ich – weil der medizinische Fortschritt weitergegangen ist – älter? Vielleicht habe noch ein paar Jahre, vielleicht habe ich noch mal 50. (Der Philosoph Gadamer ist 2002 102jährig verstorben.) Vielleicht wird es in meinem Leben noch einen 5. Bruch und eine 6. Lebensphase geben.

Anderen ist es schlechter ergangen. Es gäbe heute in Europa viele bedeutende jüdische Intellektuelle, wenn die Menschen, die sich dazu hätten entwickeln können, nicht lange vorher als kleine Kinder in Auschwitz vergast worden wären. Es ständen heute viele berühmte Schriftsteller, Wissenschaftler, Erfinder etc. in den Lexika, wenn die Menschen, die sich dazu hätten entwickeln können, nicht lange vorher an den Fronten der Weltkriege verheizt worden oder als kleine Kinder in den Bombennächten oder auf den Flüchtlingstrecks umgekommen wären. Unter den über 500.000.000 Kindern, die in den letzte fünfzig Jahren verhungert sind, hat es sicherlich viele potentielle Genies gegeben. Ich war nur ein Talent. Und sicherlich gibt es außer mir noch manch anderen Angehörigen der benachteiligten Schichten, der sich zum Akademiker hätte entwickeln können, wenn er mit seiner familiären Herkunft etwas mehr Glück gehabt hätte. Ich könnte diese Liste noch beträchtlich fortsetzen. Es ist nun mal eine Scheißwelt, in der wir leben. Sie ist es nicht wert, verewigt zu werden. Und der Mensch, der eine bessere Welt scheinbar nicht schaffen kann, ist es – jedenfalls in seiner heutigen Verfassung – auch nicht wert, verewigt zu werden.

Immerhin bin ich nie in meinem Leben eingesperrt gewesen, nie gefoltert worden, musste nicht erleben, wie die mir liebsten Menschen ermordet wurden. Alles das mussten andere Menschen aushalten. Wenn ich auf dem Zahnarztstuhl sitze und mir vor der Wurzelbehandlung eine Spritze geben lasse, dann weiß ich, dass zur gleichen Zeit anderswo Menschen gefoltert werden. Und dann weiß ich, wie privilegiert ich bin. Alleine schon, dass ich diese Lebenserinnerungen aufschreiben und veröffentlichen konnte, ist ein Ausdruck meiner Privilegiertheit. [131]

Ein Foto von mir aus dem Jahre 2009.


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Anmerkungen

Früher hatte ich in den Anmerkungen viele Links zu Internet-Seiten. Da die Adressen aber oft wechselten oder Seiten ganz verschwanden und meine Links nicht mehr funktionierte, habe ich alle Fremd-Links entfernt. Damit eine Anmerkung nicht leer ist, habe ich darauf hingewiesen, dass es Internet-Seiten zu diesem Thema, zu dieser Person etc. gibt. Über die Suchmaschinen findet man alles wichtige.

Anm. 1: Auf der Brücke über die Spree in der Friedrichsstraße befinden sich gusseiserne Adler, die Wolf Biermann den »eisernen Ikarus« oder den »preußischen Ikarus« genannt hat. U. a. in seiner Ballade vom preußischen Ikarus. Zurück zum Haupttext

Anm. 2: Es scheint aber auch Menschen zu geben, die gar nicht mehr wissen wollen, welchen Lebensweg sie gegangen sind. Leute, die einst ihren Eltern und Großeltern vorwarfen, ihre Geschichte zwischen 1933 und 45 verdrängt zu haben, verdrängten plötzlich ihre Geschichte vor 1989. (Oder interpretierten diese zumindest um.) Viele können verdammt froh sein, dass es in den 70er und 80er Jahren das Internet noch nicht gab. Da wäre hier mancher dummer, totalitärer, unverschämter Artikel plus Autor verewigt. – Ein Hinweis zur Nennung von Personen: Einige Namen schreibe ich aus, bei anderen kürze ich den Nachnamen oder verhindere auf andere Weise, dass auf die Person geschlossen werden kann. Bei vielen Leuten, mit denen ich in den vergangenen Jahrzehnten zeitweilig Kontakt hatte, weiß ich nicht, was das heute für Menschen sind und ich will denen nicht schaden. Das könnte aber passieren, wenn ich sie im Zusammenhang mit bestimmten Organisationen, Tätigkeiten, Verhaltensweisen etc. nennen würde. Bei den Menschen, deren Namen ich ausgeschrieben habe, gehe ich davon aus, dass es entweder unproblematisch ist, oder die betreffenden Personen es auf Grund ihrer damaligen und/oder heutigen Stellung ertragen können müssen, dass sie beim Namen genannt werden, bzw. es kein Problem wäre ohne viel Aufwand auf die Person zu schließen, z. B. indem man ein paar Suchbegriffe in eine Suchmaschine im Internet eingibt. – Memoiren werden in der Regel von Menschen veröffentlicht, die aus irgendeinem Grunde berühmt wurden. Ansonsten lassen sich solche Memoiren nicht verkaufen, es lässt sich mit ihnen kein Geld verdienen. Die allermeisten Menschen werden aber nie berühmt, ragen mit ihren Leistungen nie weit über den Durchschnitt hinaus. Die meisten Menschen können aus diesem Grunde vielleicht aus den Memoiren eines nicht berühmten, nicht herausragenden Menschen für ihr Leben mehr lernen, als aus den Memoiren irgendwelcher Berühmtheiten. Zurück zum Haupttext

Anm. 3: Der folgende Text ist natürlich nicht zur Gänze am 30. März 2002 geschrieben worden. An diesem Tag habe ich begonnen. Dann wechselten Zeiten intensiven Arbeitens an diesem Text mit Zeiten, in denen ich nur hin und wieder mal ein Stichwort eingab, damit ein bestimmtes Erlebnis nicht vergessen wird. Zum ersten Mal veröffentlicht habe ich den Text Ende 2004. Das war sozusagen die 1. Auflage. – Im Laufe des Jahres 2005 habe ich einige Korrekturen vorgenommen und einige weitere Erinnerungen hinzugesetzt. U. a. auf Grund von Zuschriften von Lesern, mit denen ich in den vergangenen Jahrzehnten zeitweilig mal mehr oder weniger zu tun hatte. Ich habe auch einige Textteile gelöscht, die in der Zeit von 2002 bis 2004 aktuell waren, inzwischen aber nicht mehr sind. Und ich habe größere Textteile in andere Kapitel verschoben. Diese Textteile gehörten aus Sicht einer systematischen Darstellung zwar in ihre ursprünglichen Kapitel, griffen aber doch zu sehr auf spätere Zeiten vor. Der Anfang 2006 veröffentlichte Text war sozusagen die 2. Auflage. – Im Mai 2010 habe ich den Text an einigen Stellen aktualisiert, der neue Rechtschreibung angepasst, die Rechtschreibung generell sorgfältiger überprüft (in früheren Jahren war mir das nicht so wichtig) und das Erscheinungsbild etwas verändert. Eine besondere Veränderung ist, dass ich auf den Verdacht hinweise, mehrfach vergiftet worden zu sein. Früher habe ich diesen Verdacht nicht geäußert, weil ich mich nicht dem Verdikt aussetzen wollte, wie meine Großmutter einen Verfolgungswahn zu haben. Heute gehe ich davon aus, dass mir ein solcher Verfolgungswahn in den 70er und 80er Jahren zum Vorteil gewesen wäre. Zu der Zeit war ich leider sehr unbekümmert, arglos und naiv. Ein leichteres Opfer als mich gab es gar nicht. Der jetzige Text ist sozusagen die 3. Auflage. Zurück zum Haupttext

Anm. 4: Das hat sich geändert, seitdem ich mir einen Vollbart habe wachsen lassen! (Eventuell entferne ich ihn aber auch irgendwann wieder.) Das ist eine Bemerkung aus dem Jahre 2002. 2010 sieht das schon etwas anders aus. Zurück zum Haupttext

Anm. 5: Es gab noch eine Menge anderer Ereignisse vor meiner Entstehung, die mein Leben maßgeblich beeinflussten, außer denen, die ich im Folgenden erläutere. Aber bis ins Archäozoikum, als auf der Erde die ersten primitiven Lebensformen entstanden (vor ca. 3,5 Milliarden Jahren), wollte ich nicht zurückgehen. Das würde dann doch den Rahmen meiner Lebensgeschichte etwas sprengen. Wer möchte kann als »Propädeutik« ;-) von Hoimar von Ditfurth Im Anfang war der Wasserstoff lesen, eine sehr schöne Schilderung der Entwicklung der Welt vom Urknall bis in unsere heutige Zeit. (Oder meine Zusammenfassung dieses Buches.) Des weiteren (das meine ich jetzt Ernst) kann man etwas lesen über das Christentum und über den Marxismus. Das Christentum spielte in meiner Kindheit eine große Rolle, der Marxismus in meiner Jugendzeit. – Der folgende Text hat in etwa den Umfang einer Rowohlt Bildmonographie. Hätte ich jedes Ereignis aus meinem Leben erwähnt, das ich erinnere, wäre der Text mehr als doppelt so lang geworden. Ich beschäftige mich im Folgenden nicht mit jeder Freundin, jedem Job, jeder Urlaubsreise, jedem fremden Land, welches ich gesehen habe, jeder Krankheit, die ich hatte, jedem Buch, das ich gelesen habe etc. Ich beschränke mich weitgehend auf die Ereignisse, die für mein Leben besonders wichtig waren und erklären, warum ich der Mensch geworden bin, der ich heute bin, mit den Lebensumständen, der inneren Gemütsverfassung, den Verhaltensweisen, den Interessen, den Wertvorstellungen, den politischen und weiteren Auffassungen etc., die ich heute habe. Und ich ziehe Schlussfolgerungen, entwickle Erklärungen etc., die eventuell anderen (besonders jüngeren) Menschen für ihr Leben eine Hilfe sein könnten. Und last not least bemühe ich mich darum einen unterhaltsamen Text zu schreiben, der hin und wieder auch ein bisschen humorvoll ist. Denn in meinem Leben hat es neben den diversen Problemen auch immer das Lustige gegeben. – Menschen, die von sich wissen bzw. die des Öfteren von anderen gesagt bekommen, dass sie humorlos seien, die werden Teile dieses Textes dumm oder widerlich finden. Zurück zum Haupttext

Anm. 6: Der Text der Offenbarung kann im Internet nachgelesen werden. Zurück zum Haupttext

Anm. 7: Eine umfangreiche Sammlung von Internet-Seiten zur Katholisch-Apostolischen Kirche (KAK), bzw. zu den Katholisch-Apostolischen Gemeinden (KAG) findet (oder fand) man bei APWiki. Dort gibt (oder gab) es auch Seiten über meinen Ururgroßvater Gottlieb Schwarz und meinen Urgroßvater Friedrich Eduard Gottlieb Schwarz. Die dortigen Informationen weichen (oder wichen) in einigen Punkten von dem ab, was ich aus meiner Kindheit an Berichten über meine Vorfahren erinnere und was ich von Verwandten gehört habe. Deshalb habe ich im Januar 2013 Änderungen meines Textes vorgenommen. Zurück zum Haupttext

Anm. 8: Friedrich Wilhelm Schwarz war ein Bruder meines Ururgroßvaters Gottlieb Schwarz. Die von ihm geführten Kirchengemeinden haben sich damals noch nicht »neuapostolisch« genannt und waren von Glaube und Organisation her auch noch nicht so, wie die heutige »Neuapostolische Kirche«, was ich aus diverser Literatur und vielen Internetseiten inzwischen weiß. Zurück zum Haupttext

Anm. 9: Ich erinnere aus meiner Kindheit, dass mein Vater davon sprach, seine Mutter sei mit dem Werner Otto, dem Gründer des Otto Versands, verwandt. Der stammt wie meine Oma aus der Uckermark. Näheres weiß ich leider nicht. (Und wüsste ich es, ich müsste trotzdem bezahlen. Nichts ist schlimmer als arme Verwandte, die was umsonst wollen ;-) Zurück zum Haupttext

Anm. 10: Kritik des philosophischen Materialismus. – Zurück zum Haupttext

Anm. 11: Die Ontogenese des Menschen ist die Entwicklung von der befruchteten Eizelle zum geschlechtsreifen Erwachsenen. Nach  Haeckel ist sie die verkürzte und etwas abgewandelte Rekapitulation der Phylogenese, der Entwicklung von der Urzelle zur menschlichen Gattung. Zurück zum Haupttext

Anm. 12: Nehmen wir mal an, der Herr wäre tatsächlich gekommen. Hätte er dann auch nur da .., hätte er dann die Katholisch-Apostolischen oder die Neuapostolischen mitgenommen? Oder gar die Zeugen Jehovas? Die jeweils anderen hätten jedenfalls ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt. ;-) Zurück zum Haupttext

Anm. 13: Es gibt viele Internetseiten mit kuriose Bibelzitate und widersprüchliche Aussagen der Bibel. Zurück zum Haupttext

Anm. 14: Heutzutage esse ich mindestens dreimal die Woche Fisch wegen der wertvollen Omega-3-Fettsäuren. Fisch ist gut fürs Gehirn. Zurück zum Haupttext

Anm. 15: Kurzer Exkurs: In dem Zusammenhang fällt mir die Frage ein: Hat der Liebe Gott eigentlich eines Penis? Und wenn nicht, woran ist eigentlich erkennbar, dass er männlich ist? Weil er einen Bart hat? Da gibt es eine Menge Damen, die diesbezügliche Probleme haben. Und wenn er einen Penis hat, wofür eigentlich? Trinkt der etwa was, so dass er hin und wieder urinieren muss? Das würde ja bedeuten, dass es im Himmel ein Pissoir geben müsste. (Es stinkt nicht zum Himmel, es stinkt im Himmel. Den Verdacht hatte ich schon lange.) Wenn er aber nicht uriniert, wofür hat er sich dann einen Penis gemacht? Die griechischen Götter haben ja noch gevögelt wie die Menschen, aber der christliche Gott macht eine solche Schweinerei natürlich nicht. Da wird unbefleckt gezeugt. Und selbst dafür hat man einen Vertreter. Fragen wir mal den Papst, ob Gott einen Penis hat. Aber der Papst weiß es vielleicht nicht mal von sich selbst. Tucholsky: »Betreff seines Geschlechts befrage man seinen Hausarzt.« Zurück zum Haupttext

Anm. 16: Die Art von Fußball, die wir spielten, ist aber auch nicht vergleichbar mit dem Spiel einer Vereinsmannschaft, auch nicht einer Kindermannschaft. Da gab es keinen Trainer und keine Organisation. Da war ein Ball und ein Knäuel von ca. zehn Jungen, die versuchten gegen diesen Ball zu treten. Starke Ellenbogen war wichtiger als gute Füße. Ich habe mich in solche Knäuel nie hineingetraut und stand als »Verteidiger« vor dem Tor, für den Fall, dass der Ball mal in dieser Richtung geflogen kam. – Ein Foto von mir aus den frühen 60er Jahren. Zurück zum Haupttext

Anm. 17: Ich mag bis heute keine Hunde. Aber ich mag Katzen. Katzen sind ruhig, friedlich und sauber. Hunde sind laut, aggressiv und dreckig. (Es gibt Ausnahmen! Die Hunde meiner Leser sind natürlich nicht so ;-) Zurück zum Haupttext

Anm. 18: Primäre Bedürfnisse = Liebe, Geselligkeit, Produktivität u. ä.
Sekundäre Bedürfnisse = Hass, Ungeselligkeit, Destruktivität, Sadismus u. ä.
Näher ausgeführt habe ich dies im 9. Kapitel »Meiner Philosophie«. – Zurück zum Haupttext

Anm. 19: Zu diesem Bruch und den späteren drei weiteren ist anzumerken, dass sie nicht von heut auf morgen stattfanden. Sie zogen sich über ein bis zwei Jahre hin. Es gab zwar bestimmte Daten, an denen man sie festmachen konnte, aber es dauerte immer eine gewisse Zeit bis eine Lebensphase wirklich beendet und eine andere sich voll durchgesetzt hatte. Zurück zum Haupttext

Anm. 20: Ich habe überhaupt nichts gegen die Emanzipation der Frau. Ich habe in meinem Leben häufig weibliche Chefs gehabt und von einer Ausnahme abgesehen (wo ich an eine bösartige Person geraten war), bin ich immer gut mit denen ausgekommen. Von mir aus können Frauen Minister und Bundeskanzler werden. (Solange sie nicht im Radio Reportagen von Fußballspielen – der Herren-Bundesliga – machen ;-) Was ich aber ablehne, ist, wenn »Emanzipation« nur eine Umkehrung ungerechter Verhältnisse bedeutet, oder wenn unter neuen Vorwänden alte Verklemmtheiten kultiviert werden. Das habe ich im weiteren Verlauf meines Lebens häufig erlebt. Früher war es »unanständig«. Heute ist es »frauenfeindlich«. – »Was? Für Frauen interessierst du dich? So ein Ferkel bist du also.« Zurück zum Haupttext

Anm. 21: »Homoehe«? Alleine der Gedanke, dass es solche ähh, igitt ... gab, war schon katastrophal genug. Meine Verwandten waren keine Menschen, die irgendetwas konsequent zu Ende dachten. Frauen, die sich ständig darüber beklagen, dass die Männer »immer nur das Eine wollen«, sollten eigentlich froh sein, wenn Männer »dieses Eine« unter sich betreiben. Zurück zum Haupttext

Anm. 22: Durchschnitt 4,06. – Acht Jahre später holte ich mir eine Kopie dieses Zeugnisses, da ich es für die Anmeldung zur HWP-Aufnahmeprüfung brauchte. Es ist das einzige Volksschulzeugnis, was ich heute noch habe. Zurück zum Haupttext

Anm. 23: Als er Alkoholiker wurde, hat die Firma ihn rausgeschmissen. Allerdings erst, als es längere Zeit andauerte. Zurück zum Haupttext

Anm. 24: Zwischen meinem Monitor und dem Scanner steht das Modem. (So war es bis 2008, als ich den DSL-Anschluss bekam.) Hin- und wieder puste ich in Richtung der blinkenden Dioden. Dann wirbelt der Staub auf und man kann das Modem wieder sehen. Meine Küche muss ich nicht so oft saubermachen wie andere Menschen. Da ich schlechte Augen haben, sehe ich den Schmutz nicht so gut. Und wenn die Sonne mal so richtig in die Küche reinknallt, im Sommer am späten Vormittag passiert das gelegentlich, dann verlasse ich die Küche, bis die Sonne weg ist. Ich habe kein Ungeziefer in der Wohnung. (Das würden in dem Dreck gar nicht überleben ;-) Ich weiß ja, dass Insekten wie alle zellulär aufgebauten Lebewesen einen Stoffwechsel mit der Natur haben, und wo sie nichts zu fressen finden, können sie nicht existieren. Deshalb sind Speisen und Speisereste gut verpackt. (Man muss natürlich aufpassen, dass man mit der Zeit nicht ein kleines Biotop in seiner Küche hat, wo sich die Tierchen untereinander fressen und auf die Speisen der Menschen gar nicht mehr angewiesen sind.) Nun wird mancher denken, es sei katastrophal nicht besonders gut sauberzumachen, da man den Schmutz nicht sieht. Aber viele Leute dürften sich nie einen Apfel oder eine Erdbeere etc. unter dem Mikroskop ansehen, auch nicht nach dem Abspülen, da sie ansonsten vor lauter Ekel nie wieder Obst essen würden. Auf einem menschlichen Körper leben mehr Mikroorganismen als Menschen auf der Erde. (»Ja, auf dei'm Körper vielleicht! Aber nicht auf mei'm.«) Die kann man sich gar nicht alle vom Halse schaffen. Und könnte man es, wäre man anschließen anfälliger für Infektionskrankheiten, da der Körper keine Abwehrkräfte entwickeln würde. Zurück zum Haupttext

Anm. 25: Dietrich Kittner, inzwischen verstorbener Kabarettist, der einer breiteren Öffentlichkeit nicht besonders bekannt war. Wegen seiner starken DDR-Nähe wurde er zu Kabarett-Sendungen im Fernsehen nie eingeladen. Viele seiner Texte habe ich zu Beginn der 70er Jahre kennengelernte und einige davon auswendig gelernt. Einer meiner Lieblings-Sketche war Der Lehrling aus dem eben zitierter Spruch stammt. Zurück zum Haupttext

Anm. 26: Später, als ich über den 2. Bildungsweg studierte, hatte ich auch Latein. Da hätte ich das Wort »Kompression« von pressare, pressor (drücken), compressio (Zusammendrückung, aber auch »Beischlaf«) ableiten können. Zu dieser Zeit waren das für mich aber noch böhmische Dörfer. (In der Autoreparaturwerkstatt und auf der Tankstelle bedeutete »Kompression« einfach nur von einem Kompressor zusammengedrückte Luft, mit der man die Reifen aufblies.) Zurück zum Haupttext

Anm. 27: »Liebe deinen Nächsten, das sag ich dir, du! Wenn du mir deinen Nächsten nicht liebst. Ich schlag dich grün und blau!« Zurück zum Haupttext

Anm. 28: Kurzer Zwischenruf: Man kann Verbrechen nicht gegeneinander aufrechnen. Ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen. Die vorsätzliche Bombardierung der Zivilbevölkerung, also auch von Kinder, die überhaupt noch keine Nazis sein konnten, mit Phosphor, das sich bei 26° selbst entzündete war ein Kriegsverbrechen. Churchill und sein Luftmarschall Harris waren Kriegsverbrecher. Dass Hitler und Stalin hundert Mal mehr Menschen ermorden ließen bzw. deren Tod verschuldeten, ändert daran nichts. Wir Deutschen müssen in aller erster Linie auf unsere Kriegsverbrecher kucken. Aber anderen Völkern ist das auch zumutbar. Zurück zum Haupttext

Anm. 29: Wie ich heutzutage über Religion denke, geht hervor aus dem philolex-Artikel »Religion und Philosophie« und weiteren Artikeln, auf die in diesem Artikel verwiesen wird. Heute weiß ich, dass es Religion so lange geben wird, wie es Menschen gibt. Die allermeisten Menschen sind weder fähig noch bereit, Philosophen zu werden. Religion hat u. a. den Aspekt, Opium des Volkes zu sein und das Volk will und braucht (geistiges) Opium. Manchmal denke ich scherzhaft, die Kommunisten wären klug gewesen, hätten sie Marx in einer Scheune vor Trier zur Welt kommen lassen ;-) Jude war er sowieso wie der andere Religionsstifter. Vielleicht hätten die Kommunisten dann länger durchgehalten. Die Christen halten mit solchen Mythen schon seit 2000 Jahren durch. Zurück zum Haupttext

Anm. 30: Gesammelt sind solche Textstellen in dem Buch  »Denn sie wissen nicht, was sie glauben« von Franz Buggle. Zurück zum Haupttext

Anm. 31: In meinem Aufsatz »Kritik des philosophischen Materialismus« habe ich geschrieben, dass ich es nicht für besonders wahrscheinlich halte, zufällig entstanden zu sein. Ich neige dazu anzunehmen, dass, wären meine Eltern nie Eltern geworden, ich heute als ein anderer existieren würde. Dies ist aber eine Spekulation. Und ob ich mich dann in besseren oder schlechteren Verhältnissen befinden würde, ist eine weitere Spekulation. Zurück zum Haupttext

Anm. 32: Personen unter 18 dürfen diese Anmerkung nicht weiterlesen! Von den zig Sprüchen, die er von sich gab, erinnere ich zwei: »Jetzt geht's rund, fünf in Arsch und ein in Mund.« »Sperma den Mund auf.« Ich war ein begeisterter Witzeerzähler. Darunter waren auch viele Sexwitze, die ich heute gar nicht mehr erzählen würde, da sie mir zu primitiv sind. Aber so ordinäre Sprüche wie Karl Heinz L. drauf hatte, habe ich nie von mir gegeben. – Es gibt einen Witz, den ich damals schon kannte und heute noch gerne erzähle: »Es gibt Menschen, die hatten in ihrer Kindheit zwei Berufswünsche: Schauspieler oder Gangster. Und die werden dann später Politiker.« Zurück zum Haupttext

Anm. 33: Eine Menschengruppe danach zu bezeichnen, wie ihr Anführer, ihr Idol etc. ermordet wurde, ist menschenverachtend! Was auch immer das für ein Mensch gewesen sein mag, was auch immer die Menschen, die zu dieser Gruppe gehören, für Menschen sein mögen. Humanistische Gesinnung drückt sich so nicht aus. Dazu kommt nun noch, dass Trotzki in den Tagen der Oktoberrevolution und in den Jahren darauf auf kommunistischer Seite nach Lenin die zweitwichtigste Person war. Nach Lenins Worten hatte er die Rote Armee aus dem Boden gestampft und mit ihr den Bürgerkrieg gewonnen. Ob das ohne Trotzki überhaupt gelungen wäre, steht in den Sternen. Wenn Kommunisten von »Eispikelfraktion« sprachen, dann demonstrierten sie neben Menschenverachtung außerdem noch Dummheit. Lenins gesammelte Werke waren jedem Kommunisten zugänglich. Jeder hatte die Möglichkeit da reinzukucken. Und wenn man es getan hätte, wäre einem aufgefallen, dass immer und immer wieder dort der Name Trotzki stand. (Und die Namen vieler anderer, die Ende der 30er Jahre ermordet wurden.) Der Name Stalin tauchte erheblich seltener auf. Stalin war in den ersten Jahren noch ein Funktionär in der 2. Reihe. Zurück zum Haupttext

Anm. 34: Che Guevara war damals ein weit verbreitetes Jugendidol, auch bei Leuten, die keine Kommunisten waren. Sein Konterfei zierte viele Hemden, Fahnen, Plakate. Heute ist es ja immer noch so, wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß, wie zu meiner Jugendzeit. Was mir damals allerdings nicht bekannt war (und vielen bis heute nicht bekannt ist): Che Guevara war ein knallharter Stalinist. Auch nach der »Entstalinisierung« in der Sowjetunion, bestand er darauf, am Grab Stalins einen Kranz niederzulegen, was die meisten kommunistischen Führer zu der Zeit vermieden. (Da sich inzwischen herum gesprochen hatte, dass Stalin auch hunderttausende der eigenen Genossen hatte umbringen lassen.) Mit Ho Chi Minh war es ähnlich. Damals auch ein Jugendidol, besonders ein Idol der Studentenbewegung. Ho Chi Minh war eine Mischung aus vietnamesischem Nationalisten und Stalinisten. Er wollte sein Land frei haben von französischen Kolonialisten und amerikanischen Truppen. Aber frei war sein System so wenig, wie das in der damaligen DDR. Ich bin bis heute kein Verteidiger des Vietnam-Krieges. Wie amerikanische Präsidenten ihr Volk, ihr Parlament hinters Licht geführt haben, um diesen Krieg führen zu können, ist heute bekannt. Aber es sollte mal Schluss sein mit der linken Illusion, dass die Leute auf der anderen Seite Engel waren, liebe, nette Freiheitskämpfer. Ach was! Politische Fanatiker waren es, die sich und andere bedenkenlos für ihre illusionäre Sozialutopie geopfert haben. Zurück zum Haupttext

Anm. 35: Wo das einst war, ist jetzt die Zentrale des BND, des Bundesnachrichtendienstes! Soweit zur Frage, wer die »Sieger der Geschichte« sind! Ich bin ja nun nicht unbedingt ein Fan von Geheimdiensten, aber wenn ich an einige Leute denke, die mir im Laufe meines Lebens geschadet haben, dann empfinde ich bei diesem Gedanken unverhohlene wohltuende Häme. Zurück zum Haupttext

Anm. 36: Der Trägerverein und das Jugendzentrum Startloch existieren heute noch, allerdings in anderen Räumlichkeiten als damals. Foto von mir aus den frühen 70er Jahren. Zurück zum Haupttext

Anm. 37: Am 20. Juni 1979 habe ich zum ersten Mal in meinem Tagebuch davon gesprochen, dass ich einen »Marktwert« in den zwischenmenschlichen Beziehungen habe. Das war aber nur das aller erste Aufflackern der Wahrheit in meinem Bewusstsein. Diese Erkenntnis wurde immer wieder durch Wunschdenken getrübt und hinterließ bis in die frühen 80er Jahre keine Spuren in meinem praktischen Verhalten. – Ob der Wert eines Menschen etwas subjektives, intersubjektives oder objektives darstellt, das ist letztlich eine Frage der Betrachtung. Im Rahmen einer dialektischen Denkweise schlägt objektives und subjektives ineinander um. Näher beschäftigt habe ich mich damit in dem Aufsatz Dialektik. – Zurück zum Haupttext

Anm. 38: Festzustellen, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren, bedeutet übrigens nicht – wie Horkheimer und andere behaupten –, eine Parteinahme für diese konkrete Art des Funktionierens. Warum sollte ich dieses Funktionieren gutheißen? Für mich wäre es von Nutzen, würden zwischenmenschliche Beziehungen anders funktionieren. Die Nicht-Erkenntnis des tatsächlichen Funktionierens war mir zum Nachteil. (Viele andere Menschen um mich herum unterlagen dem gleichen Irrtum, aber da sie in der Regel attraktiver waren, wurde ihnen dies nicht zum Verhängnis.) Die Nicht-Erkenntnis, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren, hat die Linken vielfach zu politischen Strategien geführt, die gescheitert sind und hunderte Millionen Menschen ins Unglück gestürzt haben. Ich bin deshalb ein Anhänger des Wertfreiheitspostulats Max Webers, nachdem wir erst einmal wertfrei feststellen, was Sache ist und erst dann die Tatsachen gemessen an unseren Wertvorstellungen beurteilen und nach Strategien suchen, die Tatsachen orientiert an unseren Wertvorstellung zu ändern. Bei dem Erkenntnisversuch bereits Wünsche und Wertvorstellungen einfließen zu lassen, so dass man gar nicht mehr in den Blick bekommt, wie es überhaupt im Moment ist, hat sich in der Praxis als schlecht erwiesen. Zurück zum Haupttext

Anm. 39: Die Lebensverhältnisse sind neben der Natur und der Psyche eines Menschen ursächlich dafür, was für ein Mensch, was für eine Persönlichkeit man ist. Aber nicht nur die ökonomischen Lebensbedingungen, auf die die Marxisten besonders hinweisen. Wie es im zwischenmenschlichen Bereich, in der Partnerschaft bestellt ist, hat mindestens die gleiche, wenn nicht sogar eine größere Bedeutung dafür, was für ein Mensch man ist. Wenn ein Mensch über Jahre hinweg elementarste Bedürfnisse nicht befriedigen kann, dann hinterlässt das seine Spuren. – Selbst wenn der Kommunismus auf ökonomischem Gebiet funktionieren würde, was nicht der Fall ist, welches Interesse sollten Menschen an einem solchen System haben, die auf dem elementarsten Gebiet, wo die Bedürfnisse am stärksten sind, im übertragenen Sinne weiterhin »arm« wären, da sie nur das Schlechtere bekommen? Machtlos zusehen müssten, wie andere das Bessere haben? (Ich habe im philolex-Artikel über  Alfred Adler dargelegt, dass, solange sich die Menschen gegenseitig bewerten, es zwangsläufig mehrwertige und minderwertige Menschen geben wird.) – Die einzige Lösung, die ich heute für dieses Problem sehe, ist, dass es in Zukunft keine unattraktiven Menschen mehr gibt. Wie ich mir dies konkret vorstelle, erläutere ich weiter hinten. Zurück zum Haupttext

Anm. 40: Sollten junge Männer diesen Text hier lesen, die heute mit Mädchen solche Probleme haben, wie ich vor dreißig Jahren, dann gebe ich ihnen folgenden Tipp: (Aber bitte nur als Gegenwehr! Nicht als Angriff.) Man kann einem Mädchen nichts schlimmeres antun, als einen guten Witz über ihr Gesicht zu machen. (Soweit wir mal Straftaten ausklammern selbstverständlich.) Das trifft sie hart. Was man sagt, muss aber zumindest ein ganz klein wenig der Realität entsprechen. Wenn es völlig an der Wahrheit vorbeigeht, bringt es selten was. Man muss das Gesicht sprachlich karikieren. In fast jedem Gesicht findet man irgendeine und sei es noch so kleine Besonderheit und die muss man aufbauschen. Mädchen wissen in der Regel um solche Besonderheiten und sind in diesem Punkt sehr hellhörig und sehr verletzbar. – Dass mir im Zusammenhang mit vielem, was ich hier schreibe, Frauenfeindlichkeit vorgeworfen werden würde, das war mir klar. Nun ist mir im Zusammenhang mit diesem Absatz vorgeworfen worden, ich würde zu Gewalt gegen Frauen aufrufen. Dazu folgendes: Jeder Mensch, der angegriffen wird, ob nun verbal-seelisch oder mit körperlicher Gewalt, hat das Recht sich zu verteidigen. Und da jeder Mensch, ob Frau oder Mann, ob alt oder jung, ob schwarz oder weiß etc. Opfer von Angriffen werden kann, hat jeder auch das Recht sich zu überlegen, wie er in einer solchen Situation reagieren wird, hat das Recht Verteidigungsstrategien zu erlernen. Wenn Frauen Selbstverteidigungskurse machen oder Tränengasspray bei sich tragen, um sich im Ernstfall gegen einen Vergewaltiger wehren zu können, dann ist dies völlig in Ordnung. Aber man kann dies alles auch zum Angriff missbrauchen. Wenn nun jemand Selbstverteidigungsstrategien zum Angriff missbraucht, ist dann derjenige, der ihm diese beigebracht hat, Schuld an diesem Missbrauch? Kann man aus der Tatsache, dass Selbstverteidigungsstrategien hin und wieder zum Angriff missbraucht werden, den Schluss ziehen, dass solche nicht erlernt werden dürfen? Dann wäre man gewalttätigen Menschen hilflos ausgeliefert. – Anfang der 80er Jahre gab es auf irgendeiner Veranstaltung der Grünen eine Diskussion über die Abtreibung. Dort wurde von einige Diskussionsteilnehmern die Auffassung vertreten, auch die Drei-Monats-Fristen-Regelung sei abzulehnen, weil sie das Selbstbestimmungsrecht der Frau einschränkt. Es brauche zur Schwangerschaftsunterbrechung überhaupt keine gesetzlichen Regelungen zu geben. Und da habe ich gefragt, wo wir das Lebensrecht eines Menschen beginnen lassen wollen? Ein halbe Stunde vor der Geburt darf noch abgetrieben werden und in dem Moment, wo das Kind den Kopf aus dem Mutterleib gesteckt hat, hat es ein von der Allgemeinheit geschütztes Lebensrecht? Da wurde mir gesagt, es sei ja eine Unverschämtheit zu unterstellen, dass Frauen eine halbe Stunde vor der Geburt abtreiben würden. Und dass es eine Frechheit sei, dass ein Mann sich zu diesem Thema überhaupt äußert. Das war mal wieder die typische Blindheit des Subjekts bzw. der Gruppe für sich selbst. Es hat KZ-Wächterinnen in Auschwitz gegeben. Es gibt Gift-Mörderinnen. Es gibt Frauen, die ihre Kinder totschlagen oder verhungern lassen. Tucholsky sagte mal, dass die verschiedenen Generationen einander für verschiedene Rassen halten. Häufig ist es aber auch so, dass die zwei Geschlechter für zwei verschiedene Rassen gehalten werden. Das geht bis zum Geschlechtsrassismus. Nietzsche schreibt im Zarathustra: »Oberfläche ist des Weibes Gemüt, eine bewegliche stürmische Haut auf einem seichten Gewässer. Des Mannes Gemüt aber ist tief, sein Strom rauscht in unterirdischen Höhlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift sie nicht.« Was ich heutzutage bei einigen Frauen über die Erkenntnisfähigkeit des Mannes lese, ist Nietzsche von der anderen Seite. Zurück zum Haupttext

Anm. 41: Dazu mein eigener derber Aphorismus: »Es gibt Hundehalter, die haben so viel Scheiße im Kopf, dass es sie nicht stört, dass außerhalb ihres Kopfes auch überall Scheiße ist.« Es ist etwas übertrieben, stimmt tendenziell aber leider: Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg habe die deutschen Frauen Hunde und die türkischen Frauen Kinder. Aber zumindest in den ostberliner Neubaugebieten Marzahn und Hellersdorf sterben die Deutschen nicht aus. Zurück zum Haupttext

Anm. 42: Das einstige Nesthäkchen hat sich zum Adler gemausert mit scharfen Blick und scharfen Krallen, der auch nicht davor zurückschreckt, auf seine einstigen Zieheltern einzuhacken. Zurück zum Haupttext

Anm. 43: Diese im Osten ausgebrütete Theorie hatte auch unter den Jusos Anhänger. Lange Zeit gab es bei den Jusos einen »Stamokap«-Flügel. Prominente Vertreter dieser Richtung waren der spätere Generalsekretäre Benneter und der heutige stellvertretende Parteivorsitzende Scholz. Benneter war wegen Bündnissen mit der DKP sogar einige Jahre aus der SPD ausgeschlossen. Zurück zum Haupttext

Anm. 44: Einige frühe Aufsätze von mir aus dieser Zeit, die wenigen, die ich noch habe, zeigen meinen damaligen Entwicklungsstand und meine damaligen politischen Überzeugungen. Zurück zum Haupttext

Anm. 45: Im Mehlandsredder 39b, direkt neben uns, wohnte in den 60er Jahren die Familie Facklam. Der Mann war Polizist und Ende der 60er Jahre soweit ich erinnere Frühpensionär. Den habe ich damals zusammen mit meinen Freunden häufig geärgert. Mit lauter Musik oder in den Tagen vor Sylvester mit stundenlangem Werfen von China-Böllern in den Kellereingang. Wenn es einen Himmel geben sollte, man dort Schadenfreude empfinden kann und einen Auferstehungsleib hat, dann kuckt der Facklam wahrscheinlich von oben herab und reibt sich die Hände. »Hä, hä, hä! Jetzt kriegt er das zurück. Jetzt ist er alt und mit den Nerven fertig. Hä, hä!« (Aber eines habe ich jedenfalls nicht gemacht: Ich habe nicht andere Menschen mit kriminellen Intrigen um ihre Wohnung gebracht, was das Schwein in der Wohnung unter mir seit langem versucht. Ja, ja, Verfolgungswahn. ;-) Das ich nachts regelmäßig aus dem Schlaf geschüttelt werde, bilde ich mir nur ein.) Zurück zum Haupttext

Anm. 46 Die HWP ist inzwischen aufgelöst worden, bzw. sie wurde der Universität Hamburg angegliedert. Zurück zum Haupttext

Anm. 47: Heutzutage sehe ich das völlig anders. Die Spaltung Deutschlands war multikausal bedingt. Es waren besonders drei Gründe: 1. Die Kommunisten hatten einen absoluten Wahrheitsanspruch und daraus hatten sie einen absoluten Machtanspruch abgeleitet. Eine politische Gruppe unter mehreren zu sein, sich echten Wahlen zu stellen und deren Ergebnisse zu akzeptieren, machten die Kommunisten nur solange, wie ihnen auf Grund der Kräfteverhältnisse nichts anderes übrig blieb. 2. Die Sowjetunion war nicht bereit, den von ihr besetzten Teil Deutschlands dem westlichen Block zu überlassen (freie Wahlen hätten dies zur Folge gehabt) und unter der Oberhoheit der Sowjetischen Armee konnten die ostdeutschen Kommunisten die Macht ausüben ohne sie mit anderen politischen Gruppen teilen zu müssen. 3. Ob die Sowjetunion tatsächlich bereit gewesen wäre ein vereinigtes neutrales Deutschland zu akzeptieren (also die finnische und österreichische Lösung), ist von den westdeutschen Politikern nicht zur Genüge ausgelotet worden. Die Westbindung des westdeutschen Staates war den allermeisten westdeutschen Politikern – vorneweg Adenauer – wichtiger als die Einheit. In einem neutralen Deutschland (ohne die einstigen Ostgebiete, auf die man in den 50er Jahren noch nicht verzichten wollte), sahen Viele ein zu schwaches, zu verletzliches Gebilde. Die Hauptschuld für die Spaltung Deutschlands (wie die Europas) lag bei der Sowjetunion und den Kommunisten. Zurück zum Haupttext

Anm. 48: Die Häuser, in denen sich die Parteischule befand, gehörten ursprünglich zum Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus, einer Einrichtung der Psychiatrie und Neurologie. Wir waren in Gebäuden untergebracht, die für Geisteskranke bestimmt waren! Sie wurden bis Ende der 60er Jahre von der Sowjetischen Armee genutzt und dann an die DDR-Regierung übergeben, die dort eine Parteischule für westdeutsche Genossen einrichtete. Von der Psychiatrie trennte uns nur ein Zaun. Ein Genosse machten den Witz: »Da drüben ist der Schriftstellerverband.« Dass man als Dissident schnell in der Psychiatrie landen konnte, wussten wir. Die DDR-Dozenten und einige westdeutsche Genossen fanden den Witz nicht komisch. Aber erzählt wurden solche Witze. Ein normaler DDR-Bürger hätte dafür mehr Ärger bekommen, als wir privilegierten westdeutschen Kommunisten. – Zurück zum Haupttext

Anm. 49: Erich Mielke hat während des spanischen Bürgerkrieges hinter der Front auf republikanischer Seite Trotzkisten, Anarchisten und andere Linke, die den Stalinisten nicht passten, ermordet oder ermorden lassen. Zurück zum Haupttext

Anm. 50: Ausschnitte: »Sie müssen sich beugen. ... Es ist so leicht. Es ist so süß; ein kleines Nachgeben, ein leichtes Wiegen des Kopfes, ein winziges Verleugnen des Grundsätzlichen, und Sie sind ein beliebter, angesehener, überall freundlich aufgenommener junger Mann! ... Schweigen ist die Perle in der Krone der menschlichen Künste. Schweigen Sie!« »Ich muss sprechen!« sagte ich laut. »Sie müssen nicht. I, wer wird denn müssen! Schweigen Sie, beugen Sie sich! ... Bin ich angestellt, ihnen die Wahrheit zu sagen, die unbequeme, harte Wahrheit?« »Wir alle sind angestellt, den Menschen die Wahrheit zu sagen!« sagte ich. »Ich nicht«, sagte der Meister, »ich nicht. Ich habe diese Anstellung gekündigt, und seitdem geht es mir sehr gut.« Zurück zum Haupttext

Anm. 51: Über Wolf Biermann gibt es Internet-Seiten. Zurück zum Haupttext

Anm. 52: Ich glaubte damals, die DDR könnte einen linken Pluralismus aushalten. In dem Punkt lag ich falsch. Wie Biermann und andere. Hier jedenfalls hatten die damaligen Machthaber in der DDR und ihr westdeutscher Anhang recht. Die DDR konnte keinen, nicht den geringsten Pluralismus aushalten. Sie konnte nur als totalitäre Diktatur bestehen. Und zwar nicht als »Diktatur des Proletariats«, sondern als Diktatur einer pyramidenförmig aufgebauten Kaste stalinistischer Parteifunktionäre. Als diese Diktatur nicht mehr aufrecht zu erhalten war, ging die DDR innerhalb eines Jahres unter. Wie sich später zeigte. – Ich glaubte damals, man könne die Mehrheit der Bevölkerung für ein sozialistisches System gewinnen, ein solches könnte mit der aktiven Unterstützung der großen Mehrheit der Bevölkerung demokratisch und freiheitlich auf Dauer existieren. Das war ein großer Irrtum. Die Menschen sind nicht so, wie sie sein müssten, damit das geht. Und deshalb bin ich heute kein Sozialist mehr. Weil es sich nicht lohnt, etwas unrealisierbares anzustreben. Zurück zum Haupttext

Anm. 53: Text und Musik von »Warte nicht auf bessere Zeiten« gibt es im Internet. Zurück zum Haupttext

Anm. 54: In den Tagen, als ich die Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns organisiert habe, da bin ich eines Abends mit dem Zug nachhause gefahren und während der Fahrt wurden meine Unterschenkel taub. Sie waren wie gelähmt. Das war mir unerklärlich. Es ist mir im weiterem Verlauf meines Lebens auch nie wieder passiert. Jahrzehnte später las ich, dass die Stasi mit Giften gearbeitet hat, die eine Lähmung der Unterschenkel hervorrufen. Ich vermute heute, dass dies der zweite Fall war, wo mich Stalinisten vergiftet haben. Aber diesmal war es nicht in der DDR. Es müssen also westdeutsche Stalinisten gewesen sein. Verfolgungswahn? Heute ist bekannt, dass es die DKP-MO (Militärorganisation) gab. Lautloses Töten wurde dort gelernt. Auch der Umgang mit Giften. Leider hatte ich zu dieser Zeit diesen Verdacht noch nicht. Sonst wäre ich gegen diese Leute ganz anders vorgegangen! Wahrscheinlich wurde ich in späteren Jahren noch des Öfteren vergiftet, worauf ich weiter hinten noch näher eingehe. Nun hatte meine Großmutter einen Verfolgungswahn und ich hüte mich deshalb davor, solche Vermutungen zu verabsolutieren. Aber Tatsache ist nun mal, dass die Stasi im Westen Leute vergiften ließ. Mich umzubringen, das hätte zu viel Aufsehen erregt. Also das Gift so dosieren, dass der Kerl einfach nur krank wird. Und wenn er dann wochenlang oder später auch monatelang ausfällt, dann sagt man: »Der kommt doch gar nicht mehr. Der kümmert sich doch um nichts mehr. Der meckert nur.« Ja, so hat er gearbeitet, der Schmutz in Menschengestalt. Und wenn das Leute in meinem Alter waren, dann leben die heute noch. Die laufen unerkannt unter uns herum, weil die Akten vernichtet wurden. Zurück zum Haupttext

Anm. 55: An den letzten Satz erinnere ich mich besonders deutlich. Er war der Keim, der mich später zum Skeptizisten gemacht hat. Wenn es einen offenen Meinungsstreit über alle offenen Fragen geben soll, dann muss man feststellen, welche Fragen offen sind, d. h. aber auch, festzustellen, welche Fragen nicht offen sind. D. h. man muss herausfinden, was über jeden Zweifel erhaben wahr ist. Über die Jahre hinweg kam mir dieser Satz immer wieder aufs Neue zu Bewusstsein. Mitte der 80er Jahre machte ich mich auf die Suche nach dem, was über jeden Zweifel erhaben ist. Und in dem Maße, wie ich dies betrieb, je mehr Dogmen ich in mir fand und strich umso mehr neue Dogmen entdeckte ich in mir. Zum Schluss fiel ich in einen Abgrund von Nichtwissen. Näheres weiter hinten. Zurück zum Haupttext

Anm. 56: Nach dem Zusammenbruch des Realen Sozialismus ist er weich gefallen und wurde ZEIT- und FAZ-Redakteur. Trotz meiner negativen Erinnerungen an ihn aus der Zeit meiner Wegentwicklung von der SDAJ möchte ich sagen, dass ich mit seiner Einstellung zur Technik weitgehend übereinstimme. Was er dazu schreibt, gefällt mir erheblich mehr, als das, was auf der grün-linken Seite vorherrschend ist. Zurück zum Haupttext

Anm. 57: Nach dem Zusammenbruch des Realen Sozialismus ist er zu den Grünen gegangen und hat in NRW Karriere gemacht. Zeitweilig war er stellvertretender Regierungssprecher. Zurück zum Haupttext

Anm. 58: Ein weiterer Grund dafür, dass ich das Startloch geradezu mied, war, dass ich mich in eine ABM-Mitarbeiterin verliebt hatte. Das habe ich ihr aber nicht gesagt und auch sonst niemanden. Ich hatte nicht den Schimmer einer Chance bei ihr und von daher wäre ich mir lächerlich vorgekommen, hätte ich darüber mit anderen geredet. Aber immer wenn ich sie sah, wurde ich ganz traurig. Und dem wollte ich mich irgendwann nicht mehr aussetzen. – Einige Tagebuchseiten aus der Zeit meines Austritts aus der SDAJ und ein Foto von mir aus den späten 70er Jahren. – Zurück zum Haupttext

Anm. 59: Hinzu kommt, dass ich Menschen, die ich nur oberflächlich kenne oder mit denen ich seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr hatte, häufig nicht wiedererkenne. Manchmal bin ich mir bei Menschen, denen ich begegne, nicht sicher, ob ich die kenne oder nicht. (Und da die meisten wissen, dass ich schlechte Augen habe, könnten sie mich ansprechen, wenn sie an einer Unterhaltung etc. Interesse haben.) Zurück zum Haupttext

Anm. 60: Das Buch hatte mir Jens Peter H. mal gezeigt, als ich irgendwann Anfang der 70er Jahre mal zu Gast im Haus seiner Eltern war. (Als diese nicht zuhause waren und dort eine kleine Feier von SDAJlern stattfand.) Sein Vater hatte es in seinem Bücherbord. Ich frage mich, ob der Sohn es jemals gelesen hat. Ich habe mich später oft gefragt, wie Kinder aus gebildeten Elternhäusern, die das Glück hatten, dreizehn Jahre zur Schule gehen zu können, Kommunisten der moskautreuen Richtung werden konnten. Zurück zum Haupttext

Anm. 61: Heute sage ich mir, es wäre, was mein persönliches Glück anbetrifft, besser gewesen, mein Erkenntnisprozess bezüglich des Kommunismus und der Beurteilung des »Realen Sozialismus« wäre synchron mit dem meiner damaligen Genossen verlaufen. Aber es war 1978 nun mal nicht voraussehbar, dass sich viele DKP-Leute in Hamburg in den 80er Jahren nach und nach kritischer verhielten, und dass 1989/90 die DDR untergeht. Und da die Geschichte nach vorne »offen« ist – wovon ich heute beeinflusst durch Popper ausgehe – stand das alles 1978 noch gar nicht fest. Meinen Erkenntnisprozess konnte ich nicht künstlich, absichtlich aufhalten. Zurück zum Haupttext

Anm. 62: Tagebuchseiten zum Thema. – Zurück zum Haupttext

Anm. 63: Eine überarbeitete Fassung dieser Seminararbeit mit den gleichen Grundaussagen, die ich später an der Universität Hamburg abgegeben habe bei Prof. Bermbach (und problemlos ein Schein für bekam). Jeder hat die Möglichkeit sich ein eigenes Bild zu machen. – Die Auffassungen von Marx und Engels über die Abschaffung, bzw. das Absterben des Staates beruhten auf einem illusorischen Menschenbild. Heutzutage glaube ich nicht mehr, dass man auf den Staat verzichten kann. Näheres unter Staat. – Zurück zum Haupttext

Anm. 64: Eine überarbeitete Fassung meiner Diplomarbeit. Die Veränderungen sind fast nur Unterüberschriften um die langen Kapitel etwas überschaulicher zu machen. Jeder, der will, kann sich sein eigenes Urteil bilden. – Einige Jahre später hätte diese Arbeit einen anderen Grundtenor gehabt. Anfang der 80er Jahre hatte ich unter dem Einfluss von Popper den Geschichtsdeterminismus verworfen und auf Grund meines gewachsenen naturwissenschaftlichen Wissens erkannt, dass der Mensch nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein natürliches Wesen ist, und dass die Natur des Menschen den Kommunismus unmöglich macht. Zurück zum Haupttext

Anm. 65: Ich kann mir gut vorstellen, dass manch HWP-Absolvent das so gemacht hat. Ich habe selbst einem türkischen Kommilitonen, der mit mir im gleichen Studentenheim wohnte, bei der Erstellung einer Seminararbeit über Psychoanalyse »geholfen«, um das mal sehr vorsichtig zu formulieren. Für 200 DM. Das war fast geschenkt. Als seine Freundin handschriftliche Texte von mir auf der Schreibmaschine abtippte, kamen Aussagen zustanden, aus denen ein Blinder mit Krückstock hätte ersehen können, dass der angebliche Autor von Psychoanalyse (und der deutschen Sprache) keine (bzw. wenig) Ahnung hatte. Die schlimmsten Dinge habe ich dann noch nachträglich ausgebügelt. Damals hatten Studenten noch keine Computer. Damals gab es noch Tippex-Orgien. Zurück zum Haupttext

Anm. 66: Hätte sich Trotzki gegen Stalin durchgesetzt, dann wären wahrscheinlich zwei Dinge anders gewesen: 1. Der irrationale Massenmord an Millionen Menschen, die hinter dem System standen, bzw. für das System keine Gefahr darstellten, wäre unterblieben. 2. Die Sowjetunion wäre im 2. Weltkrieg mit erheblich weniger Opfern davongekommen. Trotzki war ein fähiger Militär und er hätte wohl auch nicht kurz vor Kriegsbeginn einige zehntausend Offiziere der roten Armee erschießen lassen. Das sowjetische Experiment hätten statt 40–50 »nur« 20–25 Millionen Menschen mit ihrem Leben bezahlt. Aber die allgemeinen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Grundstrukturen des sowjetischen Systems hätten sich unter Trotzki genauso entwickelt wie unter Stalin, zum großen Teil bestanden sie Anfang der 20er Jahre ja bereits. Die ganze Entwicklung hätte dann nicht »Stalinismus«, sondern »Trotzkismus« geheißen, und das sowjetische System wäre am Ende trotzdem zusammengebrochen, weil es auf einem verkehrten Menschenbild beruhte. Zurück zum Haupttext

Anm. 67: Die »Körnerkur« funktioniert folgendermaßen: Man kauft sich in einem Reformhaus ein Paket mit sieben verschiedenen Körnerarten. (Hafer, Hirse {bis dahin dachte ich, nur Wellensittiche ernähren sich von so was}, Gerste, Buchweizen, Naturreis etc.) Eine Woche lang bereitet man morgens eine dieser Körnerarten nach mitgelieferten Rezepten zu. Dann isst man widerwillig morgens etwas davon, mittags noch ein paar Happen und das meiste wirft man weg, weil es überhaupt nicht schmeckt. Und dabei nimmt man ab. (Wenn man nicht ersatzweise etwas anderes isst!) Später habe ich dann die Körner gar nicht erst gekauft, sondern gleich Nulldiät gemacht, oder mich auf ein paar trockne Brötchen und Vitamintabletten beschränkt. Wenn ich dann zusätzlich viel Rad fahre, nehme ich so in einer Woche drei Kilo ab. Zurück zum Haupttext

Anm. 68: Jahre später war ich mal zwei Wochen in einer Jugendherberge in Horb, Schwarzwald. (Als ich in Freiburg wohnte.) Ich hatte dort einen Studentenjob auf einer Baustelle. In der gleichen Jugendherberge war ein junger Bursche aus Oberbayern, der in Horb seine Freundin besuchte. Als ein paar Tage später ein Gast aus Düsseldorf dazukam, fragte der uns, wie wir uns überhaupt verständigen würden, ob es nicht besser sei, Englisch zu sprechen. Aus Sicht der Nicht-Norddeutschen habe ich einen stark norddeutschen Akzent. Zurück zum Haupttext

Anm. 69: Die Songs von ABBA habe ich damals schon teilweise übersetzt. Inzwischen habe ich fast alle Texte im Internet gefunden und kann die meisten auswendig, da ich ABBA sehr oft höre. In dem Song The winner takes it all heißt es an einer Stelle »Building me a fence / Building me a home / Thinking I'd be strong there / But I was a fool ...« (Neun Jahre später fiel die Mauer. Auf Deutsch ungefähr: »Ich baute mir einen Zaun / Ich baute mir ein Zuhause / Ich dachte, ich wäre stark dort / Aber ich war ein Idiot ...« Der Song-Titel: »Der Gewinner nimmt sich alles«) So sehr ich auch die Musik der 60er Jahre mag und oft höre (im Gegensatz zu damals verstehe ich heute die Texte), ABBA ziehe ich den Gruppen der 60er Jahre vor, selbst noch den Stones und den Beatles, die ich sehr mag. (Klassische Musik stellt aber eine höhere Qualität dar. Mit der 9. Symphonie oder der Zauberflöte möchte ich die Songs von ABBA nicht vergleichen.) Zurück zum Haupttext

Anm. 70: Meine Schwester war inzwischen von dem Berufssoldaten geschieden worden und lebte mit einem Psychologie-Studenten zusammen. Der war auch regelmäßiger Kirchgänger, aber von seiner Bildung her hätte er über so etwas stehen müssen. Es ist mir auch nicht bekannt, ob der die Offenbarung wörtlich geglaubt hat. Zurück zum Haupttext

Anm. 71: Hier liegt auch ein Grund, warum ich im Gegensatz zu anderen kritischen Philosophen, z. B. Hans Albert, die Möglichkeit der Letztbegründung vertrete. Auf Grund des allgemeinen qualitativen intellektuellen Niveaus, das ich im Verlaufe meiner Entwicklung hervorgebracht habe, kann ich ausschließen, dass die in der Offenbarung vorausgesagten Ereignissen tatsächlich in der Zukunft eintreten. Neben dem unmittelbar Erlebten, das bereits eine subjektive Letztbegründung darstellt, gibt es Ausschließungsbehauptungen, die überindividuelle, objektive Gültigkeit haben, indem man nämlich naive Behauptungen mit unmittelbarer Sicherheit als falsch verwerfen kann. Zurück zum Haupttext

Anm. 72: Manchmal denke ich scherzhaft-zynisch: Es stammen ja alle Menschen von Affen ab. Aber warum musste bei mir diese Abstammung dermaßen unmittelbar sein?! Zurück zum Haupttext

Anm. 73: Tagebuchseiten zu diesem Thema. – Was der MSB tatsächlich von Pluralität hielt, dafür folgendes Beispiel: In einem Raum, in dem ich ein Seminar besuchen wollte, legte ich Wahlzeitungen der Grünen Hochschulgruppe für die Wahl zum Studentenparlament aus und da bis zum Beginn des Seminars noch etwas Zeit war, ging ich durch das Gebäude und legte auch in anderen Räumen Wahlzeitungen aus. Als ich in meinen Seminarraum zurückkam, lagen nur noch MSB-Wahlzeitungen aus und die der Grünen Hochschulgruppe befanden sich im Papierkorb. Da ich selbst lange genug in SDAJ, MSB etc. Mitglied war, weiß ich, dass dies nicht etwa ein Ausrutscher irgendeines »Einzeltäters« war. Ein solches Vorgehen hatte System. Zurück zum Haupttext

Anm. 74: Die Art, wie Günter Schäfer (möglicher Weise ist sein tatsächlicher Name schon anders) und seine Freundin die grüne Hochschulgruppe liquidiert haben, hat bei mir später oft den Verdacht geschürt, dass das eine Auftragsarbeit war. Das war so dumm, dass es schon nicht mehr dumm war. Aber ich wollte das ohne hinreichenden Verdacht nie offen sagen. Ich habe mir später oft gedacht, dass der eigentlich der Prototyp des IM war. Freundlich, völlig unverdächtig. Aber ich wusste auch nicht, wo der herkam, was der vorher gemacht hatte. (Sollte ich mich mit diesem Verdacht täuschen, hat der Mensch ja die Möglichkeit, meiner Darstellung zu widersprechen.) DKP/SDAJ/MSB das waren die westdeutschen Ableger der SED und die Stasi war »Schild und Schwert der Partei«. Die haben »ihren« MSB-AStA beschützt. Die DDR hat doch jahrzehntelang händeringend versucht, in Westdeutschland Einfluss zu gewinnen, was ihr auf Grund der mangelnden Attraktivität ihres Systems so gut wie nirgends gelungen war. Und wenn die irgendwo einmal einen Fuß in der Tür hatten, haben die das mit Zehen und Klauen verteidigt. Dass die Stasi eine gesamtdeutsche Organisation war, ist ja inzwischen bekannt. In den 80er Jahren war ich noch so naiv zu glauben, die Stasi würde weitgehend nur in der DDR aktiv sein. In Westdeutschland hätten die lediglich Spione in wichtigen militärischen und politischen Bereichen. Dass die an einem so kleinen Fisch wie mir interessiert sein könnten, auf die Idee bin ich damals gar nicht gekommen. Zurück zum Haupttext

Anm. 75: Besonders Der futurologische Kongress und Ijon Tichys Erinnerungen an Professor Corcoran in den Sterntagebüchern. Zurück zum Haupttext

Anm. 76: Diesen Text habe ich in den Jahren 2002 bis 2004 geschrieben. Während der zweiten Amtszeit Schröders als Kanzler mit der asozialen Wende, die die Grünen als kleiner Koalitionspartner klaglos geschluckt haben. Es gab in der SPD mehr kritische Stimmen gegen Agenda, Hartz etc. als bei den Grünen. Obwohl die Grünen und besonders ihre Funktionäre fast ausschließlich aus der linken Studentenbewegung und aus K-Gruppe kamen. (K-Gruppen = maoistische, trotzkistische und anarchistische Gruppen der 70er Jahre, deren Mitglieder von wenigen Ausnahmen abgesehen Studenten oder ehemalige Studenten aus bürgerlichen Familien waren.) Bürgerkinder, die nach einer »linken Jugendzeit« ins Bürgertum zurückgekehrt waren. Während der zweiten Amtszeit Schröders war die Bezeichnung der Grünen als »grüne FDP« angemessen. In der Opposition unterscheiden sie sich in ihren sozialpolitischen Forderungen deutlich von der FDP. Aber was bleibt davon übrig, wenn sie in der Regierung sind? Zurück zum Haupttext

Anm. 77: Wenn damals jemand gesagt hätte »Im Jahre 2008 werden die Grünen in Hamburg zusammen mit der CDU die Landesregierung stellen«, dann wäre einem sicherlich empfohlen worden, seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. Zurück zum Haupttext

Anm. 78: Sollte der Klimawandel oder andere von den Menschen herbeigeführte ökologische Katastrophen die heutige Zivilisation zerstören, was ich durchaus für möglich halte (aber nicht für unabwendbar), dann hoffe ich, dass es zumindest eine produktive Krise wird. Produktiv in dem Sinne, dass es die Selbstevolution des Menschen vorantreibt. Näheres weiter hinten. Zurück zum Haupttext

Anm. 79: Am 27. August 1979, noch bevor ich zu den Grünen ging, habe ich bereits den wissenschaftlich-technischen Fortschritt gegen undifferenzierten Technikpessimismus verteidigt und in gewisser Weise das Internet vorausgesagt. Nur nahm ich damals noch einen Zentralcomputer an, nicht ein Netzwerk von Computern. Tagebuchseiten 300 und 301. – Zurück zum Haupttext

Anm. 80: Ich habe im entfernteren Bekanntenkreis einige Alt-68er. Lehrer in den 50ern. Die tippen ihre Zeugnisse auf alten mechanischen Schreibmaschinen, die sie in ihrer Studentenzeit erworben haben. Computer und Internet sind für sie so etwas ähnliches wie eine Mischung aus Atomkraft und USA-Imperialismus. Aus einstigen Barrikaden-Kämpfern sind alte klapprige Reaktionäre geworden. Und es sind alles Grün-Wähler. (Es klappert zumindest die Schreibmaschine. Das sind allerdings Erlebnisse aus den 90er Jahren. Computer und Internet erreichen allmählich auch die Rückständigsten.) – Ich kann den Computer aus meinem Leben gar nicht mehr wegdenken. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich nie Schriftsteller geworden, hätte diesen Text – jedenfalls in seinem Umfang – nie geschrieben.) Zurück zum Haupttext

Anm. 81: Massenwohlstand, der in Übereinstimmung steht mit den natürlichen Lebensgrundlagen ist auf Basis von Sonne, Wasser und Sand (Silizium) möglich. Davon gibt es genug. – Wie ich heute über die grünen Themen denke, geht aus diversen philolex-Beiträgen hervor, u. a. über Natur und TechnikZurück zum Haupttext

Anm. 82: Eine überarbeitete Fassung des Referats zum ungarischen Volksaufstand. Jeder kann sich sein eigenes Urteil bilden, ob dieses Referat einen Seminarschein wert war. Istvan Kende ist leider 1988 verstorben. Dem hätte ich noch ein paar weitere Lebensjahre gegönnt. Das Jahr 1989 mit dem Zusammenbruch des Stalinismus in Ungarn und das Jahr 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion. – Heute wundert es mich nicht mehr, dass ich keinen Schein für meine Arbeit bekam. Wenn man Stalinisten erklärt, dass sie Stalinisten sind und Sowjetillusionisten, dass sie Sowjetillusionisten sind, dann macht man sich bei solchen Menschen nicht gerade beliebt. Ich rate heute keinem Studenten dazu, seinen Studienabschluss zu gefährden, indem er dogmatischen Professoren grundsätzlich das sagt, was sie nicht hören wollen. Andererseits sind mir Rebellen tausendmal lieber als Karrieristen. (Zusatz 2015: Mein Ungarnreferat hat monatlich mehr als 1000 Aufrufe im Internet. Im Laufe der Jahre haben es Menschen in fünfstelliger, vielleicht sogar sechsstelliger Zahl gelesen! Das empfinde ich als wohltuende Kompensation dafür, dass mir zwei stalinistische Plattköppe keinen Schein dafür gegeben haben.) Zurück zum Haupttext

Anm. 83: Marxistische Theorie und realsozialistische Praxis. – Foto von mir aus den frühen 80er Jahren. Zurück zum Haupttext

Anm. 84: Ähnlich ergeht es einem, wenn man mehrere Bücher von Nietzsche gelesen hat, besonders die, aus seiner Spätzeit, den Zarathustra und die Genealogie der Moral, und man sieht zum ersten Mal ein Bild von ihm. Nicht die später erzeugten Götzenbilder und -büsten der Nietzsche-Enthusiasten, sondern die echten Bilder. Z. B. das, wo er sich als junger Mann, klein und schmächtig mit einem großen Säbel ablichten ließ. Da denkt man auch unwillkürlich: »Na, wie ein Herrenmensch, wie eine Blonde Bestie sieht er ja nun auch nicht gerade aus.« Zurück zum Haupttext

Anm. 85: Hoimar von Ditfurth hat meines Wissens nie die Selbstevolution des Menschen propagiert, aber aus seinen Schriften ist eine solche Auffassung nach meinem Empfinden zwingend ableitbar. Weiter hinten gehe ich darauf näher ein. Zurück zum Haupttext

Anm. 86: In Aldous Huxleys »Schöner neuer Welt« (einem Roman, den ich zu dieser Zeit las) werden die Menschen gemäß ihrer späteren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Position geschaffen. Die Alphas bilden die Elite, die Chefs, Wissenschaftler etc. Die Betas sind ihre Assistenten. Die Gammas sind die Facharbeiter. Die Deltas bilden die Masse der Bevölkerung. Sie verrichtet sehr einfache Tätigkeiten und auf Grund spezieller Behandlungen in ihrer Embryonalphase können sie, noch wollen sie mehr. Ein bisschen habe ich von Huxleys Hauptfigur Siegmund Marx. Ein Alpha mit dem Äußeren eines Deltas ;-) Meine Zukunftsvorstellungen sind anders. Damit da keine Irrtümer aufkommen. Zurück zum Haupttext

Anm. 87: Ich habe einen Karton, in dem ursprünglich mal 2000 Blatt Kopierpapier waren und in dem ich Studienunterlagen, Aufsätze, Referate, Tagebücher, alte Terminkalender, Fotos, alte Ausweise u. ä. aufbewahre. Auch eine Papierausgabe dieser Lebenserinnerungen. Sollte es brennen, wäre dieser Karton das, was ich als erstes retten würde. Für andere Leute ist der Inhalt dieses Kartons dagegen weitgehend wertlos. Zurück zum Haupttext

Anm. 88: Ich hoffe, die Leute haben wenigstens einige Jahre Angst gehabt, es könnten Akten auftauchen, aus denen ihre Verbrechen hervorgehen. Und: Es gibt noch tausende Säcke mit Schnipseln, wo die Stasi nur zerrissen hat. Es kann also auch in Zukunft noch mancher Schurke entlarvt werden. Zurück zum Haupttext

Anm. 89: Alle meine philosophischen Notizen in meinen Tagebüchern zu veröffentlichen wäre zu umfangreich. Eine systematische Darstellung ist »Meiner Philosophie« und im 15. Kapitel dieses Textes werde ich noch näher auf sie zu sprechen kommen. Hier einige Beispiele, wie ich in den Jahren 1985/86 begann, selbständig zu philosophieren. Beim Lesen dieser Notizen sollte man an den Satz Wittgensteins denken: »Die Methode zu Philosophieren ist sich wahnsinnig zu machen, und den Wahnsinn wieder zu heilen.« Manche Äußerungen in meinen Tagebüchern geben Durchgangsphasen wieder, nicht meine heutigen Auffassungen. Und noch ein wichtiger Punkt: Ich habe damals nicht tagtäglich rund um die Uhr philosophiert. Ich musste für meinen Lebensunterhalt arbeiten, habe politische Arbeit gemacht, mich theoretisch mit Politik und anderen Themen beschäftigt und zusätzlich auch gelegentlich philosophische Literatur gelesen und selbst philosophiert. Hätte ich schwerpunktmäßig Philosophie betrieben, wären manche Einsichten wahrscheinlich schneller gekommen.
Das Sein ist ein Perpetuum Mobile, 21. Februar 1985.
(Beim ersten Tippen dieses Satzes hatte ich das »b« zweimal getippt. Freud lacht mit. Das Sein ist ein »Perpetuum mobbile«, ein fortwährendes Mobben. Und eigentlich ist das gar nicht zum Lachen. Denn soweit mein Erkenntnisvermögen reicht, scheint das ja sogar zu stimmen.)
Die Welt existiert trotz allen möglichen Zweifels, 16. April 1985.
Ich erkenne, 26. April 1985.
Das Bewusstsein ist unsichtbar, 12. Januar 1986.
Das Sein ist grundlos. Der Zweifel betrifft auch die Zeit. 22. März 1986.
Ich kann nicht aus der Welt meiner Empfindungen raus, 31. März 1986.
Menschliche Freiheit ist möglich, 1. April 1986.
Ein Weg zu den platonischen Ideen, 26. Juli 1986.
Ein Nachempfinden des 2. cartesischen Gottesbeweises, 4. November 1986.

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Anm. 90: Folgende Geschichte wird von Soziologie-Professoren den Studienanfängern erzählt: Ca. 600 Jahre vor unserer Zeitrechnung regierte der persische König Darius ein Großreich. An seinem Hof lebten Gesandte verschiedener Völker der damaligen Zeit. Eines Tages bestellte er die an seinem Hof lebenden Griechen zu sich und fragte sie, was man ihnen geben müsste, damit sie bereit wären, ihre toten Väter nicht zu verbrennen, wie diese Griechen es taten, sondern zu essen. Darauf antworteten die Griechen, sie seien für nichts in der Welt bereit, ihre toten Väter zu essen. Darius bestellte daraufhin die an seinem Hof lebenden Inder zu sich und fragte die, was man ihnen geben müsste, damit sie bereit wären, ihre toten Väter nicht zu essen, wie diese Inder es taten, sondern sie zu verbrennen. Daraufhin brachen die Inder in ein Wehklagen aus und sagten, es sei ein Sakrileg, ihnen so etwas überhaupt nur vorzuschlagen. – Ein anderes Beispiel (vom Beginn des 20. Jahrhunderts): Eine Frau geht an einem heißen Sommertag allein in der Natur spazieren. Sie schwitz. Sie kommt an einen See. Und da sie keinen Menschen erblicken kann, zieht sie sich nackt aus und badet. Als sie aus dem See herauskommt, bemerkt sie, dass sie von Männern beobachtet wird. Die Europäerin verbirgt daraufhin mit einer Hand ihre Vagina, mit dem anderen Arm ihre Brüste. Die Muslimin verbirgt mit einer Hand ihre Vagina, mit der anderen Hand ihr Gesicht. Die Chinesin verbirgt mit ihren Händen ihre Füße. Zurück zum Haupttext

Anm. 91: Vielfach wird diese marxistische Auffassung gerade von Marxisten faktisch aufgegeben. Nicht mehr das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern das Kapital mit seinen Manipulationsmöglichkeiten. Die Menschen sind deshalb nicht so, wie die Linken meinen, dass sie es sein müssten, weil sie manipuliert werden. Die Manipulation ist aber ein Teil des Überbaus. Seit hundert Jahren hebeln Überbauelemente »Wahrheiten« des historischen Materialismus aus. Man versucht den historischen Materialismus zu retten, aber mit der Art und Weise, wie man es versucht, gibt man Grundaussagen des historischen Materialismus auf. Zurück zum Haupttext

Anm. 92: Konkret: Die Aldi-Familien sind mit die reichsten Deutschen. Was bringt es den »Armen«, wenn man denen ihre Milliarden, ihre Märke und ihre Fabriken wegnimmt und nach einer gewissen Zeit ist Mangel, sind Versorgungslücken an der Tagesordnung? In den Aldi-Märkten, die dann vielleicht »Handelsorganisation Roter Oktober« oder so ähnlich heißen, sind Zustände wie früher in der DDR? (Armut habe ich in Anführungszeichen gesetzt, weil Armut in Deutschland ein relativer Begriff ist. Zum absoluten Begriff wird Armut, wo die Menschen vor Armut sterben. Das ist so leider oft noch so in Ländern der 3. Welt. Und es war so, wo Kommunisten landwirtschaftliche Experimente veranstalteten.)
Die Innovationsfähigkeit der Markwirtschaft in freien Ländern beruht gerade darauf, dass einzelne Menschen unabhängig von staatlicher Gängelung etwas neues machen können. Wo hat sich die moderne Kommunikationstechnologie entwickelt? Wo sind Computer und Internetanschluss zum Allgemeingut geworden? Voraussetzung dafür, dass Sie im Moment gerade diesen Text hier lesen können? In den sozialistischen Ländern? Dort, wo es besser war, nichts zu tun, als was falsches zu tun? Im Kapitalismus hat sich das Ganze entwickelt. Das Internet wäre in einer Planwirtschaft nicht entstanden. Höchstens 100 Jahre später als technisch möglich. Wenn ich mir ansehe, wie lange es dauert, bis für eine neue Straße, eine neue Brücke etc. das Planverfahren abgeschlossen ist, die Neuerungen genehmigt sind, dann bin ich froh, dass große Teile der Wirtschaft so nicht funktionieren. Freiheit zieht Ungleichheit zwangsläufig nach sich. So lieb mir auch ein geringeres soziales Gefälle wäre, nicht zum Preis, dass wir dann unter gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse leben wie in Nordkorea. Die Regierung verfügt über Atombomben, aber die Bevölkerung hat nicht genug zu essen. Zurück zum Haupttext

Anm. 93: In der Zeit meiner Mitarbeit im Startloch hatte ich mich oft über die Jusos geärgert und mich mit ihnen angelegt. Aber das war inzwischen sechs / sieben Jahre her und mir war inzwischen auch klar, dass ein großer Teil der damaligen Aktionen »Stürme im Wasserglas« waren. Mein eigenes Verhalten damals war häufig neurotisch und unreif. Und im Übrigen darf man seine politischen Überzeugungen und Handlungen sowieso nicht von persönlichen Ressentiments abhängig machen. Zurück zum Haupttext

Anm. 94: Der Film »Eins, zwei, drei« ist einer meiner Lieblingsfilme. In den 60er Jahren konnten die Deutschen weder in Ost noch West darüber lachen. Auch nicht die 68er Generation. Es musste erst eine neue Generation heranwachsen, bzw. es musste Menschen geben, die auch über etwas lachen konnten, das sie selbst mal in einer gewissen Phase ihres Lebens dargestellt haben. Wobei es so einen wie den Piffl in den frühen 60er Jahren nicht gab. Der war ja noch unsorgfältiger angezogen als ich Anfang der 70er. Aber nichts desto trotz ist es eine gelungene Satire. Ich habe den Film auf Deutsch und Englisch auf Video und sehen ihn mir zwei / drei Mal im Jahr an. – Was die »Glitzersachen« in den Kaufhäusern anbetrifft noch eine Ergänzung: Auch ich hatte das Bedürfnis nach einer Stereoanlage, nach einem Fernseher etc. Es ist nicht so, dass ich Luxusgüter prinzipiell ablehne. Bei mir ist es mehr eine Frage der Prioritäten. Muße zum Lesen, Denken und Schreiben ist mir wichtiger. Meine heutige Stereoanlage habe ich seit Mitte der 90er Jahre und solange die funktioniert gibt es für mich keinen Grund eine neue zu kaufen, nur weil die ein moderneres Design und einige blinkende Dioden mehr hat. Zurück zum Haupttext

Anm. 95: Zu dieser Zeit dachte ich mir folgende Witze aus: Zuerst hatte ich gedacht, wer einen Mercedes hat, ist privilegiert denen gegenüber, die keinen haben. Das war sozusagen die These. Dann gelangte ich zu der Auffassung, dass derjenige, der keinen Mercedes braucht, privilegiert ist, denjenigen gegenüber, die einen brauchen. Das war die Antithese. Und aus diesen beiden These zog ich die Synthese, dass es am besten ist, wenn man keinen Mercedes braucht und trotzdem einen hat. – Es gibt Menschen, die haben Schwierigkeiten mit ihrem Selbstwertgefühl, wenn vorne auf der Haube kein Stern ist. Die leiden darunter. Die werden richtig krank. Und in solchen Fällen ist es ein Gebot der Humanität, dass solche Leute auch einen Mercedes haben. Notfalls muss die Krankenkasse ihnen den bezahlen. Es gibt teurere Krankheiten. Bevor es einem des Herz bricht? Eine Herztransplantation ist teurer als ein Mercedes. (Und die Menschen, die diese Krankheit haben, sind sowieso nicht bei der AOK.) – Wäre ich in der SPD und in Hamburg geblieben, hätte ich wahrscheinlich ein glücklicheres Leben geführt, aber wahrscheinlich auch ein langweiligeres, ein Dutzendleben. Menschen, die in einer Partei mitarbeiten, in irgendwelchen Parlamenten und Ausschüssen arbeiten, gibt es zu hunderttausenden. Es ist nicht wichtig, ob es einen mehr oder weniger davon gibt. Dort hätte ich nicht mehr bewerkstelligen können, als die Menschen, die dort sind. Zurück zum Haupttext

Anm. 96: Humorlose Menschen sollten diese Anmerkung nicht weiterlesen! Wenn ich gefragt werde, ob ich es schon mal bereut habe, nicht geheiratet zu haben, dann antworte ich in der Regel: »Schon oft. – Immer wenn ich mein Geschirrspüler leer. – Dann denk ich immer: Gott, was für eine Arbeit. Auffülln tu ich ihn ja sukzessive, ne, immer wenn Geschirr dreckig wird. Aber leern muss man ihn dann auf einmal. – Da denkt man, man hat wenig Arbeit mit dem Abwasch, weil man n Geschirrspüler hat. Ha, denkste. – Ich hätte mich wohl doch für ne Geschirrspülerin entscheiden solln. – Aber das merkt man erst, wenn es zu spät ist. – Na ja, welche Geschirrspülerin will mich denn heute noch haben, nachdem ich die schönsten Jahre meines Lebens an einen Geschirrspüler verschwendet hab. – In der Anschaffung häufig sogar günstiger. Aber die Unterhaltskosten. Puhh! Die fressen ein auf. Ich hab in meinem Bekanntenkreis einige Geschiedene. Die stöhn. – Aber nicht mehr im Bett. – Und so ein Geschirrspüler, der steht den ganzen Tag in der Küche und sagt kein Wort.« usw. usf. Zurück zum Haupttext

Anm. 97: Genaueres im philolex-Beitrag zur Parapsychologie. – Zurück zum Haupttext

Anm. 98: Näher beschäftigt habe ich mich damit im philolex-Beitrag Solipsismus. Zu der Zeit hatte ich folgendes Erlebnis: Ich war auf einer Party, in einem kleineren Saal. In der Mitte des Raumes tanzten etwa 20/30 Leute und ich stand am Rand mit einer Flasche Bier – wie das üblich war für mich – und sah mir das Ganze an. Neben mir stand ein älterer Herr mit weißen Haaren, und der sagte zu mir: »Sag mal, willst du im Ernst behaupten, dass die Leute, die hier tanzen, in Wirklichkeit alle gar nicht existieren, dass die alle nur Phantome sind?« Und das sagte er mit so einem moralischen Unterton. »Wie kannst du nur.« Und während ich darüber nachdachte, was ich ihm antworten könnte, wachte ich auf und lag im Bett. Und das ganze Tanzvergnügen einschließlich des älteren Herrn hatte sich in Luft aufgelöst. Der weißhaarige ältere Herr hatte sich als mein Über-Ich entpuppt. Aber auch das kann sich täuschen. Zurück zum Haupttext

Anm. 99: Text und Lied findet man im Internet. Zurück zum Haupttext

Anm. 100: Ein Hamburger in Freiburg Foto von mir als Bauhelfer. Zurück zum Haupttext

Anm. 101: Näher beschäftigt habe ich mich damit im philolex-Beitrag zu Alfred Adler, dort in meiner  Kritik an seiner Theorie vom Minderwertigkeitsgefühl. Zurück zum Haupttext

Anm. 102: Meine Philosophie. Die wichtigsten Grundaussagen findet man in dem Aufsatz Eine kurze Zusammenfassung meiner Philosophie. – Zurück zum Haupttext

Anm. 103: Das Ökomedia Institut wurde von Hoimar von Ditfurth mitbegründet. Da ich viele seiner Bücher gelesen habe, hätte ich ihn gerne mal persönlich kennengelernt. Leider war er zu dieser Zeit schon so krank, dass er nicht mehr kam. (1989 ist er gestorben.) Das Institut wurde inzwischen aufgelöst. – Zurück zum Haupttext

Anm. 104: Im Zusammenhang mit meinen vergeblichen Versuchen, das Rauchen aufzugeben, erdachte ich – wie das bei Rauchern üblich ist – allerlei Ausreden. Zwei weiß ich noch, da ich sie auch in meinen Kabarett-Programmen nutzte: »Es sterben mehr Menschen im Schlaf als an Lungenkrebs. Das heißt, Rauchen ist ungefährlicher als Schlafen.« »Mein Großvater hat geraucht und ist über achtzig geworden. Ergo: Rauchen ist ungefährlich. Mein Großvater hat auch den 2. Weltkrieg überlebt. Können Sie mal sehen, wie ungefährlich der war.« Zurück zum Haupttext

Anm. 105: Damals machte folgender Witz die Runde: »Wer wird der nächste Generalsekretär der KPdSU? Das ist immer derjenige, der bei der Beerdigung seines Vorgängers am kränksten aussieht.« Zurück zum Haupttext

Anm. 106: Und um es noch einmal deutlich zu sagen (da es in diesem Punkt leider nicht tot zukriegende Irrtümer gibt): Dass sowjetische System abzulehnen ist nicht gleichbedeutend damit, dass man plötzlich den Kapitalismus liebt, oder gar nachträglich den Vietnam-Krieg oder die chilenische, argentinische oder sonstige Militär-Diktatur. Die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in den demokratischen Sozialstaaten Europas waren gegenüber den Verhältnisse im Sowjetsystem besser; freier, innovativer, mit dem höheren Lebensstandard der größeren Zahl. Aber auch an diesen Verhältnissen gibt es vieles zu kritisieren. (Besonders auch am Sozialstaatsabbau zu Beginn des neuen Jahrhunderts.) Und der »american way of life« mit seiner weitgehenden sozialen Kälte wird von mir nicht befürwortet. (Ich bewundere die USA allerdings für vieles, was dort an Wissenschaft, Technik und Kultur produziert wird, verglichen mit dem Europa vielfach provinziell ist.) Zurück zum Haupttext

Anm. 107: Inzwischen gibt es keine Straße in diesen Bezirken mehr, in der nicht zumindest einige Häuser renoviert wurden. Das ist bedauerlich. So wie man Teile der Mauer erhalten hat, so hätte man eine Straße so lassen sollen, wie sie zum Ende der DDR ausgesehen hat. Diese hätte man »DDR-Straße« nennen sollen. Damit die Leute anschaulich erleben können, was dort untergegangen war. (Wäre Dresden nicht ein Opfer des 2. Weltkrieges geworden, es wäre zu DDR-Zeiten zu großen Teilen vergammelt.) Tagebucheintrag vom 25. Juli 1991. Zurück zum Haupttext

Anm. 108: Die Katastrophe von Tschernobyl war ein Ergebnis mangelnder Sicherheitsvorkehrungen und waghalsiger Experimente. Und dass 24 Stunden nach dem Unfall hunderte Meter entfernt noch Kinder spielten, die Bevölkerung ihren normalen Tätigkeiten nachging, das war nur in einem totalitären System möglich. Zum Vergleich: Einige Jahre früher waren in Harrisburg, USA, hunderttausende Menschen geflüchtet, als nur die Gefahr eines GAU bekannt wurde. Die zehntausenden Opfer der Katastrophe von Tschernobyl sind in erster Linie Opfer des Sowjetsystems, erst in zweiter Linie Opfer der Kernkraft. Zurück zum Haupttext

Anm. 109: Damals machte in Westberlin folgender Witz die Runde: Ein Pole, ein Ossi und ein Türke stehen bei ALDI in der Kassenschlange. Der Pole hat den Wagen voller Kartons mit Säften, Milch, Schokolade etc. Der Ossi hinter ihm nörgelt: »Diese Polacken hier überall, kaufen uns die Läden leer und verstopfen die Kassen.« Der Türke zum Ossi: »Wir euch nicht haben gerufen!« – Ein Stoßseufzer vieler westberliner Autofahrer zu dieser Zeit war: »Yesterday, when the Trabbi was so far away.« – Für die Nachgeborenen: In den 60er Jahren gab es einen sehr beliebten Song der Beatles, dessen erste Zeile hieß ungefähr: »Yesterday, when the trouble was so far away.« Auf Deutsch ungefähr: »Gestern, als der Ärger / die Sorgen so weit entfernt waren.« – Der genaue Text war: »Yesterday, all my troubles seemed so far away.« Auf Deutsch ungefähr: »Gestern, all meine Sorgen schienen so weit entfernt zu sein.« Aber deutsch- und andere nichtenglischsprechenden Menschen haben auf den Text ja nicht so genau geachtet. Zurück zum Haupttext

Anm. 110: Es hat nach meiner Selbsteinschätzung in meiner individuellen Entwicklung drei qualitative Sprünge gegeben. Das langsame Ansammeln quantitativen Wissens in der ersten Hälfte der 70er Jahre führte 1976/77 zum Übergang von einer extrem ungebildeten, dumm-dogmatischen, dazu noch sehr unreifen Person, zu einem etwas gebildeteren Mensch, der das gesellschaftliche und politische Leben etwas differenzierter und bewusster wahrnahm. Das langsame Ansammeln quantitativen Wissensstoffes besonders in der Philosophie (aber auch in der Gesellschafts- und Naturwissenschaft) in der ersten Hälfte der 80er Jahre führte 1985/86 zum Übergang von einem weitgehend passiv aufnehmenden zu einem aktiven, kreativen Menschen, der die verschiedenen philosophischen Theorien nicht nur kannte, sondern verstehen konnte und begann seine eigenen Wege zu gehen. Den dritten Sprung gab es Anfang der 90er Jahre. Er umfasste alle intellektuellen Bereiche und (leider nur) Teile des praktischen Lebens. Zurück zum Haupttext

Anm. 111: Da Schönheit wahrscheinlich etwas subjektives ist, waren diese Häuser früher (aus meiner subjektiven Perspektive) gar nicht schön. Zurück zum Haupttext

Anm. 112: Ein etwas reaktionärer älterer Lagerverwalter – Bei Auftritten sagte ich ziemlich am Anfang häufig: »Ich bin familiär vorbelastet. Mein Vater ist auch Kabarettist.« (Kurze Pause) »Der weiß das allerdings nicht.« In dem Sketch Ein etwas reaktionärer älterer Lagerverwalter spielte ich mehr oder weniger meinen Vater. – Als in der zweiten Hälfte der 60er Jahre es zum ersten Mal nach der Wirtschaftswunderzeit eine Krise gab mit ein paar hunderttausend Arbeitslosen, da sagte meine Vater – damals noch kein »Alko-« sondern »Worka-holiker": »Das Arbeitslosengeld soweit runtersetzen, dass die Arbeitslosen gerade so eben noch existieren können. Haben wir keine Arbeitslosen mehr.« Die Gestik, mit der er das sagte, kann ich nicht schriftlich wiedergeben. Aber er hätte damit auf einer Kleinkunstbühne sitzen können. Nach dieser Logik dürfte es in Ländern ohne Arbeitslosengeld keine Arbeitslosen geben. Meist gibt es in solchen Ländern aber vielmehr Arbeitslose als in den europäischen Sozialstaaten. Mein Vater ist 1996 gestorben und hat so den Kanzler Schröder nicht mehr erleben können. Er wäre vor Freude im Grab gehüpft, wenn er mitbekommen hätte, dass sich seine »Einsichten« endlich auch in der SPD-Spitze durchgesetzt haben. »Wenn die SPD nicht bald mal sagt, dass die Arbeitslosen alle arbeitsfaul sind, dann wähle ich auch bald CDU.« Seine Brüder und die anderen Verwandten wählten fast alle CDU, obwohl sie Arbeiter und kleine Angestellte waren. Die Begründung: »Die CDU ist eine christliche Partei. Die müssen sich später mal vor Gott rechtfertigen.« Nun könnte man sagen, wenn es einen Gott geben sollte, dann müsste sich die SPD-Politiker auch mal vor dem rechtfertigen. Aber das war für die meisten meiner Verwandten schon zu viel Logik. Logik mochten die nicht. – Ein anderer Spruch meines Vaters (mit entsprechender Gestik): »Ich hab doch keine Juden vergast.« Das stimmte. Der hatte wirklich keine Juden vergast. Der hat wahrscheinlich nicht mal die Flugzeuge getroffen, als er Flak-Soldat war. Sonst hätte vielleicht seine Verlobte überlebt. (Ich glaube, er hat selbst gar nicht geschossen. Er hatte auch schlechte Augen.) Ich rief jedenfalls in Richtung Küche: »Bring mal 'ne Schüssel Wasser. Hier will sich jemand die Hände waschen.« (Für die Nicht-Bibelfesten: Der römische Statthalter in Jerusalem, Pontius Pilatus, wusch sich seine Hände in Unschuld, nachdem er Jesus ans Kreuz hatte nageln lassen. Der Mob auf der Straße hatte von ihm die Kreuzigung verlangt.) Zurück zum Haupttext

Anm. 113: Ähnlich ist es heute mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Einfach nur die Truppen abziehen, wie es die Linkspartei fordert, und die 90% der Afghanen, die nicht unter Taliban-Herrschaft leben wollen, ihrem Schicksal überlassen? Und wenn Al-Qaida wieder an die Macht kommt? Uns egal? Nee, so nicht! Das ist billiger schlechter Populismus, Linkspartei! Mehr Fantasie im Kampf gegen die mittelalterlichen Irren, okay. Den afghanischen Bauern die Opium-Ernte abkaufen. Guter Vorschlag. Zurück zum Haupttext

Anm. 114: Bob Dylan: »When you got nothing, you got nothing to lose.« Aus Like a rolling stone. (»Wenn du nichts hast, hast du nichts zu verlieren.« Titel: Wie ein rollender Stein.) »Sammelt euch keine Schätze auf Erden, denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.« Jesus (Aus der Bergpredigt) »Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, desto mehr hast du, umso größer ist dein entäußertes Leben, umso mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen.« Marx (Aus den philosophisch/ökonomischen Manuskripten) Zurück zum Haupttext

Anm. 115: Ich bin heutzutage weit davon entfernt, die Marktwirtschaft abschaffen zu wollen. Es ist das effektivste Wirtschaftssystem, das je existierte. Es ist das einzige, das Massenwohlstand ermöglicht. Aber Feinarbeit an diesem System kann man natürlich vornehmen. Spekulationsgeschäfte zum Teil verbieten, zum Teil so hoch besteuern, dass es keinen finanziellen Anreiz für solche Geschäfte gibt. Effektive Regeln für den internationalen Kapitalverkehr. Mindestlöhne, damit der nötige Wettbewerb nicht mit Lohndumping betrieben wird. Eine gesetzliche maximale Arbeitszeit, (wöchentlich, jährlich etc.) und starke Reglementierung von Überstunden. Damit könnten jede Menge Arbeitsplätze geschaffen werden. Was die Unfallverhütungs-Vorschriften anbelangt, versuchen wir nicht mit 3.-Welt-Ländern zu konkurrieren. Wir sollten es auch bei sozialen Mindeststandards nicht machen. Kapitalismus abschaffen bringt auch für die Masse des Volkes nur Nachteile, aber Kapitalismus mit Vollbeschäftigung gibt es nicht. Eine gewisse Menge an Leuten ohne Arbeitsplatz gibt es. Und wenn die sich mit einem niedrigen Lebensstandard zufrieden geben, dann kann die Gesellschaft froh sein, dass diese Menschen nicht aufbegehren. Höherer Spitzensteuersatz und Vermögenssteuer. Das haben die Reichen früher auch ausgehalten, das hat den Kapitalismus nicht ruiniert. Zurück zum Haupttext

Anm. 116: Es wird des Öfteren behauptet, dass eine gentechnische Veränderung der Menschen grundsätzlich faschistisch sei. Das ist falsch! Ich möchte dies mal durch einen Vergleich verdeutlichen: Wenn ein Mensch mit einem Messer auf einen anderen Menschen losgeht, um ihn den Bauch aufzuschneiden, dann kann dies ganz verschiedene Gründe haben und ganz verschiedene Folgen für den Betroffenen. Das kann ein Raubmörder sein, der einen Menschen bestialisch umbringt; das kann aber auch ein Chirurg sein, der einem vorher betäubten Patienten den entzündeten Blinddarm entfernt, da der Patient ansonsten qualvoll sterben würde. Bauchaufschneiden ist also nicht gleich Bauchaufschneiden. Es sind nicht alle Bauchaufschneider gleich. Und so sind auch nicht alle Menschen gleich, die eine gentechnische Veränderung des genetischen Bauplans der nachwachsenden Generationen für richtig halten. Es gibt auch unter ihnen Unterschiede wie zwischen Chirurgen und Raubmördern. Zurück zum Haupttext

Anm. 117: Näher ausgeführt habe ich dies im philolex-Artikel Menschen. – Zurück zum Haupttext

Anm. 118: Im 7. Kapitel Meiner Philosophie habe ich das an Hand des »Wespenvergleichs« näher ausgeführt: »Ich habe einmal eine Wespe dabei beobachtet, wie sie versuchte, durch eine Fensterscheibe zu fliegen. Stundenlang surrt ein solches Insekt an der Scheibe auf und ab, bis es tot auf der Fensterbank liegt. Glasscheiben liegen außerhalb seines Erkenntnisvermögens und so hat es nie auch nur ansatzweise die Vergeblichkeit all seiner Anstrengungen erkannt. – Ähnlich ergeht es vielleicht uns Menschen. Unsere Versuche mit dem Verstand oder mit dem Gefühl das Sein zu begreifen, sind möglicherweise ähnlich dem Bestreben der Wespe, durch die Fensterscheibe zu fliegen. Wir mühen uns ab, denken, philosophieren, meditieren, spekulieren, diskutieren, erklären uns untereinander zu Idioten und irgendwann sind wir tot. Und haben nichts begriffen. Und haben nie die Vergeblichkeit all unserer Anstrengungen erkannt, nie gemerkt, dass uns einige geistige Dimensionen fehlen, um auch nur ansatzweise zu begreifen, was hier eigentlich abläuft.« Zurück zum Haupttext

Anm. 119: Nichtsdestotrotz hatte ich diesen Text aus taktischen Gründen zeitweilig aus dem Internet entfernt. Aber in meinen Memoiren musste ich ihn erwähnen. Vieles, was ich dort schreibe, ist im Moment noch gar nicht aktuell, wird wahrscheinlich erst für zukünftige Generationen zu praktischen Fragen werden. Und man sollte sich in der Gegenwart, in der man ja nun mal lebt, nicht unnötig viele potentielle Leser vergraulen, nur weil man in bestimmten Prognosen oder Forderungen nicht übereinstimmt, die z. Z. noch keine aktuelle Bedeutung haben. Zurück zum Haupttext

Anm. 120: Eine überarbeitete Fassung dieses Aufsatzes: Über die Notwendigkeit der Entstehung höherer Arten. – Ein Foto von mir aus dem Jahre 1995. – Zurück zum Haupttext

Anm. 121: Ich hüte mich vor Größenwahn und werde deshalb nicht frei nach Schopenhauer sagen: »Die Höheren Arten werden mir ein Denkmal setzen.« (Der Gedanke, dass es so sein könnte ist mir aber auch nicht unlieb ;-) Nun fahre ich regelmäßig die Karl-Marx-Allee mit dem Fahrrad herunter und komme am Straußberger Platz an der Karl Marx Büste vorbei. Und dann muss ich häufig leider feststellen, dass mal wieder eine Taube auf seinem Kopf genächtigt hat. Und ob das nun so erstrebenswert ist, als Tauben-Klo zu enden? – Ich hörte mal in einer Sendung über Chaosforschung, wenn in Peking ein Schmetterling mit seinen Flügeln schlägt, dann kann es dazu führen, dass wir eine Woche später in Europa einen Orkan haben, den wir ohne diesen Flügelschlag nicht gehabt hätten. Nun schlagen natürlich viele Millionen Schmetterlinge in China mit ihren Flügeln und ob überhaupt und wenn welcher davon einen Orkan in Europa auslöst, ist nicht feststellbar. Ich wünsche mir, dass ich der »Schmetterling« bin, dessen Flügelschlag den Ausschlag dafür gibt, dass der Menschheit der Sprung zur nächst höheren Art gelingt. Ein nicht gerade bescheidener Wunsch. Zurück zum Haupttext

Anm. 122: Ich habe versucht dies in einer kleinen Zeittafel zur Evolution und zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt. – Zurück zum Haupttext

Anm. 123: Näher ausgeführt habe ich dies in meinem Essay: Ist der Tod überwindbar?Zurück zum Haupttext

Anm. 124: Näheres dazu in den philolex-Artikeln Transhumanismus, Extropianismus und weiteren Texten, zu denen man über diese Artikel gelangen kann. Zurück zum Haupttext

Anm. 125:
aufsatz1.htm,
aufsatz2.htm,
aufsatz3.htm,
aufsatz5.htm,
aufsatz7.htm.
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Anm. 126:
essay1.htm,
essay2.htm,
essay3.htm,
essay7.htm.
Foto von mir aus dem Jahr 2000.
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Anm. 127: Hesse schreibt, das Leben der Steppenwölfe sei sinnlos, soweit man den Sinn nicht in den seltenen Taten, Gedanken und Werken zu sehen bereit ist, die über dem Chaos eines solchen Lebens aufstrahlen. In den vielen, vielen Nächten, in denen ich am Schreibtisch gesessen, vor mir der Computermonitor, die Bücher, das Glas Wein, in denen ich gelesen, gedacht und geschrieben habe, habe ich mir immer wieder gesagt: Meine philosophischen Texte sind das Werk, das über dem Chaos meines Lebens aufstrahlt. Zurück zum Haupttext

Anm. 128: Auf Deutsch ungefähr:
»Hast du einmal von einem Frosch gelesen, der träumte er sei ein König
und der dann einer geworden ist?
Gut, mit Ausnahme des Namens und ein paar anderer Änderungen,
wenn du über mich sprichst, dann ist dies die gleiche Geschichte.«
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Anm. 129:  Dummheiten von Philosophen. – Genaugenommen würde mir dann keine Ehre widerfahren. Etwas, das nicht existiert, dem widerfährt nichts. Zurück zum Haupttext

Anm. 130: Ich möchte zum Ende auch noch mal darauf hinweisen, dass von »Stalinismus« zu reden, sehr oft auf eine Bagatellisierung Lenins hinausläuft. Die Fehlentwicklung begann nicht erst mit Stalin, sie begann mit Lenin. Und Marx ist auch nicht ganz frei zu sprechen. Auch wenn er sich sicherlich vor Gram im Grabe gewälzt hätte, hätte er mitbekommen, was später unter seinen Namen praktiziert wurde. Zurück zum Haupttext

Anm. 131: Nachdem ich die letzten Absätze dieses Textes geschrieben hatte, kochte ich mir Kaffee und schaltete den Fernseher an. Ich sah einen weinenden Soldaten, der ein totes sechs/siebenjähriges Mädchen in den Armen hielt, das kurz vorher von religiösen Psychopathen umgebracht worden war, nachdem Putin ohne Rücksicht auf Verluste die besetzte Schule in Beslan hatte stürmen lassen. Einen Kanal weiter: Zufriedene gutgekleidete Bürger in einem feinen Restaurant, die an reichlich gedeckten Tischen saßen und sich mit äußerst zufriedenen Gesichtern edle Speisen und Weine schmecken ließen. Darunter ein schwuler Bürgermeister und ein berühmter Schauspieler, der mal in einem Fernsehfilm Himmels Vater gespielt hat. (So gut, dass man ihm fast hätte ins Gesicht springen mögen.) Zum Erbrechen. Diese Gattung ist nicht erhaltenswert! Die Menschheit muss – im hegelschen Sinne –  »aufgehoben« werden. Zurück zum Haupttext


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