Es geht nicht um Pfennige,
es geht um die Sterne.
Heute Nachmittag habe ich einen Artikel über Sartre gelesen. Als ich las, dass Sartre seine Kindheit verabscheute, habe ich mir wieder einmal wie häufig beim Lesen der Lebensläufe bedeutender Personen gesagt, »den seine Kindheit hätte ich gerne gehabt. Schlimmes kann ich darin nicht entdecken.« Und ich bin dann vom Schreibtisch aufgestanden, in meiner Wohnung hin- und hergelaufen und habe (laut) an meine Kindheit gedacht, an meine Jugend- und Studentenzeit, mich über meine Fehler geärgert etc. (Ich lebe allein. Da führt man gelegentlich Selbstgespräche. Ist etwas neurotisch, aber auch ein guter Ausgangspunkt Schriftsteller zu werden.) Dann bin ich ca. zwei Stunden mit dem Rad durch die Stadt gefahren und habe weiter über mein Leben nachgegrübelt.
Und dann habe ich mich dazu entschlossen meine Memoiren zu schreiben. Ob das auf dem Alexanderplatz war oder beim »eisernen Ikarus« am Geländer über der Spree, weiß ich nicht mehr. [1] Ich habe im Laufe meines Lebens viele hundert Lebensläufe bedeutender Personen gelesen, besonders viele Rowohlt Bildmonographien. (In früheren Zeiten Bücher, später mehr im Internet.) Da bleibt es vielleicht nicht aus, dass man irgendwann mal seine eigene Lebensgeschichte zu »Papier« bringen möchte. (Die Formulierung »zur Festplatte bringen« hat sich noch nicht durchgesetzt.)
Nun bin ich mir völlig darüber im Klaren, dass ich keine bedeutende Persönlichkeit bin. Ich habe nicht so populäre Bücher geschrieben wie Sartre, ich habe keine Kunstwerke geschaffen, ich bin keine Größe in Politik, Sport oder Showbusiness, meine Taten haben (jedenfalls bisher ;-) keine großen geschichtlichen Ereignisse verursacht etc. Deshalb schreibe ich diese Memoiren zuerst einmal für mich selbst, aus Spaß und zur Selbsterkenntnis. Wenn man sowieso des Öfteren über sein Leben nachgrübelt, dann ist es sinnvoll, man macht es einmal schriftlich und systematisch. Es ist sinnvoll, sich hin und wieder mal darauf zu besinnen, woher man kommt und welchen Lebensweg man gegangen ist. Wenn man seine Geschichte nicht kennt, weiß man nicht, wer man ist. (Das trifft für die Geschichte eines Einzelne genauso zu, wie für die Geschichte eines Volkes, einer Kultur, einer Organisation etc.) [2]
Da ich vorhabe, diese Lebenserinnerungen irgendwann einmal ins Internet zu stellen, werden sie aber auch von anderen Menschen gelesen werden. Von wie vielen, das ist eine andere Frage. Denen, die sie lesen, sage ich:
Hallo! Guten Tag!
Hier sind die Memoiren eines nicht besonders bedeutenden Menschen, der aber immerhin ein etwas ungewöhnliches Leben hatte. Die Art, wie ich gelebt habe, aber auch meine Fehler können andere vielleicht zum Nachdenken anregen, jüngere Menschen können vielleicht für ihr eigenes Leben, dass sie zu großen Teilen noch vor sich haben, etwas lernen. Der Text kann aber auch einfach nur unterhaltsam sein. So wie ich die Welt trotz ihres zum Teil katastrophalen Zustandes und ihrer zum Teil grausamen Funktionsweise vielfach von der humoristischen Seite sehe, so sehe ich auch mein Leben, obwohl es in vielen Punkten nicht so gelaufen ist, wie ich es mir heute wünsche, vielfach von der humoristischen Seite.
Heute ist der 30. März 2002, der Samstag zwischen Karfreitag und Ostersonntag. [3] Heute Nacht werden die Uhren um eine Stunde vorgestellt, auf Sommerzeit. Vor zwei Monaten bin ich 50 Jahre alt geworden, werde allerdings immer noch als junger Mann angesprochen. Ich sehe nicht aus wie 50. [4] Liegt vielleicht auch an der Art, wie ich mich kleide. Aber was nützt mir das? Erste Verschleißerscheinungen lassen sich nicht mehr übersehen. Und wenn man an dem Entwicklungspunkt angekommen ist, wo es an vielen Stellen des Körpers nicht mehr so funktioniert, wie man es in früheren Jahrzehnten für selbstverständlich hielt, dann beginnt man, die Dinge aus der Perspektive des Endes seines Lebens zu sehen und zu beurteilen. Mein Leben wurde durch einige Ereignisse maßgeblich mitbestimmt, die lange vor meiner Entstehung passierten. Ich beginne meine Geschichte deshalb mit der Schilderung von Begebenheiten, die ca. 130 Jahre vor meiner Geburt stattfanden. [5] 1. Kapitel 2. Kapitel 3. Kapitel 4. Kapitel 5. Kapitel 6. Kapitel 7. Kapitel 8. Kapitel 9. Kapitel 10. Kapitel 11. Kapitel 12. Kapitel 13. Kapitel 14. Kapitel 15. Kapitel 16. Kapitel 17. Kapitel 18. Kapitel 19. Kapitel Zur Startseite meiner Homepage mit Impressum 1. Kapitel Meine Vorfahren waren, mütterlicherseits seit mindestens fünf, väterlicherseits seit vier Generationen, in der Katholisch-Apostolischen Kirche. Und da die Mitglieder dieser Kirche fast nur untereinander geheiratet haben, gab es in der Verwandtschaft fast niemanden, der nicht zu dieser Kirche gehörte. (Die Katholisch-Apostolische Kirche war nach den Auffassungen meiner Verwandten natürlich keine Sekte. Sekten sind immer die anderen Sekten.) Entstanden war diese Kirche in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in England. Gegründet wurde sie von weltfremden Fanatikern und Phantasten, denen die allerkleinsten Zugeständnisse der großen Kirchen an die wirkliche Welt, an das wirkliche Leben schon zu weit gingen. Sie glaubten an die baldige Wiederkehr Christi und wollten die Menschheit auf dieses Ereignis vorbereiten. Die Gründer dieser Kirche waren überzeugt, nicht mehr sterben zu müssen, da sie vorher in den Himmel geholt würden. (Sie starben aber alle, was die nachwachsenden Generationen in dieser Kirche aber nicht davon abhielt, ihrerseits nun zu glauben, dass sie nicht mehr sterben müssten.) Es waren Menschen aus der englischen Oberschicht, die die Katholisch-Apostolische Kirche gründeten. Bankiers, Parlamentsabgeordnete, Rechtsanwälte, hohe Beamte, Geistliche verschiedener Kirchen. Die Gründung dieser Kirche war auch eine Reaktion auf den durch die Französische Revolution geförderten Atheismus und die beginnende soziale Bewegung. So sprach man sich u. a. gegen »Hass und Neid gegenüber Reichtum, Rang und Verdienst« aus. Und man verurteilte die »Leugnung göttlicher Wahrheiten«. Mit anderen Worten: Während andere Menschen die soziale Bewegung begründeten, der wir heutigen Europäer den Sozialstaat und den materiellen Wohlstand zu verdanken haben, oder andere damit begannen das moderne wissenschaftliche Weltbild zu begründen, da wendeten sich diese Reaktionäre gegen jeden sozialen und wissenschaftlichen Fortschritt. Nachdem durch »Weissagungen«, »Zungenreden« und ähnlichen Humbug zwölf neue »Apostel« (und einige »Propheten«) ernannt worden waren, dehnte sich diese Kirche auf den europäischen Kontinent aus, besonders nach Deutschland. Ihren Höhepunkt hatte sie um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert, als der letzte dieser »Apostel« starb. Nur die Apostel hatten das Recht Geistliche (Priester etc.) zu ernennen. Schon als die ersten Apostel 1855 wider Erwarten starben, kamen Stimmen auf, die forderten, man müsse nun neue Apostel ernennen, damit der Kirche nicht irgendwann die Geistlichen ausgehen. Dies wurde aber von den (anfänglich) überlebenden Aposteln abgelehnt. Diejenigen Gemeinden innerhalb dieser Kirche, die trotzdem neue Apostel ernannten und dies geschah in Deutschland wurden ausgeschlossen und haben als »Neuapostolische Kirche« überlebt. (Ich habe später, Ende meiner 20er Jahre, mal einiges über die Geschichte dieser Kirche und dieser Spaltung gelesen.) Meine Vorfahren gehörten zu denen, die sich an die Anordnungen der Gründerapostel hielten. Diesen Gemeinden gingen dann mit der Zeit tatsächlich die Geistlichen aus und die Katholisch-Apostolische Kirche ist deshalb inzwischen so gut wie ausgestorben. In der Katholisch-Apostolischen Kirche spielte Die Offenbarung des Johannes, ein Teil der Bibel, eine große Rolle. Meine Vorfahren und Verwandten glaubten, dass sie zu den Erstlingen gehören, die vor oder während der »Großen Trübsal«, einer gewaltigen göttlichen Strafaktion gegen die Menschen, in den Himmel geholt werden. (Da kommt eine Wolke vom Himmel, da gehen die Erstlinge rauf und dann hebt die ab, wie ein Fahrstuhl. So wurde es mir in meiner Kindheit erzählt. Und irgendwo gibt es dann eine Art »Mutterwolke«, wo sich die einzelnen Wolken treffen. Da wir auf einer Kugel leben, heben die einzelnen Wolken in ganz verschiedene Richtungen ab. Aber soweit dachten meine Ahnen nicht. ;-) Ich habe später mal, als es schon das Internet gab, diese Offenbarung dort gefunden und zum ersten Mal zur Gänze gelesen und dabei nur fortwährend den Kopf geschüttelt. Eine psychopathische Rachephantasterei auf dem Niveau von Grimms Märchen! Man muss schon ganz schön naiv sein, um das ernst nehmen zu können. Meine Vorfahren waren naiv genug. Sie glaubten, sie würden zu den hundertvierundvierzigtausend gehören, auf dem Berge Zion mit dem Namen des Vaters geschrieben an ihrer Stirn. (14:1 des Machwerks) [6] In dieser Offenbarung werden die Ortsvorsteher christlicher Gemeinden »Engel« genannt. Das ist wohl der Grund dafür, dass auch die Katholisch-Apostolischen ihre Gemeindevorsteher Engel nannten. Mein Ur- und Ururgroßvater mütterlicher-großmütterlicherseits waren solche Engel und auch weitere Ahnen und Urahnen waren führend in dieser Kirche tätig. [7] (Die Ahnen mit dem Nachnamen Schwarz waren ursprünglich in Ostpreußen beheimatet.) Friedrich Wilhelm Schwartz, der in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Hamburg führend an der Gründung der Neuapostolischen Kirche beteiligt war, bzw. ihre spätere Gründung entscheidend mit bewirkte, war mit meinen Ahnen verwandt. [8] Die Spaltung ging also mitten durch die Familie. Da Hamburg eine Hochburg der Neuapostolischen war, kamen aus dem ganzen Reich (im 19. Jahrhundert gab es ein solches noch in Deutschland) »Rechtgläubige« nach Hamburg um dort die Kirche wieder aufzubauen und von den ehemaligen Gemeindemitgliedern möglichst viele zurückzugewinnen.
So kam mein Urgroßvater, der vorher in der Katholisch-Apostolische Kirche in Berlin eine höhere Stellung inne hatte, nach Hamburg. Meine Oma mütterlicherseits, Dorothea Sandmann, geb. Schwarz, wurde 1898 in Hamburg geboren. Wann die anderen Großeltern nach Hamburg kamen, weiß ich nicht. Ich erinnere aber, dass mir in meiner Kindheit erzählt wurde, sie seien auch wegen dieser Spaltung nach Hamburg gekommen. Mein Opa mütterlicherseits, Walter Sandmann (Beruf Buchhalter, nach der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre Gärtner) wurde 1893 in Greifenhagen bei Stettin geboren. Mein Opa väterlicherseits, Paul Willy Ernst Möller, war 1886 in Magdeburg geboren (Beruf Büroangestellter, Vorfahren Schuhmachermeister), meine Oma väterlicherseits, Johanna Helene Auguste Möller, geb. Otto, 1892 in Angermünde. (Vater Feldwebel. Zwei ihrer Brüder sind im 1. Weltkrieg gefallen. Mein Vater erzählte, seine Mutter käme aus Stralsund. Vielleicht ist ihr Vater dorthin versetzt worden.) [9] Meine Mutter, Ruth Möller, geb. Sandmann, wurde 1925 in Hamburg geboren als das erste Kind dieser »Engel«-Tochter. Bei der Geburt wurde ihr die Schädeldecke verletzt. Sie war eine Zangengeburt. Ihr wurden keine Überlebenschancen gegeben und so kam ein »Engel« um sie notzutaufen. (Wäre sie vor der Nottaufe gestorben, wäre sie in die Hölle gekommen! Es wimmelt in der Hölle von abgetriebenen Föten und Fehlgeburten, die dort für alle Ewigkeit gequält werden.) Ich weiß nichts genaues über diese Geburt, aber ich habe später meine Oma kennengelernt und ich könnte mir vorstellen, dass diese »Engel«-Tochter sexuell dermaßen verklemmt war, dass die Geburt ihres ersten Kindes eine psychische Katastrophe für sie war. Man stelle sich mal vor, da muss man die Beine spreizen (!), vor anderen Menschen (!!), die dann alles sehen können. (Herzstillstand !!!) Wo es doch in der Offenbarung über die Erstlinge heißt: »Diese sind's, die mit Weibern nicht befleckt sind.« (14:4 des Machwerks. Nun frage ich mich, wie machen es eigentlich die Weiber, jedenfalls, die, die zu den Erstlingen gehören wollen, nicht mit sich befleckt zu sein? Stellen die sich so hin, dass alles von ihnen wegtropft?) Meine Mutter war wahrscheinlich wegen dieses Geburtsschadens ihr Leben lang nicht besonders lernfähig, nicht besonders klug. Sie hörte in ihrer Kindheit ständig: »Du bist ja blöd! Du kannst ja nichts!« etc. (Sehr christliches Verhalten von meinen Großeltern, besonders von meiner Großmutter.) Sie hatte in ihrer Kindheit »Krämpfe«, wie sie später ihren Kindern erzählte. Was das genau für eine Krankheit war, weiß ich nicht. Aber u. a. dadurch ist sie nur wenige Jahre zur Schule gegangen und war extrem ungebildet. Und leichtgläubig. Um ein Beispiel zu wählen: Wenn es passiert wäre, dass irgendein fremder Mensch an der Wohnungstür geklingelt hätte, ihr irgendeine Story erzählt hätte, dass er sein Geld verloren hat und nun seine kranke Frau nicht besuchen kann etc. dann hätte meine Mutter ihm 10 Mark gegeben, obwohl sie selbst arm war. Sehr leicht auszunutzen. Naiv gutmütig aber trotzdem egoistisch, wie sich später zeigte. (Und um es vorwegzunehmen, das entschuldigt nicht alles, was sie später gemacht hat.) Meine Mutter konnte an die Offenbarung glauben. Für sie war es schon ein Geheimnis, dass eine Wolke aus Wasser (in unterschiedlichen Aggregatzuständen) besteht. Immerhin wusste sie, dass die Erde eine Kugel ist. (Aber sie glaubte, am Südpol sei es ganz heiß.) Mein Vater, Werner Möller, wurde 1924 in Hamburg geboren. Von seiner Kindheit weiß ich wenig. Er hat auch so gut wie nie über sie gesprochen. (Außer natürlich, dass sie noch mit 50 Pfennig zum Jahrmarkt gegangen sind und trotzdem noch 10 Pfennig wieder mit nachhause gebracht haben.) Sein Vater war Unterdiakon in der Katholisch-Apostolischen Kirche. (Meine Oma: »Mein Vater war Engel. Was ist sein Vater? Unterdiakon.« Das entspricht ungefähr dem Unterschied zwischen dem Chef eines Unternehmens und dem Pförtner.) Mein Vater war nach dem Besuch der Volksschule von 1940 bis 1943 Kaufmannsgehilfe-Lehrling und hat scheinbar beim Lehrherren gewohnt. (»Und wenn nachts um 12 einer geklingelt hatte und für fünf Pfennig Senf wollte, dann musste der Lehrling aufstehen und für fünf Pfennig Senf verkaufen. So war das damals.« So erzählte es mein Vater später, als ich Lehrling war und mich wohl über irgendetwas beschwert hatte. Bei den kursiven Wörtern ging immer der erhoben Zeigefinger nach vorne. Vielleicht war das nur eine Geschichte, die mein Vater als Lehrling von den älteren Kollegen erzählt bekam.) Soweit ich mich erinnere, war die Rede davon, dass sich mein Vater, bevor er 1943 Soldat wurde, verlobt hatte und während er als Flak-Soldat im Krieg war, seine Verlobte bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen ist. (Deshalb sage ich u. a. in meinen Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus [10], dass es mich ohne den 2. Weltkrieg nicht geben würde, da das Spermium und die Eizelle, aus denen ich einst hervorgegangen bin, sich nie getroffen hätten.) »Na, jetzt hat er ja doch noch eine gekriegt. Aber was für eine.« So Gemeindemitglieder laut meiner Mutter über meinen Vater und ihre Heirat. (Es war alles von christlicher Nächstenliebe geprägt!) 2. Kapitel Irgendwann Ende April / Anfang Mai 1951 trafen sie sich dann aber. Jenes eben erwähnte Spermium und jene eben erwähnte Eizelle. Das Spermium drang in die Eizelle ein und nun begann ein Prozess, den ich viele Jahre später mal als »Ontogenese« [11] näher kennenlernte und am 29. Januar 1952 wurde ich geboren. In Hamburg-Barmbek.
Meine Kindheit zerfällt in zwei Phasen, die gegensätzlicher eigentlich nicht sein können. Viele Kinder hatten eine Kindheit wie ich in einer dieser beiden Phasen, ein solches »Lebensschicksal« gibt es oft. (Wenn es in unserem Land und unserer Zeit auch nicht die Regel ist.) Aber dass ein Kind hintereinander diese beiden recht unterschiedlichen »Lebensschicksale« hat, das kommt wahrscheinlich nur sehr selten vor. Die erste Phase war geprägt durch religiöse Sektiererei, die zweite Phase war geprägt durch völlige Verwahrlosung.
Die ersten ca. 12 Jahre meines Lebens ich kann das heute nicht mehr so genau sagen, ich habe damals nicht auf den Kalender gekuckt waren stark durch Religion geprägt, durch regelmäßige Kirchgänge, Tischgebete, abendliche Andachten, Bibellesungen, Gebete. Ein häufig gehörter Spruch war: »Jeden Tag kann der Herr kommen.« Ein anderer Standartspruch von Oma und Mutter: »Die Männer wollen immer nur das Eine.« (Was das war, dieses »Eine«, wusste ich nicht. Das war für mich ein großes Rätsel.) [12]
Ich hatte von klein auf an schlechte Augen. Das rechte Auge schielte nach innen. Ungefähr im Alter zwischen vier und fünf war ich in augenärztlicher Behandlung. Mir wurde über längere Zeit hinweg mal das linke, mal das rechte Auge zugeklebt. Mit dem Linken sah ich dann auch einigermaßen, aber das Rechte war immer extrem sehschwach. (Soweit ich es inzwischen mitbekommen habe, ist das Auge selbst völlig in Ordnung, aber die zu diesem Auge gehörenden Hirnteile haben in der frühen Kindheit nicht Sehen gelernt. Deshalb sage ich über diesen Teil meiner Sehbehinderung, dass ich keinen Augenschaden, sondern einen Gehirnschaden habe ;-) Ich bin faktisch einäugig und habe damit kein räumliches Sehen. (Viele Jahre später, als ich schon erwachsen war, wurde mir irgendwann mal klar, dass dies wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ich bestimmte Sportarten nicht konnte und mich vor einigen geradezu fürchtete.)
Sobald ich lesen konnte, wurde ich dazu aufgefordert selbst in der Bibel zu lesen. Da ich schlechte Augen hatte, konnte ich die dort ver(sch)wendete Schrift nicht richtig entziffern. Die dortigen Buchstaben hatte ich in der Schule nicht gelernt und in der Familie hatte sie mir auch keiner beigebracht. Ich erinnere mich an eine Begebenheit, wo ich mit meiner Mutter und ihrem jüngeren Bruder Horst, der mein Patenonkel war, zusammensaß und ich versuchte die Wörter in der Bibel zu entziffern. Mein Onkel drängte mich und meine Mutter sagte: »Aber wenn er es doch nicht erkennen kann.« Und mein Onkel verärgert: »Dann kann er später nie die Bibel lesen!« Und so kam es auch. Die Bibel habe ich auch nie gelesen. (Ganz stimmt das allerdings nicht. Auszugsweise habe ich später einiges aus der Bibel gelesen. Aber ich habe sie nie ganz von Anfang bis Ende gelesen. Heutzutage weiß ich, dass die Bibel ein ganz interessantes Buch sein kann, wenn man sie nicht als eine Sammlung göttlicher Offenbarungen und absoluter Wahrheiten ansieht, sondern als ein historisches Dokument. Und sie kann auch sehr lustig sein.) [13]
Mein Vater war Lagerarbeiter, später Lagerverwalter, und meine Mutter war Hausfrau, später Reinmachefrau und Fabrikarbeiterin. Wir wohnte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, im Stuvkamp 10, Parterre, in dem Hamburger Arbeiterstadtteil Barmbek. Ich hatte zwei ältere Schwestern und sechs Jahre nach meiner Geburt kam noch eine Nachzüglerin.
Unsere Familie war arm. Ein Lagerarbeiter verdiente in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wenig, noch weniger als heute. Und es mussten vier Kinder und eine Ehefrau ernährt werden. Meine Mutter arbeitete nicht. Sie war der Auffassung, dass eine Mutter ins Haus zu ihren Kindern gehört. (Später hat sie dies leider vergessen.) Trotz Wirtschaftswunder, selbst innerhalb eines Arbeiterwohngebietes waren wir, gemessen an den Nachbarn, arm. Und es wurde auch noch der »Zehnte« an die Kirche abgegeben. Das brauchte niemand zu überprüfen. Ein Gläubiger wie mein Vater machte so etwas von selbst. Am Eingang der Kirche hingen zwei Kästen. Auf einem Stand »Zehnter«, auf dem anderem »Opfer«. Dort warfen die Mitglieder unserer Kirche brav ihr Geld ein. (Zusätzlich dazu bezahlte mein Vater noch Kirchensteuer! Da wir formell Mitglieder der evangelischen Kirche waren.)
Nur Sonntags gab es Fleisch. Wochentags gab es Kartoffeln mit Gemüse oder Milchsuppen. Die Kartoffeln und die Milchsuppen waren soweit ich mich erinnere jeden zweiten Tag angebrannt. Meine Mutter hatte es einfach nicht gepackt, aufzupassen.
Ich war »krüsch«. Später habe ich erfahren, dass man dieses Wort in Süddeutschland nicht kennt. Ich war ein schlechter Esser. Was auf den Tisch kam, habe ich fast nie gemocht. Wie ich heute weiß, lag es an dem, was es gab und wie meine Mutter es zubereitete. Das einzige, was ich gerne aß, war trocknes Brot. Ich aß von den Scheiben erst das innere und die Kruste zum Schluss. Wenn es etwas gibt, was ich aus meiner frühen Kindheit erinnere, dann dass ich mit einer Scheibe trocknem Brot durch die Wohnung lief, das Innere herauspulte und mein Opa Sandmann fragte mich: »Ach, und wer soll die Kruste essen?« Und ich sagte: »Die ess' ich doch zum Schluss, weil die am besten schmeckt.« Mein Opa hatte zu dieser Zeit schon total kaputte Zähne und konnte keine Kruste essen. Deshalb schien er zu glauben, dass auch jeder andere Mensch Krusten verschmäht. (Er ist scheinbar nie zum Zahnarzt gegangen. Wie er die letzten zehn / fünfzehn Jahre seines Lebens mit seinen Zahnstümpfen durchgehalten hat, ist mir heute schleierhaft. Nur von Zigarren kann man ja nicht leben.)
Besonders schlimm war es für mich, wenn es Sonntags Fisch gab. Ich brauchte nur zu sehen, dass ein Fisch zubereitet wurde und geriet in Panik. (Ich habe im Thesaurus nach einem anderen Wort gesucht, um nicht zweimal das Wort »Panik« zu benutzen. Aber es gab keines, das angemessen wäre.) Ich mochte keinen Fisch und keine Senfsoße. Was aber viel schlimmer war, ich bekam nach ein, zwei Bissen Gräten in den Mund, was mir so unangenehm war, dass ich einen starken Brechreiz verspürte. Meine Eltern hatten keinerlei Problembewusstsein, keine Sensibilität für so was. »Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!« Wenn ich mich dann zum Essen an den Küchentisch setzen musste, war ich schon völlig panisch. Ängstlich wäre ein viel zu schwacher Ausdruck. Wenn ich dann unter Androhung von Schläge begann den Fisch zu essen, brauchte ich nur ein bisschen Gräte am Gaumen oder der Zunge verspüren und ich spuckte alles aus, trotz der Strafe, die man mir androhte. Erst dann hatten meine Eltern ein Einsehen und ich brauchte nicht weiter zu essen.
Ich war in meiner Kindheit immer untergewichtig. [14]
Meine Mutter hatte ihren Kindern nicht beigebracht sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Mein Vater war reinlicher als meine Mutter, aber hat dies nicht an seine Kinder weitergegeben. Er war der Auffassung, dass dies die Aufgabe unserer Mutter sei. Schließlich ging er arbeiten und schaffte das Geld rann. Und wenn die Mutter ihren Kindern keine Reinlichkeit beibrachte, dann hatten die eben Pech. Die Unterwäsche, in der wir auch schliefen, da es keine Schlafanzüge gab, wurde einmal die Woche gewechselt. Bei den Nachbarskindern im Stuvkamp wo nur Arbeiter und kleine Angestellte lebten hießen wir »Dreckmöller«. (Ich habe mich später in andere soziale Schichten hineinentwickelt und wenn ich jemanden erzählte, dass ich in meiner Kindheit nicht gelernt habe mich zu waschen und die Zähne zu putzen, dann konnte das keiner begreifen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass es mir nicht geglaubt wurde.)
Meine Eltern hatten nichts dagegen getan, dass ich Nägelbeißer war. Dadurch hatte ich meistens natürliche Zahnstocher im Mund, was sich langfristig als positiv erwies. Die abgekauten Nägel behielt ich stundenlang im Mund und spielte damit. Die Zahnzwischenräume der Schneidezähne wurden so von Speiseresten befreit. Ich habe heute noch ca. zwei Drittel meiner Zähne, (allerdings so gut wie keinen ungeflickt) obwohl ich in den ersten beiden Jahrzehnten meines Lebens praktisch keinerlei Zahnpflege hatte. Wenn ich später nicht andere Wege gegangen wäre als meine Eltern, dann hätte ich im Alter von 30 Jahren keinen einzigen Zahn mehr gehabt. Bis zu meinem sechsten Lebensjahr bin ich häufig nachts zu meiner Mutter heimlich ins Bett gekrochen. Mein Vater durfte das nicht wissen. Der wollte das nicht. Ich erinnere mich an mehrere Fälle, wo er mich ziemlich wütend verscheuchte, als ich ins Wohnzimmer geschlichen kam, wo meine Eltern auf der Ausziehcouch schliefen. Einmal wachte ich nachts auf, weil mein Vater meine Mutter ziemlich verärgert fragte: »Was will der denn schon wieder hier?« Das war mir unverständlich. Ich war so klein, ich nahm fast keinen Platz weg und ich lag immer auf der anderen Seite von meiner Mutter. Und mein Vater war ansonsten eigentlich nicht so abweisend.
Und dann fand ich ein Paket mit ca. acht Zentimeter großen quadratischen Wattebäusche, die mir meine Mutter aber sofort wegnahm. »Wofür brauchst du die?« »Sei nicht so neugierig!« »Aber ich will doch nur wissen, wozu du die brauchst!« Bestimmte Fragen wurden einfach nicht beantwortet.
Ich erinnere, dass ein Mädchen aus der Nachbarschaft erzählte, die Kinder würden aus dem Bauchnabel der Mutter herausgezogen. Worauf unsere Mutter meine zwei älteren Schwestern und mich zusammenrief und uns dann in feierlichem Ernst erzählte, dass der Mann sein Glied in die Scheide der Frau steckt, dann im Bauch der Mutter ein Kind wächst, das dann zwischen ihren Beinen herauskommt. Dass der Zeugungsvorgang Spaß machen kann, davon war keine Rede. Im weiteren Leben habe ich von meinen Eltern auch nie etwas über Sex erfahren.
Ich habe noch als junger Erwachsener geglaubt, dass nur Männer Sex wollen und brauchen. Die Männer wollen was von den Frauen. Die Frauen kommen auch ohne Männer aus und ohne mich sowieso.
Als ich schon erwachsen war, und über diesen Bereich bereits mehr wusste, als meine Eltern jemals in ihrem Leben, da hat meine Mutter das eine und andere mal erzählt. Z. B. wie zum ersten Mal ihre Tage hatte. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr passierte und ihr jüngerer Bruder Horst ging zu meiner Großmutter und sagte ihr: »Ruth blutet zwischen den Beinen.« Meine Oma gab meiner Mutter dann eine Binde und als die fragte, was mit ihr sei, antworte meine Oma: »Ach, das ist nichts. Denk nicht darüber nach.« So wurde in unserer Familie damit umgegangen. Das waren die 30er Jahre. Da war ein solches Verhalten noch weit verbreitet. Nicht nur bei religiösen Fanatikern.
Ich habe nie an den Klapperstorch geglaubt. Auch nicht an den Weihnachtsmann. Meine Eltern und Großeltern waren so bibeltreu, dass sie den Kindern nichts erzählten, was nicht in der Bibel stand. Vom Klapperstorch und Weihnachtsmann steht da nichts. Ergo hätten solche Geschichten die Kinder nur abgelenkt vom richtigen Glauben, nämlich an Gott, und dass uns Jesus bald in den Himmel holt. Ich habe die Weihnachtsgeschichte auswendig gelernt. »Es begab sich aber zu der Zeit das ein Gebot ausging etc.« Ich war gut in Rechnen. (Bis zur 7. Klasse hatte ich fast immer Einsen.) Obwohl mich niemand in diese Richtung hin gefördert hatte. Meine beiden älteren Schwestern (eine vier, die andere zwei Jahre älter) konnten ihre Textaufgaben nicht lösen und meine Mutter konnte ihnen nicht helfen. Ich konnte die lösen. Ich konnte auch meine Mutter und meine Schwestern in Schach, Mühle, Dame etc. schlagen. Nur mein Vater war besser als ich.
Ich hatte Begabungen. Aber diese wurden nicht erkannt und nicht gefördert. In einer anderen Familie, mit sensibleren Eltern, gebildeteren, ehrgeizigeren hätte ich auf dem Gymnasium sein können. Ich hätte in meiner Kindheit mit meinem Gedächtnis mehrere Fremdsprachen lernen können. Aber auf die Schulbildung ihrer Kinder haben meine Eltern nie ein großes Augenmerk gehabt. Solche Dinge spielte in ihrer geistigen Welt keine Rolle.
Meine Eltern waren nicht nur ungebildet und unehrgeizig, sie waren eben auch fanatisch und naiv gläubig. Das Einzige, was auf dieser Welt wirklich zählte, war fromm zu sein, sich als würdig zu erweisen in den Himmel zu kommen. Und gemessen an der dann bestehenden ewigen Glückseligkeit spielte der kurze Zeitraum auf der Erde ja nun wirklich keine Rolle. Bei den Geschwistern meiner Eltern waren die meisten allerdings genauso gläubig, haben aber trotzdem mehr darauf geachtet, dass die Kinder etwas lernen. Zu meinen Großeltern väterlicherseits hatte ich so gut wie keine Beziehung, außer dass ich Sonntags in der Kirche häufig neben meiner Oma Möller saß. Aber in der Kirche kommuniziert man ja nicht miteinander. Nur einmal im Jahr am 2. Weihnachtsfeiertag besuchten wir sie. Mein Opa Möller hatte am 26. Dezember Geburtstag. (Am gleichen Tag wie Mao Tse Tung. Das erfuhr ich allerdings erst sehr viel später. ;-)
Aber zu meiner Oma Sandmann, geborene Schwarz, hatte in meiner frühen Kindheit sehr viel Kontakt. Bis ungefähr zu meinem 12. Lebensjahr war ich sehr häufig und sehr gerne bei ihr. In vielen Punkten ist ihr Einfluss auf meine heutige psychische Struktur stärker, als der meiner Eltern. Als wir noch in Barmbek wohnten, bin ich jeden Tag zu ihr gegangen sie wohnte ca. 500 Meter von unserer Wohnung entfernt und ich bekam von ihr täglich einen halben Liter Milch. (Vielleicht bin ich auch deshalb heute klüger, als es ihr recht wäre.) Als wir dann in Rahlstedt wohnten, bin ich einmal die Woche mit dem Rad zu ihr gefahren und habe dann dort übernachtet. Ich habe für sie die Treppe saubergemacht und dafür fünf Mark bekommen. Das war für mich damals viel Geld.
Einmal bat sie mich ein Marmeladenglas oder ähnliches aufzuschrauben. »Ich kann das mit diesem Arm nicht.« Ich schraubte es auf. »Aber du bist doch viel stärker als ich!« »Aber du bist neuer.« »Ich bin aber schon zehn!« (Oder neun oder elf. Das kann ich nicht mehr erinnern.) »Ha, ha. Soll ich dir mal sagen, wie alt ich bin? Ach, vergiss es. Als ich so alt wie du war, habe ich auch nicht verstanden, was das bedeutet.« Meine Oma war zu der Zeit ungefähr so alt, wie ich jetzt bin. (2010) Ich hörte in meiner Kindheit auch häufig wenn man mit irgendetwas nicht zufrieden war: »Dafür habt ihr euer ganzes Leben noch vor euch.« Ja und? Was sagte denn das? Das ist doch völlig normal, dass man noch sein ganzes Leben vor sich hat. (Außerdem glaubten meine Verwandten, dass sie noch die ganze Ewigkeit vor sich hätten. Im Anbetracht dieses Glaubens war es noch merkwürdiger, Kindern so etwas zu sagen.)
Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten nicht zusammen. Sie kamen nicht miteinander aus, durften sich aber auch nicht scheiden lassen. Das war in unserer Kirche streng verboten. Scheinbar kam meine Oma aber mit sehr vielen Menschen nicht gut aus. Es gab damals in Hamburg noch zwei Katholisch-Apostolische Gemeinden. Eine in Barmbek und eine in Altona. Meine Oma fuhr immer nach Altona, obwohl sie in Barmbek wohnte. Sie mochte die Barmbeker nicht. Die gesamte übrige Verwandtschaft ging in Barmbek in die Kirche, in der Finkenau. Irgendwann schnappte ich mal auf, dass jemand über meine Oma sagte: »Hoffentlich hat sie im Himmel auch einen anderen Raum als die Barmbeker.«
Ich war Sonntags oft bei meiner Oma und dann war auch häufig mein Opa da. Einmal geschah folgendes: Er sagte: »So, ich gehe jetzt. Du bist heute mal wieder unerträglich.« Und sie sagte: »Aber Peter bleibt bei mir.« Und er sagte: »Aber nur, weil er noch zu klein ist, um zu merken, was du für eine bist.« Er hatte wohl recht. Wenn ich meiner Oma als Erwachsener begegnet wäre, hätte es einmal einen großen Krach gegeben und anschließend wäre ich exkommuniziert gewesen. Sie starb 1969. So musste sie nicht mehr miterleben, dass ich Kommunist wurde. Zum Ende ihres Lebens, als ich mich schon als Kommunist verstand ohne organisiert zu sein, nahm sie das nicht ernst. Ich sei nur im Flegelalter. Sie schimpfe sehr häufig auf die »Bolschewisten«. (Auch auf den Zaren, der so grausam war. »Aber«, fügte sie dann hinzu »die Russen brauchten eine harte Hand.«) Es hätte sie wohl hart getroffen, wenn sie es mitbekommen hätte, dass ihr Lieblingsenkel Bolschewist wurde.
Meine Oma hatte einen Verfolgungswahn. Sie glaubte ihre Nachbarin würde sie durch die Wände hindurch mit speziellen Apparaten beobachten und sie hätte Mikrophone unter den Holzfußboden geschoben um sie zu belauschen. Die Wände waren mit Decken verhängt und Schranktüren blieben offen, um möglichst viele Sichtbarrieren zu haben. Ich sagte mal zu meiner Oma: »Wenn die durch die Wände gucken kann, dann kann sie doch auch durch die Schranktüren gucken.« Aber da wurde meine Oma sehr wütend. Man durfte sie darauf nicht ansprechen. Einmal waren wir sogar bei dieser Nachbarin und haben am Abend dort ferngesehen. Meine Oma hatte noch lichte Momente und die Nachbarin bemühte sich auch, meiner Oma ihre Harmlosigkeit zu beweisen. Aber der Wahn hat sich dann doch durchgesetzt.
Meine Oma hat mir den Glauben eingeimpft ohne das je ein Wort darüber gesprochen worden wäre , dass, wenn man zur Toilette geht, man eine Sünde begeht. Verstandesmäßig habe ich dies längst überwunden, gefühlsmäßig aber nicht. Diese Macke ist unabänderlich in meiner psychischen Struktur eingebrannt und führt dazu, dass ich immer ein ungutes Gefühl haben, wenn ich auf eine öffentliche Toilette gehe. (Besonders wenn daneben weitere Kabinen sind, in denen andere »Sünder« ihrer verabscheuungswürdigen Tätigkeit nachgehen.) Zur Toilette geht man so unauffällig wie möglich, so leise und verstohlen wie möglich und spricht darüber nicht. (Wenn sie auf Toilette war, durfte ich nicht in die Nähe der Toilettentür kommen.)
Meine Oma wäre nie auf die Idee gekommen, den Lieben Gott zu kritisieren. Völlig undenkbar! Aber wenn es da etwas gab, das besser hätte sein können, dann, dass beim Menschen auf die Knie direkt der Bauch folgt und alles dazwischen nicht existieren würde. (Vielleicht sieht der Auferstehungsleib so aus. Die Menschen sind im Himmel geschlechtslos und verdauen tun sie auch nichts. Das bisschen Manna schwitzen sie aus. Das trifft allerdings nur für den christlichen Himmel zu. Nicht für den moslemischen.) [15] Als ich älter wurde, ertappte ich mich des Öfteren dabei, dass ich auf den Po eines Mädchens kuckte. Das war ganz unwillkürlich. Der Po von Mädchen unterscheidet sich etwas von dem Po von Jungen. Der Unterschied ist für asexuelle Wesen wahrscheinlich unbedeutend, fast nicht wahrnehmbar. Aber für mich als »Hetero« hatten diese weiblichen Pos irgendwas erregendes. Aber natürlich wusste ich, dass man auf Pos nicht kuckt. Das war ein ganz ekelhafter, verabscheuungswürdiger Körperteil. Da könnte man sich ja gleich einen »Kackehaufen« ansehen. Igitt! Nachdem 1958 noch ein viertes Kind geboren wurde ich hatte mir einen Bruder gewünscht, es wurde aber eine dritte Schwester war die Wohnung nun endgültig zu klein. Die nächsten zwei Jahre schlief ich in der Küche, da in das Kinderzimmer kein viertes Bett passte. Mein Vater suchte nach einer größeren Wohnung und mit Unterstützung eines Onkels meiner Mutter, der bei der Wohnungsbaugesellschaft »Neues Hamburg« einen mehr oder weniger hohen Posten hatte (was der dort genau war, weiß ich gar nicht) bekamen wir ein Reihenhaus. (Sozialer Wohnungsbau.)
(Dieser Onkel, Werner Schwarz, ein jüngerer Halbbruder meiner Oma Sandmann muss allerdings ziemlich gut verdient haben, denn er hatte ein eigenes Haus und viele Kinder, die alle ihr eigenes Musikinstrument hatten. Häusliche Musik war da an der Tagesordnung und eine seiner Töchter, Hanna Schwarz, wurde später eine berühmte Opernsängerin.)
Im Spätherbst 1960 zogen wir nach Rahlstedt, genauer nach Großlohe, in den Mehlandsredder 39a. Großlohe war eine Neubausiedlung am Rande der Stadt, die man seit Ende der 50er Jahre aus dem Boden gestampft hatte, wo vorher Feld und Wiesen waren. Einen Kilometer entfernt war die Landesgrenze zu Schleswig-Holstein.
Ich war in der 2. Klasse als wir umzogen. Bis Ende der 3. Klasse war mein Klassenlehrer Herr Schulze. Er kam scheinbar mit den Kindern nicht richtig zu recht. Die Kinder mochten ihn nicht. Er galt als schlechter, doofer Lehrer. Ich hatte in Rechtschreibung ständig Fünfen und Sechsen. Er schrieb mir im Schulheft die Wörter, die ich falsch geschrieben hatte, an den Zeilenanfang und ich musste sie dann so oft nachschreiben, wie Platz in der Zeile war. Wozu ich aber nicht die geringste Lust hatte, weshalb ich es entweder gar nicht oder nur widerwillig machte. (Mit regelmäßigen Übungen hätte ich mindestens eine Drei oder Vier schaffen können.)
Ich war Legastheniker, kannte aber dieses Wort natürlich nicht. Meine Eltern kannte es auch nicht. Ob von den Lehrern an der Schule es irgendjemand kannte, weiß ich nicht. In Rechnen war ich immer einer der Besten und hatte meistens Einsen. Die Noten in den anderen Fächern waren überdurchschnittlich gut. Konkretes erinnere ich allerdings nicht mehr. Ich bin heute noch Legastheniker. Hätte mein Textverarbeitungsprogramm keine automatische Rechtschreibkontrolle, würde es hier nur so wimmeln von Rechtschreibfehlern. Ich tröste mich damit, dass auch Einstein Legastheniker war. (Auch »seine« Rowohlt Bildmonographie habe ich gelesen.) Es gibt eben Menschen, die stehen über solchen blöden Rechtschreibregeln. Rechtschreibung ist Konvention, Logik und Mathematik nicht. (Einspruch diverser Philosophen !!! Z. B. Poincaré, Ayer, Quine.)
Ein Klassenkamerad aus dieser frühen Zeit war Uwe W., dessen Familie in der Reihenhausreihe Mehlandsredder 37 wohnte. Dort habe ich häufig abends mit Uwe auf dem Teppich vor dem Fernseher gespielt (meine Eltern hatte bis in den zweite Hälfte der 60er Jahre keinen Fernseher) und im Vorabendprogramm »Gestatten, mein Name ist Cox« gesehen. Das ist die früheste Fernsehserie, die ich erinnere. Günter Pfitzmann, der dort die Hauptrolle soweit ich erinnere einen Privatdetektiven spielte, ist der erste Schauspieler, den ich kannte.
Einmal fragte mich Uwe auf dem Heimweg von der Schule, ob wir jetzt gleich spielen und ich sagte zu ihm: »Aber wir haben doch Schularbeiten auf.« Und er sagte: »Ich mach die nicht.« Und erstaunt fragte ich: »Wieso machst du die nicht?« »Nee, ich mach die nicht.« Bis zu diesem Zeitpunkt ich war wahrscheinlich neun Jahre alt war es für mich selbstverständlich, dass ich tat, was der Lehrer (oder andere Erwachsene) anordneten. Jetzt lernte ich, dass man gar nicht tun muss, was der Lehrer verlangte. Man konnte es auch einfach lassen.
Ich habe später oft darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn ich diesen Freund in meiner frühen Kindheit nicht gehabt hätte, wenn ich nur mit Kindern Umgang gehabt hätte, denen ein ähnliches Pflichtbewusstsein anerzogen wurde wie mir. Wann wäre ich zum ersten Mal auf die Idee gekommen, meine Schularbeiten nicht zu machen? Den Anordnungen von Erwachsenen nicht Folge zu leisten? Es ist nicht feststellbar. Zumindest hätte ich wohl einige Jahre länger regelmäßig meine Schularbeiten gemacht. Mit Uwe war ich den größten Teil der 60er Jahre nicht mehr befreundet. Warum erinnere ich nicht mehr.
Einmal waren wir mit der Klasse bei Hagenbeck. (Das ist der Zoo in Hamburg. Das Wort »Zoo« kannte ich in meiner Kindheit gar nicht.) Später fragte ich meine Mutter mal: »Können wir nicht mal zu Hagenbeck gehen?« Und meine Mutter: »Nach Hagenbeck? Hä! Wer soll denn das bezahlen? Du hast ja vielleicht Vorstellungen. Nach Hagenbeck. Hä, hä.« So richtig zynisch sagte sie das. Als wenn es eine Zumutung wäre, wenn ein kleiner Junge den Wunsch äußert, in den Zoo zu gehen. (Da war meine Mutter schon wesentlich eher eine Zumutung.) Abends »las« ich in der Hamburger Morgenpost, die mein Vater von der Arbeit mit nach Hause brachte, die Comix. Phantom (Urwaldheld), Gordon (Weltraumheld), Kuddl Dutt (Popeye) Mandra (Zauberer), Willy Wacker (Andy Cap) und weiteres. Ansonsten interessierte mich nichts aus der Zeitung. Selbst Boulevard-Blätter waren über meinem Niveau. (Nun war ich allerdings auch noch ein Kind, und Kinder aus allen sozialen Schichten lesen gerne Comix.)
Dann waren meine Eltern scheinbar irgendeinem Buchclub beigetreten und es waren zwei große Bücher von Wilhelm Busch da. In denen habe ich sehr häufig geschmökert. (Die besten seiner Gedichte waren da allerdings gar nicht drin. Die habe ich erst als Erwachsener kennengelernt.)
Und dann bekam ich meine ersten Karl May Bücher. In meiner Kindheit habe wahrscheinlich so an die vierzig Karl May Romane gelesen. Karl May hatte in seinen Büchern sehr stark den Lieben Gott eingebaut und das entsprach erheblich mehr den Auffassungen meiner Eltern, als das, was Wilhelm Busch schrieb und malte.
Dann las ich Pipi Langstrumpf. Die Bücher gehörten meiner ältesten Schwester. Ich erinnere mich daran, dass meine Oma mit meiner Mutter schimpfte, dass sie uns so was lesen ließ. »Das ist heidnisch! Kommt da etwa irgendwo der Liebe Gott drin vor?«
Irgendwann hatte sich meine Mutter an der Tür ein Abo für Micky-Maus-Hefte aufschwatzen lassen. Das war noch in Barmbek. Nach ein paar Heften war aber schon wieder Schluss. Aber nun kannte ich Micky Maus, Goofy, Donald Duck etc. und wenn immer ich später bei Schulkameraden, Freunden usw. Micky-Maus-Hefte sah, stürzte ich mich auf sie. In meiner Kindheit gab es außer Süßigkeiten nichts schöneres als Comix.
Ich hatte damals allerdings schon die Angewohnheit bestimmte Dinge logisch zu hinterfragen. Mir fielen Dinge auf, die anderen nicht auffielen, bzw. wo andere keine Probleme mit hatten. Donald hatte immer nur eine Jacke an, keine Hose. Das störte ihn auch gar nicht. Aber wenn man ihm die Jacke wegnahm, dann störte es ihn plötzlich, dass er keine Hose anhatte. Dann stand er da mit gekreuzten Armen vor seinem Schritt. (Später fiel mir auf, dass Daisy Hackenschuhe trug, was ich noch unpassender fand. Eine Frau, die eine Jacke anhat und Hackenschuhe, aber keine Hose. Das ist ja nicht gerade was für Kinder. ;-)
Mit mir darf man nicht vor dem Fernseher sitzen. Ich habe die Angewohnheit beim Ansehen von Filmen ständig zu sagen: »Das ist doch völlig unlogisch. So würde sich im wirklichen Leben doch kein Mensch benehmen.« etc. Den meisten anderen Menschen gehen solche Kommentare auf den Geist. Die meisten wollen gar nicht, dass die Geschichten in sich schlüssig sind.) Einer meiner ersten Spielkameraden in Großlohe war Bernd G. Er wohnte in der Reihenhausreihe Mehlandsredder 41. Er war wohl auch der erste, der mich dort verhauen hatte. Aber als Kind war man deshalb jemanden ja nicht auf ewig böse.
Soweit ich es erinnere, wohnte in der gleichen Reihenhausreihe auch die Familie Scholz. Einer ihrer Söhne wurde später erst Stamokap-Juso und später dann Generalsekretär der SPD. Gegenwärtig (2011) ist er stellvertretender SPD-Vorsitzender und 1. Bürgermeister von Hamburg. In meiner Kindheit hatte ich mit dem wenig zu tun. Er war sechs Jahre jünger als ich. Für Kinder ist das eine Ewigkeit. Im »Startloch« (siehe weiter hinten) hat man ihn hin und wieder mal gesehen. (Die Jusos an der Basis sagte aber schon damals: »Der spielt in einer höheren Liga.«)
Zwischen den Reihenhausreihen 39 und 41 war eine Sandkiste, gleich neben unserem Haus, wo ich in den nächsten Jahren viel gespielt habe. Nicht mit Pufferformen, sondern mit Autos, Panzern, später mit dem Ball. Und natürlich haben wir Indianer gespielt und uns aus Holz alle möglichen Waffen gebastelt.
Meine früheste »sexuelle« Erinnerung (das Wort kannte ich nicht, noch weniger wusste ich, was das ist) war, dass ich im Bett, bzw. auf der Couch in der Küche in Barmbek noch an Schulkameradinnen dachte und mich dabei aufgeregt herumdrehte. Jahre später ich war wohl um die zehn Jahre alt erzählte mir Bernie auf der Treppe vor unserem Reihenhaus wie man onaniert. (Ohne das dieses Wort benutzt wurde.) »Wenn man bei seinem Schwanz vorne so immer hin und her macht, dann bekommt man schöne Gefühle.« Das habe ich am Abend dann gleich ausprobiert und es klappte. Ich bekam tatsächlich schöne Gefühle. Wenn ich nun abends im Bett an Klassenkameradinnen denken musste, dann wusste ich, was ich dagegen tun konnte.
Von der 4. bis zur 7. Klasse hatte ich den gleichen Klassenlehrer. Herr Tiede, den wir gut fanden. Heute weiß ich, dass er rabiate unsensible pädagogische Methoden drauf hatte, die ich damals aber natürlich noch nicht problematisiert hatte. Er ohrfeigte die Kinder. Wenn Kinder zu spät kamen, konnte er sehr wütend und ausfällig werden und sprach davon, dass die bei ihm unten durch seien etc. Von einem Lehrer müsste man Kindern gegenüber eigentlich etwas mehr Souveränität und Gelassenheit erwarten können. Damals waren wir Jungs wohl besonders aus Hamburg große Uwe-Seeler-Fans. Herr Tiede sagte (über die Fußballspieler des HSV): »Die kommen ja alle aus ganz dummen Familie.« Die Kinder, die er unterrichtete, auch. Sein Vater war Postobersekretär oder so was ähnliches. Ist ja auch nicht die Welt. Aber wenn sich jemand was einbilden will, dann reicht's. Über den Arbeitern stand er.
Einmal rief er mich nach vorne und ich musste mir vor der ganzen Klasse die Fingernägel saubermachen. Damals glaubten Pädagogen noch, dass ein solch erniedrigender Vorfall erzieherische Wirkung habe und sich ein Kind anschließend immer die Fingernägel reinigt. Bei mir hat es nicht zu mehr Sauberkeit geführt, nur zu einer Verstärkung meiner Minderwertigkeitsgefühle.
Die hatte ich reichlich. Ohne diesen Begriff zu kennen. Ich habe geschielt. Ich war der Schwächste. Alle konnten mich verhauen, aber ich konnte niemanden verhauen. (Ich hatte allerdings auch nie ein Bedürfnis danach.) Ich konnte nicht Fußball spielen. Beim Auslosen der Mannschaften war ich immer der oder einer der letzten, die gewählt wurden. [16] Im Sport war ich eine Niete. Ich bekam nie eine Urkunde bei den Wettbewerben. Ich hatte bei vielen Turnarten Angst. Ich war feige. Am Reck Drehungen zu machen, war schon ein Horror für mich. Beim Bockspringen kann hinzukommen, dass ich wegen meiner faktischen Einäugigkeit kein räumliches Sehen habe. Das hat aber niemanden interessiert. Von einem Pädagogen müsste man eigentlich erwarten können, dass er einen sehr ängstlichen Jungen, der am untersten Ende der Hackordnung steht, eine besondere Behandlung angedeihen lässt. Die gab es nicht. Mit diesem Problem musste ich alleine fertig werden. Ich wurde damit aber nicht fertig. Auch mein Vater hat sich nie dafür interessiert. Er war selbst feige. Ich war sozial und wohl auch genetisch vorbelastet. (Mit dieser Feigheit hing auch zusammen, dass ich mich so lange es ging vor dem Besuch des Zahnarztes drückte und selbst kleinen Hunden auswich.) [17] Abschließend zur ersten Phase meiner Kindheit kann ich sagen: Ich war geliebt und umsorgt. Ich war zwar untergewichtig, dafür wurde ich mit Religion überfüttert. Ich hatte so gut wie keine Reinlichkeit gelernt und wurde auch geschlagen, wenn ich nicht essen wollte oder gekokelt hatte. Aber ich glaube, zur damaligen Zeit wurde in vielen Familie mehr geprügelt als bei uns. Wir waren arm und hatten deshalb vieles nicht, was die Nachbarskinder hatten, z. B. Urlaubsreisen gab es bei uns nie. Aber: In der Zeit, wo der Mensch seine psychische Struktur herausbildet, die ihm zur zweiten Natur wird, haben die positiven Elemente eindeutig überwogen. Meine Eltern und Großeltern waren ja nicht etwa böse, nicht grausam. Sie waren einfach nur fürchterlich dumm. Und fanatisch gläubig. Meine Mutter war darüber hinaus schmutzig und faul.
Auf Grund dieses »Geliebt-und-umsorgt-Seins« konnte ich eine psychische Struktur herausbilden, die es mir ermöglichte, die Primären Bedürfnisse des Menschen auch subjektiv als Primäre Bedürfnisse zu erleben. Und zwar mein ganzes Leben hindurch. Auch zu Zeiten, in denen meine Lebensumstände Sekundäre Bedürfnisse hervorriefen. Auch in dieser Zeit konnte ich zwischen diesen beiden Bedürfnisgruppen unterscheiden. [18] Es gibt leider viele Menschen, die in ihrer frühen Kindheit so sehr kaputt gemacht wurden, dass sie ihr ganzes weiteres Leben, wie auch immer ihre Lebensumstände sein mögen, die Primären Bedürfnisse des Menschen subjektiv nicht als die primären erkennen können.
Ob das allerdings zu meinem Vorteil war, ob ich nicht mit einer Dominanz der Sekundären Bedürfnisse besser durchs Leben gekommen wäre, dass ist eine andere Frage. 3. Kapitel Als ich um die zwölf Jahre alt war, begann nun aber ein gänzlich anderer Abschnitt meiner Kindheit. Es kam zum ersten Bruch in meinem Leben. (Ich hatte später noch drei weitere.) [19]
Die 2. Phase meiner Kindheit begann, als ich ungefähr zwölf Jahre alt war und endete um meinen 18. Geburtstag herum. Die letzten Jahre dieses Zeitraums würden andere wohl schon als Jugendzeit bezeichnen. Ich zähle sie zu meiner Kindheit, weil ich dies auf Grund meiner ganz spezifischen individuellen Entwicklung für angemessener halte und weil am Ende dieses Zeitraumes Ereignisse stattfanden, die dann tatsächlich einen gänzlich anderen Lebensabschnitt einleiteten, den ich als meine Jugendzeit ansehe. (Und ich werde weiter hinten darauf eingehen, dass ich nach meiner Einschätzung eigentlich nie richtig erwachsen geworden bin und mein ganzes späteres Leben irgendwie zu einer Verewigung meiner Jugendzeit wurde. Auch deshalb zähle ich die Zeit von 15 bis 18 nicht zu meiner Jugendzeit.)
Als ich um die elf/zwölf Jahre alt war, musste meine Mutter einmal mit mir zum Jugendamt. Dort wurde ich gewogen und untersucht. Dann fragte eine Beamtin meine Mutter: »Sagen sie mal, geben sie dem nichts zu essen?« Und meine Mutter ganz aufgebracht: »Natürlich kriegt der was zu essen. Aber er isst schlecht.«
Ich wurde verschickt, weil ich untergewichtig war. Nach Heiligenhafen an der Ostsee. Daran habe ich schöne Erinnerungen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich verreist. Ich war am Strand. Ich sammelte Muscheln, Bernsteine und Donnerkeile. (So nannten wir damals die Fulgurite, die beim Blitzeinschlag in den Sand am Strand entstanden.) Wir machten Geländespiele. Es gab viele leckere Sachen zu essen Morgens Puddingsuppen und jeden Tag Fleisch und am Ende der Verschickung hatte ich zugenommen. Ich erinnere nur den verordneten Mittagsschlaf als unschön. Und: Es gab keine Bibellesungen, keine Gebete und Sonntags gingen wir nicht in Kirche.
Soweit ich mich erinnere, begann während meiner Abwesenheit meine Mutter damit, zu den Nachbarn drei Häuser weiter zu gehen, bzw. es wurde zu dieser Zeit intensiver.
Die Warlichs wohnten im vierten Haus unserer Reihenhausreihe, wir in dem ersten. Sie hatten vier Kinder, die um einige Jahre jünger waren als ich und meine älteren Schwestern. Irgendwann in der Zeit zwischen 1963 und 65 hatte meine Mutter mit dem Ehepaar Warlich Freundschaft geschlossen und hielt sich immer häufiger in deren Haus auf. Anfänglich waren auch deren Kinder sehr häufig bei uns und aßen bei uns zu Mittag. Meine Mutter betreute diese Kinder. Ob die Warlichs beide berufstätig waren, kann ich heute nicht mehr erinnern. Ich erinnere nur, dass die Frau Krebs hatte, der aber scheinbar geheilt wurde.
(Was der Warlich für ein Trottel war, sieht man schon daran, wie er seine Tochter nannte. Zuerst bekam er drei Söhne, träumte aber immer davon eine Tochter zu haben. Als das vierte Kind dann endlich ein Mädchen war, nannte er es »Trauma«. Und das setzte er auch auf dem Standesamt durch. Ob die Tochter irgendwann einmal im Leben gemerkt hat, was ihr Vater ihr da angetan hat, weiß ich nicht. Ich habe diese Leute schon Anfang der 70er Jahre völlig aus den Augen verloren.)
Meine Eltern verstanden sich nicht. Ich hab das damals gar nicht mitbekommen. Aber »was Gott zusammenfügt, darf der Mensch nicht scheiden«. Und so blieben sie zusammen. Aber irgendwann ging es wohl nicht mehr und meine Mutter verließ faktisch ihren Mann. Sie schlief zwar noch im gleichen Haus, aber in einem anderen Raum als mein Vater. Und sie verließ nicht nur ihren Mann, sie verließ ihre Familie, sie verließ ihre Kinder. Sie wollte von meinem Vater weg und die Nachbarn haben wohl ihre Naivität ausgenützt um kostenlos eine Haushaltshilfe und ein Kindermädchen zu haben.
Mein Vater ging schon vor fünf Uhr morgens aus dem Haus zur Arbeit. Meine Mutter stand fast nie vor elf Uhr auf. Wir Kinder standen immer allein auf und gingen ohne Frühstück zur Schule. Aber auch ohne uns zu waschen und häufig ohne die Schularbeiten gemacht zu haben. Die Zähne putzte sich niemand in meiner Familie. Meine Zähne verfaulten in meinem Mund, während sie wuchsen.
Nachdem meine Mutter gegen Mittag aufgestanden war, ging sie zu den Warlichs und blieb dort bis ca. Mitternacht. Zwischendurch sah man sie auch hin und wieder mal in unserem Haus. Tagsüber war mein Vater auf der Arbeit. Er gab ihr wohl auch noch Haushaltsgeld. Die Kinder mussten irgendetwas zu essen kriegen. Scheinbar wusch sie wohl auch noch hin und wieder unsere Wäsche. Das erinnere ich aber im Einzelnen nicht mehr. Aber ein Kind braucht nicht nur Nahrung und Kleidung. Irgendeine sonstige Art von Betreuung gab es nicht mehr. Dass meine Mutter nur drei Häuser weit entfernt war, spielte für mich keine Rolle. Sie hätte genauso gut auf einem anderen Kontinent sein können. Die Wirkung wäre für mich fast die gleiche gewesen.
Zu dieser Zeit hörte ich auch auf, regelmäßig meine Oma zu besuchen. Gerade zu dieser Zeit war ich aus dem »Oma-liebhaben-Alter« herausgewachsen.
Dass mein Vater sich das Verhalten meiner Mutter bieten ließ und es jahrelang mitmachte, lag eventuell daran, dass er hoffte, meine Mutter würde wieder zu ihm zurückkommen, dass er hoffte, die Lage würde sich wieder normalisieren. Seine Religion verbot die Scheidung. Erst als dieser Zustand mehrere Jahre andauerte, wurde er Alkoholiker.
Was mein Vater meiner Mutter getan hat, so dass sie ihn mied, wo sie konnte, weiß ich nicht. Als ich schon erwachsen war, sagte sie mal, er hätte zu ihr gesagt: »Wenn du schon sonst nichts kannst, dann tue wenigstens im Bett deine Pflicht.« Wenn er das gesagt hat, war das nicht nett. Aber im Ärger sagt man manches. Ich bin selber ein Mann. Ich weiß wie es ist, wenn man sexuelle Bedürfnisse hat und sich diese nicht befriedigen kann. Eine Ehe reduziert sich nicht auf Sex. Aber Sex ist ein Teil der Ehe. Wenn man verheiratet ist, dann erwartet man(n) selbstverständlich, dass man sich in einer solchen Verbindung auch seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen kann. Und wenn eine Ehefrau über längere Zeit hinweg ihre Ehemann abweist, dann muss sie sich nicht wundern, dass der irgendwann mal ärgerlich wird. Wenn eine Frau mit ihrem Mann keinen Sex mehr will, dann soll sie so fair sein, ihn freizugeben, so dass er sich eine andere Frau suchen kann. Aber einige Frauen meinen, Männer hätten sich in einer solchen Situation zu kasteien und zu warten bis oder ob die Frau so gnädig ist, sich ihm wieder hinzugeben. Das hat mit Emanzipation der Frau überhaupt nichts zu tun. Das ist eine Umkehrung ungerechter Verhältnisse. [20]
Aber wenn meine Mutter nicht mehr mit ihrem Mann auskam, war das ein Grund, ihre Familie zu verlassen? Es gibt Männer, die schlagen ihre Frau und ihre Kinder, sind betrunken, bringen kein Geld nach Hause etc. Gemessen an solchen Ehemännern war mein Vater ein Musterehemann. Alkoholiker wurde er erst, als er mit dem Problem nicht fertig wurde. Und dann war er auch noch ein friedlicher Alkoholiker. Es war in den 60er Jahren noch weit verbreitet, dass die Eltern ihre Kinder schlugen. Aber meine Mutter hat mich erheblich häufiger verprügelt als mein Vater. Meine Mutter hat mir mit dem Kochlöffel den Hintern versohlt. Von meinem Vater bekam ich gelegentlich Ohrfeigen. (In der ersten Phase meiner Kindheit. In der 2. Phase haben mich meine Eltern, soweit ich erinnern kann, nie geschlagen.) Bei uns hat nicht der Vater die Mutter geschlagen, bei uns hat die Mutter den Vater geschlagen. Wenn das auch selten vorkam. Mein Vater war schwach und meine Mutter war dumm. So kann man es kurz und knapp zusammenfassen.
Zu Beginn habe ich das Wegsein meiner Mutter scheinbar gar nicht als negativ empfunden. Soweit ich mich erinnere, habe ich es in meiner Kindheit überhaupt niemals (bewusst) problematisiert. Ich mochte das Essen meiner Mutter nicht und mir passten die ständigen religiösen Aktivitäten nicht. Nachdem meine Mutter faktisch ihre Familie verlassen hatte, gab es keine Abendandachten mehr. Ich ging mit meinen Vater noch einige Zeit in die Kirche aber das hörte dann irgendwann ganz auf. (Übrigens hat sich in diesen Jahren soweit ich erinnere nie einer unserer christlichen Verwandten, auch nicht mein Patenonkel, bei uns blicken lassen.)
Was meine Mutter damals gemacht hatte, war eine Art »Familienverrat«, analog zum »Landesverrat«. Sie hatte ihre Familie verlassen und sich um die Kinder einer anderen Familie mehr gekümmert, als um ihre eigenen. Es war aus Sicht ihrer Religion moralisch verwerflich, und es war darüber hinaus im Rahmen des geltenden Rechts schlicht strafbar, Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Wenn meine Mutter von jemand angezeigt worden wäre, hätte sie vielleicht sogar im Wiederholungsfall ins Gefängnis kommen können. (Später wurde sie schuldig geschieden wegen bösartigen Verlassens.)
Es gibt den Straftatbestand des Kindesentzugs. Gäbe es auch einen Straftatbestand des »Mutterentzugs«, dann wäre dies die Straftat, die die Warlichs begangen hätten.
Da meine Mutter morgens nicht aufstand, gab es kein Frühstück. Ich wusste, wo sei ihr Portemonnaie aufbewahrte und häufig nahm ich mir morgens ein/zwei Mark heraus. (Sie hat dann häufig gerätselt, wo das Geld geblieben ist. Dass eines ihrer Kinder klaut, auf die Idee ist sie nicht gekommen.) Aber wenn ich mir dann im Laden Süßigkeiten, Cola, Knackwurst u. ä. kaufte, dann habe ich immer mit dem Schulkamerad geteilt, mit dem ich gerade zusammen war. Teilen war für mich selbstverständlich. Dass der eine etwas hat und der andere hat nichts, war für mich, so lange ich zurückdenken kann, immer etwas unnormales und inakzeptables. Auch als ich später Lehrling war, habe ich meinem Chef, ohne dabei irgendwelche moralische Bedenken zu haben, Geld geklaut und dieses dann mit der gleichen Selbstverständlichkeit zusammen mit meinen Kumpels ausgegeben.
Ich war ein naturwüchsiger Kommunist. Ich habe schon immer umverteilt. Ich nahm es den Besitzenden, das war meine Mutter oder mein Chef, und gab es den Besitzlosen, und das war ich und meine Kumpels. Soll ich mich heute dafür schämen? Meine Mutter hätte aufstehen können, wie andere Mütter und ihren Kindern was zum Frühstück machen können, Schulbrot mitgeben etc. Sie hätte nachmittags und abends zuhause sein können, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Und mein Chef hat erheblich mehr an mir verdient, als ich ihm geklaut habe. (Darauf gehe ich weiter hinten noch näher ein.) Zuerst einmal sollen die sich schämen. Mein bester Freund war Peter S. (Ich hatte später nie so enge Freunde.) Seit wann ich mit ihm befreundet war, weiß ich heute nicht mehr. Aber in meiner späten Schulzeit und bis Anfang 1971, als ich aus Rahlstedt wegzog, hatte ich viel mit ihm zu tun. Hilfsschüler sagte man damals, obwohl es meines Wissens auch damals schon Sonderschule hieß. Weitere aber nicht ganz so enge Freunde waren Peters Bruder Andy und Bernd G. Ebenfalls beide Hilfsschüler. Dazu kamen weitere, nicht so enge Freunde, mehr Bekannte, die ich namentlich heute gar nicht mehr nennen kann. Auch wenn ich zur Volksschule ging, meine Freunde waren fast alle Hilfsschüler. Meinen Eltern war es völlig egal, wer meine Freunde waren, mit welchen Menschen ich Umgang hatte.
In meiner Kindheit war ich im Sommer ein Dauergast in der Badeanstalt, im Sommerbad Rahlstedt. (Ich fuhr aber auch häufig mit dem Rad zum Großensee, der ca. 15 Kilometer weit entfernt in Schleswig-Holstein liegt.) Selbst an kühlen Tagen, wenn nur wenige andere da waren. Jeden Abend sammelte ich Papier ein. Dafür bekam man eine Freikarte für den nächsten Tag. Der Eintritt kostete damals für Kinder 30 Pfennig. Ich bekam in der Regel von meiner Mutter 40 Pfennig. 10 Pfennig für Süßigkeiten. Mit einer Freikarte, von der ich meiner Mutter nichts erzählte, hatte ich 40 Pfennig für Süßigkeiten. (Es sei denn, ich hatte zusätzlich noch ein bisschen geklaut. Ich habe nie Scheine geklaut. Nur Münzen. Und davon auch immer nur einen Teil. »Teilnehmen ist das Entscheidende«, sagte der Taschendieb und nahm sich seinen Teil.)
Einmal haben wir in der Nähe der Badeanstalt ein Rad gestohlen, aus Jux, um nicht zu Fuß nach Hause gehen zu müssen. Peter S. und sein Bruder hatten Teile davon behalten und in ihre Fahrräder eingebaut, was dann zur Entdeckung durch den Bestohlenen führte. Wir kamen vor das Jugendgericht und erzählten dort, dass wir dieses Rad an einem kleinen Wald gefunden und es als weggeworfen angesehen hätten. Das stimmte nicht, aber wir wurden freigesprochen. Mit etwas Pech hätte ich damals eine Jugendstrafe bekommen können. Dass mein Vater daraufhin irgendwelche erzieherischen Maßnahmen ergriffen hätte, ist mir nicht bekannt. Er war zu der Zeit wohl schon Alkoholiker. Ich erinnere das aber nicht mehr so genau.
Als ich 1970 in die SDAJ eintrat, behielt ich noch ca. ein Jahr lang Kontakt zu meinem alten Freundeskreis, der erst Im Laufe des Jahre 1971 abriss, nachdem ich aus Rahlstedt weggezogen war. Einige Zeit später war ich noch einmal auf einer Party im Haus der Familie S. (die hatten ein Reihenhaus wie wir), aber da waren wir schon weit auseinander. Das genaue Jahr erinnere ich nicht mehr 1972/73 glaube ich. (Zu der Zeit stand Peter S. unter Hausarrest wegen diverser Straftaten.) Später als ich nicht mehr zu dieser Clique gehörte, sind viele von diesen Leuten Kleinkriminelle geworden.
Ich habe meinen Freundes- und Bekanntenkreis aus der zweiten Hälfte der 60er Jahre zum Anfang der 70er Jahre völlig aus den Augen verloren. Später dachte ich oft, was wohl aus denen geworden ist. Über andere einstige Bekannte aus späteren Zeiten habe ich später durch Internet-Recherchen einiges in Erfahrung bringen können. Über die Freunde meiner Kindheit nicht. »Kleine Verbrecher gehen im Gefängnis ein. Große Verbrecher gehen in die Geschichte ein.« (Mein eigener Aphorismus!) Irgendwann fuhren wir nicht mehr jeden Sonntag in die Katholisch-Apostolische Kirche nach Barmbek. Ich glaube, es lag daran, dass meine Mutter nicht mehr mit uns gemeinsam in die Kirche ging, was für meinen Vater blamabel war. Außerdem wurde bei Ehestreitigkeit von Seiten der Katholisch-Apostolischen Kirche starker Druck auf die Mitglieder ausgeübt. Die Ehe war eine heilige Institution. Nicht etwa eine weltliche Verbindung von Mann und Frau. Gar noch auf Widerruf. Scheidung war verboten, Trennung zumindest verpönt. [21]
Wir gingen fortan in die evangelische Martins-Kirche, die ca. 500 Meter von unserem Haus entfernt war. Formell waren wir sowieso in der evangelischen Kirche Mitglied. Ich bin evangelisch getauft und konfirmiert. Der Katholisch-Apostolischen Kirche waren bereits die Geistlichen ausgegangen. Deshalb konnten die so was nicht mehr machen. Unsere Kirche hatte sich nicht so stark von den Landeskirchen abgeschottet, wie andere Sekten. Ich erinnere mich an ein Gespräch, wo der Pfarrer versuchte meinem Vater klar zu machen, dass die Katholisch-Apostolische Kirche eine Sekte sei. Da war mein Vater anderer Meinung.
Das hinderte aber nicht, dass er bevor er Alkoholiker wurde des Öfteren den Kirchendiener vertrat, wenn dieser Urlaub hatte. Kerzen anzünden, den Wein für das Abendmahl bereitstellen etc. Er hatte auch für alle möglichen Räume Schlüssel und einmal stiegen wir auf den Kirchturm, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war.
Zu dieser Zeit habe ich auch in einer Kindergruppe des CVJM mitgemacht. Das war aber nur sehr kurzzeitig und sporadisch. Ich hätte dort einen besseren Umgang gehabt als in Großlohe. Zu dieser Zeit kaufte ich mir auch eine »Mundorgel«. (Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Buchhandlung betrat. In späteren Zeiten sollten Buchhandlungen mal eine wichtigere Rolle in meinem Leben spielen.) Die Mundorgel war (ist) ein kleines Büchlein mit Liedern. Seit der Zeit kannte ich Wir lagen vor Madagaskar, Wir lieben die Stürmen, Die Affen rasen durch den Wald oder Sabinchen war ein Frauenzimmer.
Im Gegensatz zu meiner Mutter war mein Vater abends und am Wochenende anwesend. Aber ich kann nicht sagen, dass er mich erzogen hätte, dass von ihm irgendeine Betreuung ausging, oder gar, dass ich irgendetwas von ihm gelernt hätte. Er hätte mich als Christ dazu anhalten können, regelmäßig zum CVJM zu gehen, statt in Großlohe mit den Hilfsschülern herumzugammeln. Wenn ich Zahnschmerzen hatte, gab er mir eine Zahnschmerztablette, anstatt mich dazu zu drängen, zum Zahnarzt zu gehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich meine Vater weder in der ersten noch in der zweiten Phase meiner Kindheit jemals nach meinen schulischen Aktivitäten erkundigt hätte, sich meine Schulhefte ansah oder ähnliches. Ihm waren meine schulischen Aktivitäten egal. Und dass meine Mutter ihren Kindern in schulischen Dingen nicht helfen konnte, das wusste er. Aber er berichtete, bzw. renommierte oft damit, dass er und seine Brüder nach dem zweiten Weltkrieg ihren jüngsten Bruder Wolfgang unterrichteten und förderten. (Das ist der Einzige aus der Verwandtschaft väterlicherseits, der es später weiter als zum Arbeiter oder kleinen Angestellten gebracht hat. Ich hatte nie Kontakt zu dem und weiß nur das, was mein Vater über ihn erzählte. Danach ist er im Krupp-Konzern aufgestiegen und war in den 80er Jahren Chef der Thyssen-Niederlassung in Hamburg.) Das erste Mädchen, für das ich bewusst geschwärmt habe, hieß Eva. (Abgesehen jetzt mal von meiner frühen Kindheit, wo ich auch schon Freundinnen hatte.) Ich kannte sie über die Martins-Kirche. Irgendwann fuhren wir mit der Kirchengemeinde Sonntagnachmittags irgendwo hin, an genaues kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber auf dem Rückweg, da unterhielt ich mich im Bus mit einem kleinen blonden Mädchen, dass Eva hieß und die ich sehr nett fand.
Wochen später traf ich sie zufällig in der Badeanstalt wieder und wollte mit ihr reden und bei ihr sein. Ich war vielleicht 13 oder 14. Ich hatte zu dieser Zeit noch überhaupt kein Penetrations-Bedürfnis. Ich habe sie in keinerlei Weise als Lustobjekt angesehen. Ich wollte einfach nur gerne bei ihr sein. Aber sie fragte mich: »Wo ist denn Bernie?«
Bernie gehörte zu den Jungs, die das Glück hatten, von der Natur ein äußeres Erscheinungsbild mitbekommen zu haben, das bei Mädchen gut ankam. Dass er nicht besonders klug war, das spielte keine Rolle. (Und ich verhalte mich ja nicht anders. Wenn ich mit einer Frau ins Bett gehen will, dann interessiert mich auch nicht vorrangig die Höhe ihre Intelligenz-Quotienten.) Ich war jedenfalls sehr enttäuscht und sagte ihr: »Das sag ich dir nicht.« »Den find ich auch alleine«, sagte sie und weg war sie. Das war der erste Mädchenfrust in meinem Leben. »Wo ist denn Bernie?« Diesen Satz sollte ich im weiteren Verlauf meines Lebens noch sehr häufig hören. Wenn er auch immer aus anderen Wörtern bestand.
Mitte der 60er Jahre hatte ich einen Kellerraum als Clubraum ausgebaut, ohne meine Eltern zu fragen. Das haben die auch hingenommen. Zu der Zeit war die Familie aber auch schon in Unordnung geraten. Ich erinnere, dass meine Schwestern, die sich ein kleines Zimmer teilen mussten, fragte: »Wieso hat Peter, wo er schon ein eigenes Zimmer hat, auch noch einen Clubraum im Keller?« Ich hatte halt die Initiative ergriffen. Deshalb hatte ich einen. Da hielt ich mich oft mit meinen Freunden auf.
Noch in einem anderen Punkt fühlten sich meine Schwestern benachteiligt. Am 1. Weihnachtstag gab es Puter. Von den zwei Keulen bekam immer eine mein Vater und eine ich. Meine großen Schwestern fragte: »Wieso kriegt Peter eigentlich immer die Keule?« Die Antwort: »Aber er ist doch ein Junge.« Die Mädchen mussten sich mit den Flügeln zufrieden geben. Und meiner Mutter reichte an Stück von der Brust. (Heutzutage ist es mir ziemlich egal, was ich kriege, Brust oder Keule. Hat beides irgendwo seinen Reiz. ;-)
Damals war alle vier Wochen Sperrmüll. Die Leute konnten alles, was nicht in die Mülltonnen passte, am Abend an den Straßenrand legen, nächsten Vormittag wurde es dann abgeholt. An solchen Abenden lief ich durch den Mehlandsredder von Sperrmüllberg zu Sperrmüllberg und suchte, ob etwas zu brauchen war. So bekam ich meine Möbel für meinen Clubraum und mein erstes Fahrrad. (Das war aber schon so um 1962.) Meine Eltern hatte erstens kein Geld, um mir ein Fahrrad zu kaufen, noch hatten sie irgendeine Sensibilität für entsprechende Wünsche.
Einmal fand ich im Sperrmüll einen Karton mit Fotos von nackten und halbnackten Frauen, die ich in meinen Clubraum an die Wand hing. Das wurde mir nicht verboten. Zu dieser Zeit wurde mir allerdings überhaupt nichts mehr verboten. Als ich 13/14 Jahre alt war, hätte ich wohl eine Woche nicht zu Hause sein können, ohne dass es jemand gemerkt, geschweige denn, irgendjemand etwas unternommen hätte. Als ich 1966 in die 8. Klasse kam, bekamen wir eine neue Klassenlehrerin, Frau Kostorz. Herr Tiede ging drei Jahre nach Chile als Entwicklungshelfer. (Im März 1981 ist er in Chile beim Bergsteigen in eine Gletscherspalte gestürzt und darin umgekommen.) Ich war 1415. Zu der Zeit war mein Vater nach meiner Erinnerung noch kein Alkoholiker. Meine Mutter hatte ihre Familie und Kinder faktisch verlassen. Ich tat in der Schule nichts. Ich saß vorher wegen meiner Augen weit vorne an der Tafel. In der 8. Klasse saß ich ganz hinten. Trug keine Brille, aus Angst, dann noch minderwertiger zu sein. (Ich hatte eine Kassenbrille, die ich als Katastrophe ansah, obwohl sie es, wie ich heute weiß, nicht war.) Erkannte so nichts mehr an der Tafel. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Klassenlehrerin etwas dagegen getan hätte. Zu der Zeit hatte sie aber schon ihren Hirntumor, an dem sie später starb. Sie hatte also andere Probleme.
Damals war Sonnabends noch drei Stunden Schule. Zu der Zeit, als Frau Kostorz noch nicht meine Klassenlehrerin war, sondern die Englischgruppe III unterrichtete, kam sie einen Samstag völlig zerrissen und zerzaust zum Unterricht, was bei einer Lehrerin in den 60er Jahren ein Unding war. Vielleicht hatte sie bereits gewusst, dass sie einen Hirntumor hatte.
Dass ich Englischunterricht hatte, bedeutet aber nicht, dass ich etwa in meiner Kindheit Englisch gelernt hätte. Als in der 5. Klasse der Englischunterricht anfing, hatten die Schüler, die schlecht in Deutsch waren, statt Englisch zusätzlich Deutsch. »Fördern« nannte sich das. Später, in der 6. oder 7. Klasse, wurde dann für diese Schüler »Englisch III« eingeführt. »Please open the door.« »Please shut the window.« u. ä. Als ich die Schule verließ, kannte ich keine fünfzig englischen Wörter. Ich erinnere, dass ich später, als ich schon in der SDAJ war, die Genossin Birgit Sz. fragte, was »All you need is love« heißt. So hieß ein Song der Beatles. Ich wusste es wirklich nicht. Es war keine bewusste Anmache. (Aber vielleicht eine unbewusste. Vielleicht konnte mein Un{ter}bewusstsein Englisch. Nach Platon ist das so, da ist alles Erkennen Wiedererinnern. In der Sphäre der Ideen hat meine Seele einst die englische Sprache geschaut, wie auch die chinesische. Aber an Chinesisch kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern ;-)
Aber ich erinnere, dass in Geschichte oder Sozialkunde der Name Marx fiel. Ich erinnere, dass die Geschichtslehrerin zu mir sagte, nachdem sie meine Schulhefte gesehen hatte, »das ist ja Hilfsschulen Niveau.«
Ich kann mich an diese Zeit nur sehr wenig erinnern. Was mir damals wichtig war, was ich gemacht hab. (Nur das ich Beatmusik meine Vater sagte »Krachmusik« gehört habe und aus den Bravos die Bilder der Beatgruppen herausnahm und an die Wände hing. Gelesen hatte ich in den Bravos allerdings nichts.) Am Ende des 8. Schuljahres war jedenfalls ein ganz schlechtes Zeugnis. Nur Dreien, Vieren und Fünfen. [22] Ich sollte zum ersten Mal in meinem Leben sitzenbleiben. Das hätte bedeutet, in eine andere Klasse zu müssen. Das wollte ich nicht. Ich sagte zu meiner Klassenlehrerin, wenn ich in eine andere Klasse soll, dann komm ich nicht mehr her. Ich hatte zu dieser Zeit schon zwangsläufig eine gewisse Selbständigkeit. Und Autoritäten kannte ich keine. Ich hätte mich da nicht hinzwingen lassen. Wie wichtig Bildung für das weitere Leben ist und das Bildung sogar Selbstzweck sein kann, das war mir damals noch nicht bewusst.
Ich war zu Beginn meiner Schulzeit ein Jahr zurückgesetzt worden, d. h. ein Jahr später als üblich eingeschult worden, mit sieben. Am Ende meiner achtjährigen Schulzeit hatte ich die Pflichtschulzeit absolviert. Ob das ein Fehler der damaligen Schulleitung war, kann ich heute nicht mehr sagen. Pflicht war eigentlich neun Jahre.
So wurde ich zwei Monate nach meinem 15. Geburtstag aus der Schule entlassen ohne das Ziel der 8. Klasse erreicht zu haben. Meine Schulbildung bestand faktisch aus sieben Jahren Volksschule. Meine Eltern haben nichts dagegen unternommen. Sie haben mich nicht dazu gedrängt, weiter zur Schule zu gehen. Meine schulischen Aktivitäten waren ihnen egal. (Dafür müssten sie heute noch Prügel kriegen! Auch wenn es inzwischen gut vier Jahrzehnte her ist.)
Nachdem ich so überraschend aus der Schule gekommen war, wurde ich erst einmal »notkonfirmiert«. Nach einem statt nach zwei Jahren Konfirmanden-Unterricht. Das war, soweit ich mich erinnere, das letzte Mal in meinem Leben, dass ich einen Anzug und eine Krawatte trug. (!!!)
Dann nahm mein Vater mich an einem Tag mit in die Firma, in der er seit gut zwanzig Jahren als Lagerarbeiter und Lagerverwalter arbeite, Kolbenschmidt in Altona. Weil mein Vater dort gut angesehen war [23], wollte man mir die Chance geben, dort eine Maschinenschlosserlehre zu machen. Vorher musste ich aber eine schriftliche Aufnahmeprüfung machen, bei der ich durchfiel. In dieser Prüfung wurden viele rechnerische Aufgaben gestellt, von denen ich nichts verstand. Es war der Wissensstoff, der in der Volksschule in der 8. und 9. Klasse unterrichtet wurde. Ich war eigentlich mal ein Ass in Rechnen, aber nun scheiterte ich an ungenügenden Rechenkenntnissen.
Es gab damals keinen Lehrstellenmangel. Ende 60er Jahre bekam ein Lehrling im 1. Lehrjahr in vielen Berufen 100 DM monatlich. Das machte es für viele »Krauter«, sprich Kleinunternehmer, lukrativ, viele Lehrlinge einzustellen. Billigere Arbeitskräfte gab es faktisch nicht. Und wenn sie nichts taugten, konnte man sie ja jederzeit wieder rauswerfen. Für so etwas ließ sich immer ein Grund finden. Ich bekam eine Stelle als Autoschlosserlehrling. Bei Walter H., Goggomobile, in der Wandsbeker Zollstraße. Der stellte drei Lehrlinge ein, von denen er zwei im Verlaufe des ersten Lehrjahres wieder rauswarf.
Meine erste Aufgabe morgens war den Pausenraum sauberzumachen, auch das Klo zu putzen. Mein Juniorchef fragte mich mal: »Wenn du später mal verheiratet bist, soll dann immer nur deine Frau das Klo putzen?« Nee, das wollte ich nicht unbedingt. Ergo muss der Autoschlosserlehrling lernen, wie man Klos putzt. Das lernte man dann ein Jahr lang jeden Morgen. Dann konnte man das. Dann durfte man die Klobürste an den nächsten Jahrgang weitergeben.
(Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe überhaupt kein Probleme damit, Reinigungsarbeiten zu machen. Als Single reinige ich meine Wohnung selbst. [24] Ende der 90er Jahre war ich noch zweieinhalb Jahre nebenberuflicher Hausmeister. In dem Haus, in dem ich wohne. Ich habe philosophische Literatur gelesen, philosophische Texte geschrieben und als körperlichen Ausgleich den Hof gefegt und kleine Reparaturen vorgenommen. Aber für einen Stundenlohn von knapp 20 DM netto. Ich habe statt Miete zu zahlen eine gewisse Menge an Stunden monatlich gearbeitet. Als Lehrling hatte ich einen Stundenlohn von weniger als einer Mark. In unserer arbeitsteiligen Welt gibt es Menschen, die beruflich saubermachen. Und ich kucke auf solche Menschen nicht herab. Hätten wir diese Menschen nicht, würden wir alle krank, weil alles verdrecken würde. Aber wenn jemand Reinigungsarbeiten macht, dann soll man den korrekt dafür bezahlen. Mein Chef hatte die Reinigungskräfte eingespart und die Lehrlinge zu Hungerlöhnen reinigen lassen. Lediglich für das Büro hatte er eine Reinmachefrau.)
Dann ging ich für die gesamte Belegschaft etwa zehn Leute einkaufen. Das musste man auch lernen. (»Wenn du später mal verheiratet bist, soll dann immer nur deine Frau ...«) Ich kaufte gerne ein. Man kam so aus den Betrieb raus. Und man durfte kleine Restbeträge behalten und konnte damit sein eigenes Frühstück finanzieren. (Und dann wie Kittner in einem Sketch feststellte »die Schulung des kritischen Geistes bei der selbständigen Entscheidung zwischen Pils, Export und Bock.«) [25] Dann habe ich Werkzeuge gereinigt, das musste man auch lernen. Man erfuhr dabei ja auch, was für Werkzeuge es gibt. Dann durfte man den Gesellen das Werkzeug zureichen, die unter einem Auto lagen. Und wenn es nichts von alledem zu tun gab, dann durfte man stundenlang an einem Stück Metall feilen.
Es gab außer mir noch zwei weitere Lehrlinge im 1. Lehrjahr, trotzdem blieb Kloputzen und Einkaufen fast immer an mir hängen. Die beiden anderen hatte der Chef noch vor mir wieder rausgeschmissen. Ursprünglich wollte er mich wohl behalten, weil ich der fleißigste war. Ende des Jahres hat er mich dann aber auch rausgeworfen.
In der Berufsschule kam ich nicht mit. Ich saß neben Abiturienten. Ich konnte nicht einmal einen Hammer aus drei Perspektiven auf Millimeterpapier zeichnen. (Oder jedenfalls habe ich es nicht so gemacht, wie der Chef es haben wollte.) Ich hatte Schablonen für die Schrift und dafür spezielle Stifte, aber der Gedanke, wie viel Aufwand es bedeuten würde, alles so zu beschriften, war mir nicht angenehm. In solchen Dingen war ich faul.
An einem der ersten Arbeitstage schickte man mich mit einem alten Kohlensack zu einer Nachbarfirma, auch eine kleine »Klitsche«, um einen »Sack voll Kompression« holen. Dort bekam ich einige sehr schwere alte Bremstrommeln in meinen Sack geladen, den ich dann in meine Firma schleppte. »Das ist falsch. Das ist die runde Kompression. Wir brauchen die gebogene Kompression.« Ich wieder zurück. »Die wollen die gebogen Kompression.« Dann wollten Sie mir einen Amboss andrehen. »Aber das ist doch viel zu schwer. Wie soll ich das denn tragen? Das ist ja gar keine Kompression. Das ist ein Amboss!« »Was ist denn Kompression?« »Keine Ahnung.« [26]
Am 1. Januar 1968 begann ich auf der Tankstelle Franz P. in der Ahrensburger Straße zu arbeiten. (Die gleiche Straße, wie die Wandsbeker Zollstraße, aber etwas weiter Richtung Rahlstedt.) Die ersten drei Monate als Hilfsarbeiter für 100 DM im Monat, ab dem 1. April dann als Tankwartlehrling, auch für 100 DM im Monat. Dort blieb ich bis September 1970.
Auf der Tankstelle hatte ich mich wohlgefühlt. Vom subjektiven Empfinden her war es eine sehr schöne Zeit. Ich habe in späteren Jahren sogar häufig davon geträumt, dass ich wieder dort arbeite. Das ist für mich ein gutes Zeichen. Alpträume habe ich so gut wie nie.
Aber ich war auch dort billiger Hilfsarbeiter. Ich habe Autos betankt, Autos gewaschen, Ölwechsel gemacht, neue Reifen aufgezogen, aber auch gefegt, Zäune gestrichen etc. Aber der Chef hat zumindest vorher immer gefragt, wenn es sich um berufsfremde Tätigkeiten handelte, ob ich es machen will. »Ich kann es nicht von dir verlangen.« Aber meistens habe ich eingewilligt. Es hatte auch den Aspekt der Abwechslung.
Mein Chef hatte sich um meine Ausbildung nicht gekümmert. Ich schrieb keine Berichtshefte, wie ich eigentlich monatlich sollte. Wie ich die Prüfung hätte schaffen sollen, hätte ich drei Jahre durchgehalten weiß ich nicht. Erst als ich bockig wurde und Sonntags nicht mehr arbeiten wollte (nachdem ich auf starken Druck hin mir die Haare hatte kurz schneiden lassen), da kam der Chef plötzlich an und monierte meine fehlenden Berichte.
Ich habe Geld geklaut und war so naiv zu glauben, dass es keiner merkt. Der Chef und andere Mitarbeiter haben es aber gemerkt, oder aber zumindest mich stark in Verdacht gehabt. Ich durfte nicht mehr kassieren und der Tresor, aus dem ich mir des Öfteren eine Rolle mit fünfzig Einmarkstücken herausgenommen hatte, blieb verschlossen. Nun hätte mein Chef mich rausschmeißen oder anzeigen können. Hat er aber nicht gemacht. Warum nicht? Weil er erheblich mehr an mir verdient hat, als ich ihm klaute. Denn ich war immer sehr fleißig. Das kann ich ohne falsche Bescheidenheit sagen. (Er hat mich mehr bestohlen als ich ihn. Aber seine Art Diebstahl war legal. Meine illegal.)
Während meiner offiziellen Lehrlingsarbeitszeit hatte ich einen Stundenlohn von ca. einer Mark. Wenn ich Sonntags oder nach der Berufsschule kam, bekam ich fünf Mark Stundenlohn. Und der Chef hat selbst dann noch reichlich an mir verdient.
Ich habe fast jeden Sonntag gearbeitet und an solchen Tagen mit Trinkgeld zusammen ca. 100 Mark verdient, die häufig am gleichen Abend wieder weg waren. Ich habe für meine Kumpels immer mit bezahlt. Besonders für Peter S. und manchmal auch für seinen Bruder und weitere Bekannte. Die hatten fast nie Geld. (Waren aber auch bei weitem nicht so fleißig wie ich.) Wie ich schon weiter vorne bemerkte, war ich ein urwüchsiger Kommunist. Ob das nun an meiner Sozialisation lag die Nächstenliebe war mir eingebläut worden [27] oder an meinen Genen weiß ich nicht. Wahrscheinlich war es beides. Zwischen 15 und 18, ich weiß heute nicht mehr genau die Zeit, habe ich massenhaft Western- und Kriminalromane gelesen. Jerry Cotton und so was. Das war mein damaliges Niveau.
Zu dieser Zeit und in der späten Schulzeit hockte ich abends stundenlang vor dem Fernseher und sah mir irgendwelche Serien an, die ich im Einzelnen nicht mehr erinnere. Was hätte ich in der Zeit alles lernen können!
Ende 1969 hatte ich meine erste Freundin, die Beate hieß und meinen Vorstellungen entsprach. Klein und blond. Die hat mich im Januar auch noch im Krankenhaus besucht. Sie gab mir einen Zettel, auf dem verschiedene Arten zu küssen, beschrieben waren. Zu der Zeit wusste ich nicht, wie man so etwas macht. 4. Kapitel In meiner Kindheit empfand ich Religion immer als etwas, das mit Zwang und Langeweile verbunden war. Ein »religiöses Gefühl«, von dem viele religiöse Menschen berichten, hatte ich nie. Aber religionskritisch war ich den größten Teil meiner Kindheit nicht. Vom Inhalt her glaubte ich, was man mir anerzog. Ich erinnere, dass ich mir Anfang der 60er Jahre mal die Taschenlampe meines Vaters aus seiner Nachttischschublade nahm, um unter der Bettdecke lesen zu können. Da fiel mir plötzlich ein, dass vielleicht gerade jetzt Jesus kommt, um die Erstlinge zu holen. Mich würde er dann wegen der Taschenlampenentwendung nicht mitnehmen. Weshalb ich die Taschenlampe schnell zurückbrachte. (Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass die Geschichte der Menschheit mit Blut geschrieben ist, dass es Verbrechen gibt, gemessen an denen eine unerlaubte Taschenlampenbenutzung nicht besonders ins Gewicht fällt.)
Ich erinnere zwei Dinge, bei denen mir in meiner Kindheit zum ersten Mal religionskritische Gedanken kamen.
Meine Mutter erzählte, dass 1943 ihre ganze Straße brannte und die Menschen in diesem Flammenmeer herumirrten. (Meine Mutter wohnte in dem gleichen Stadtteil wie Wolf Biermann.) Sie erzählte, wie eine Gruppe von Frauen und Kindern von einer Feuerhose erfasst wurden und vor ihren Augen verbrannten. Und da stellte sich mir die Frage, was haben denn die Schutzengel von denen man mir erzählte, dass jedes Kind einen habe gemacht? Wie konnte denn der Liebe Gott so etwas zulassen? Die Antwort meiner Mutter auf solche Fragen: »Die Wege des Herren sind unergründlich.« Damit wollte ich mich auf Dauer nicht zufrieden geben. [28]
Bei Bewusstsein verbrennen ist sicherlich ein schrecklicher Tod. Aber es ist ein vorübergehendes Leid. Nun wurde in unserer Familie auch über den Massenmord an den Juden gesprochen. Und dass die jüdischen Kinder, die von den Nazis ermordet wurden, aus der Gaskammer direkt in die Hölle kommen, da sie nicht getauft waren, das erschien mir mit der Güte Gottes noch unvereinbarer.
Meine Großeltern waren keine Nazis. (Aber auch keine Widerstandskämpfer.) Ihren Kindern verboten sie, in die HJ (Hitlerjugend) oder BDM (Bund Deutscher Mädchen) zu gehen, weil das keine christlichen Organisationen waren. Das konnten sie verbieten. Dafür kamen sie nicht ins KZ. Es gab deutsche Familien, da hatte Hitler nur einen Fehler: Er hatte den Krieg verloren. In meiner Familie hatte Hitler immerhin schon zwei Fehler: Er hatte den Krieg angefangen (also nicht nur verloren) und er hatte so viele Juden ermorden lassen. Dies wurde in unserer Familie nicht bestritten. Hätte Hitler nur die Demokratie abgeschafft und die roten Parteien verboten, dann wäre er für meine Großeltern ein ganz respektabler Mann gewesen. Gibt es im Himmel etwa Demokratie? Wählen die »Ewig-Glückseligen« etwa, wen sie als Lieben Gott haben wollen? Demokratie ist nichts christliches.
In meiner Familie galt: Jeder Christ, egal welcher Konfession, kommt in den Himmel. (Mit Ausnahme der Neuapostolischen natürlich!) Wer nicht getauft ist, kommt in die Hölle. Und zwar für immer. Eine spätere Begnadigung gibt es nicht. Aber wenn es um die ermordeten Juden ging, dann wurde in unsere Familie gemauert. »Das muss der Herr entscheiden. Da steht uns kein Urteil zu.« Nun könnte man sagen, uns steht generell kein Urteil zu, ob jemand in die Hölle kommt. Aber so dachten meine Verwandten nicht. Ein Jude, der eines natürlichen Todes stirbt, der kommt selbstverständlich in die Hölle. Dort steht uns ein Urteil zu. Ein Jude, der von den Nazis umgebracht wurde? Na ja, vielleicht drückt der Herr da ein Auge zu. ();-) Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet dies, dass die Juden, die von den Nazis umgebracht wurden, den Nazis dafür dankbar sein müssten, weil sie nur dadurch die Chance bekamen, ungetauft in den Himmel zu kommen.
Ich habe in späteren Zeiten meines Lebens häufig mit religiösen Menschen diskutiert, auch mit Anhängern anderer christlicher Glaubensrichtungen und anderer Religionen. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen habe ich bei allen diesen Menschen, welchen konkreten Glauben sie auch immer hatten, einen Grundzug festgestellt: Es waren »Logikabstinenzler«. Sie haben ihre Auffassungen nicht konsequent zu Ende gedacht. Sonst hätten sie die Haltlosigkeit dieser Auffassungen erkannt und sie verworfen. Statt dessen hieß es: »Wenn man erst einmal anfängt über die Bibel nachzudenken, ist sowieso alles zu spät.« Und deshalb dachte man nicht über sie nach. (Heute nenne ich solche Leute »Großhirnverschwender«.)
(Nun könnte man zur Erklärung sagen, meine Verwandten waren in der »intellektuellen Pyramide« ganz unten. Aber auch Luther hat genauso argumentiert. Und in seinen antisemitischen Ausfällen war er ein Vorläufer von Goebbels.)
Viele Jahre später ging es in einer Gesprächsrunde in einer Jugendherberge mal um die Frage, ob Gandhi in die Hölle kommt, da er kein Christ war. In der Runde saß ein ganz fanatischer und der sagte, das sei doch ganz klar, dass Gandhi in die Hölle käme. Er war kein Christ. Punktum. Und als die anderen dann ihren Unmut äußerten über die Vorstellung, dass unten in der Hölle Gandhi und Hitler in der gleiche Pfanne schmoren, da ließ er sich dazu hinreißen zu sagen: »Vielleicht kriegt er eine zweite Chance!« Toll. Aber das ist nicht mehr christlich. Das ist Wiedergeburt. Und wenn einer eine zweite Chance bekommt, warum dann nicht noch andere? Es gab bestimmt noch weitere gute Menschen, die keine Christen waren.
(Ich schlug dann noch vor, dass, wenn Gandhi und Hitler tatsächlich beide in der Hölle sind, man sie zumindest nicht in die gleiche Pfanne legen sollte. Man könnte Gandhi in eine mit Teflonbeschichtung legen. Sozusagen als Hafterleichterung. Damit er zumindest leichter zu wenden wäre. Richtig böse wie Hitler könnte man dagegen immer ein bisschen anbrennen lassen. Aber im Ernst: Ich gönne es nicht einmal dem größten Verbrecher, dass er für alle Ewigkeit gefoltert wird. Meine Verwandten glaubte aber dies. In der Offenbarung steht geschrieben, sie »werden gequälet werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit.« (20:10 des Machwerks) Die, die im Buch des Lebens nicht gefunden werden und noch ein paar andere.)
Der zweite Punkt, wo Religionskritik bei mir aufkam, war, dass es verschiedene Religionen gab. Irgendwann in meiner späteren Kindheit sagte ich mal zu meiner Mutter: »Es gibt doch einige hundert Millionen Hindufrauen, die glauben an ihren Hinduglauben genauso fest wie du an deinen Christenglauben.« »Ja«, sagte sie »die werden sich noch mal ganz schön wundern!« Sag ich zu ihr: »Vielleicht wunderst du dich auch« Und Sie: »Neee! Ich wunder mich nicht. Das ist ganz ausgeschlossen.« Mir war es nicht einleuchtend, dass die einen in die richtige und die anderen in die falsche Religion reingeboren werden und dadurch von vornherein zur ewigen Glückseligkeit oder zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt sind.
(Nun könnte man auch hier zur Erklärung anführen, meine Verwandten waren in der »intellektuellen Pyramide« ganz unten. Aber Augustinus und Calvin habe nichts anderes behauptet.)
Irgendwann hatte ich mal einen Menschen aus der Neuapostolischen Kirche getroffen und meiner Mutter davon berichtet und sie : »Ui, ui, ui, pass bloß auf! Das sind die Allerschlimmsten! Ui, sei bloß vorsichtig.« Die Abtrünnigen von der eigenen Kirche, Organisation sind immer die Schlimmsten. Dabei hätten wir selbst beinahe zu dieser Kirche gehören können. Die Spaltung ging ja vier / fünf Generationen vor mir mitten durch die Familie.
Mit 15 bin ich konfirmiert worden. Das war meine letzte kirchliche Aktivität. Davor war ich schon lange Zeit nur noch selten zur Kirche gegangen. Ich hatte bereits eine sehr starke Aversion gegen Religion und Kirche entwickelt. Konfirmanden-Unterricht hatte ich allerdings. Aber das war nur noch eine Formalie. Nach meiner Konfirmation habe ich über 10 Jahre hinweg überhaupt keine Kirche betreten.
Mit 19 bin ich aus der Kirche ausgetreten und zwar nicht wie viele andere wegen der Steuer, sondern weil ich Atheist geworden war. (Ca. 15 Jahre später erkannte ich, dass ich damit nur einen Glauben mit einem anderen Glauben getauscht hatte. Näheres weiter hinten.)
Kurze Inhaltsangabe
Meine Vorfahren
Über die Katholisch-Apostolische Kirche und meine Vorfahren, die mit dieser Kirche eng verbunden waren, über die Offenbarung des Johannes und über meine Eltern.
Die religiöse Phase meiner Kindheit
Über die ersten zwölf Jahre meines Lebens. Die religiöse Prägung, meine Augenprobleme, über schlechtes Essen und mangelnde Reinlichkeit, über das Tabu Sex, über meine soziale Herkunft aus der Arbeiterschaft, über die frühe Schulzeit, über schlechte Bildung, was ich damals las, über meine Oma Sandmann und über Minderwertigkeitsgefühle.
Die Phase der Verwahrlosung
Wie meine Mutter ihre Familie verließ, über mangelnde Betreuung, über Freunde und Bekannte meiner späten Kindheit, über Badeanstalt und ersten Mädchenfrust, wie ich ohne Abschluss die Volksschule verließ und über die ersten Jahre meiner Berufstätigkeit als faktischer Hilfsarbeiter.
Religion
Wie in meiner Kindheit erste Zweifel an den anerzogenen Glaubenssätzen aufkamen, wie ich mich von der Religion wegentwickelte und wie ich heute zur Religion stehe.
Augen
Über meinen Augenunfall, die daraus entstehende Sehbehinderung und was für Auswirkung das auf mein sonstiges Leben hatte. Einige grundsätzliche Bemerkungen zu meiner Kindheit, zu meinen Eltern und zu Kindererziehung.
SDAJ
Wie ich Kommunist wurden, wie ich in die DKP-Jugendorganisation SDAJ kam, über den neuen Freundes- und Bekanntenkreis, über politische Aktivitäten, Reisen in die DDR und über die Entstehung des Jugendzentrums »Startloch«.
Das Mädchen-Problem
Über meine Verklemmtheit und meine Probleme mit Mädchen. Über falsche Selbsteinschätzung und falsche Vorstellungen davon, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren.
Schule und Weiterbildung
Wie ich begann mich zu bilden und über politische Schulung in der SDAJ.
Biesdorf
Über meine Erlebnisse an der SED-Parteischule für westdeutsche Genossen.
Bruch mit der SDAJ
Über meine Reaktion auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns, über die Reaktion der SDAJ auf diese Reaktion, über den ersten qualitativen Sprung in meiner intellektuellen Entwicklung, über Stalinismus und Eurokommunismus, über die Gründe für meinen Austritt aus der SDAJ und über Rufmordkampagnen.
HWP
Über mein Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, über marxistische Staatstheorie und Geschichte der Sowjetunion. Über London und über Vereinsamung.
Die Grünen
Wie ich Gründungsmitglied der Grünen wurde, über die Hamburger Grünen in den ersten zwei Jahren ihrer Existenz, über die »Gruppe Z« und das Unvermögen ihrer Opponenten, über die grüne Hochschulgruppe an der Universität Hamburg, über meine Kritik an radikalökologischen Konzepten und warum ich die heutigen Grünen für eine »grüne FDP« halte.
Universität Hamburg
Über mein Studium an der Universität Hamburg, über mein Ungarnreferat, über Bücher, Bücher, Bücher (seid verschlungen, Millionen ;-) wie ich Selbstdenker wurde und wie ich die Dissertation verpasste. Über Krankheit und über den Abbau meiner Verklemmtheit.
SPD
Warum ich Sozialdemokrat wurde und warum ich keine politische Karriere gemacht habe. (Und warum ich auch heute noch Single bin.)
Freiburg
Über meine Zeit in Freiburg, über Parapsychologie, über den Schwarzwald, über den »Steppenwolf« und »Meine Philosophie«, über meine kabarettistischen Aktivitäten als »Sven Zprottenkopp« und über den Untergang des Realen Sozialismus.
Berlin
Über meine ersten Jahre in Berlin, wie es im »Osten« aussah, über kabarettistische Aktivitäten, wie ich heutzutage zur SPD und zur Politik insgesamt stehe, über Arbeit und Arbeitslosigkeit und wie ich einfach nicht erwachsen wurde.
Über die Notwendigkeit höherer Arten
Wie ich zu der Auffassung gelangte, dass die Menschheit nur die Wahl hat eine Durchgangsphase oder eine Sackgasse der Evolution zu sein, über meine positive Bewertung der Gentechnik, über Selbstevolution und über Transhumanismus.
Wie das philolex entstand
Aus philosophischen Aufsätzen und Uni-Aufzeichnungen werden Internetseiten, meine Homepage als meine Modelleisenbahn.
Abschließende Gedanken
Über Fehler und allgemeine Grundzüge meines Lebens.
Meine Vorfahren
Die religiöse Phase meiner Kindheit
Die Phase der Verwahrlosung
Religion