Marxistische Theorie und realsozialistische Praxis


Der Volksaufstand in Ungarn 1956

Dies ist eine überarbeitete und für das Internet erstellte Fassung einer Seminar-Arbeit aus dem Jahre 1982. Sie kann nach meiner Auffassung auch heute noch interessante Informationen bieten. Es steht hier aber auch manches, was heute nicht mehr meinen Vorstellungen entspricht. Als ich diese Arbeit schrieb, war ich noch Kommunist, wenn auch ein zunehmend kritischer Kommunist. In den Jahren 1982/83 habe ich aufgehört Kommunist zu sein. (Siehe auch die Anmerkung zum Vorwort von 1991 und die diese Arbeit betreffenden Absätze in meinen Memoiren.)



  1. Die Sowjetunion
  2. Ungarn nach dem 2. Weltkrieg
  3. Der Aufstand
  4. Untersuchung einiger spezieller Aspekte des Aufstandes
  5. Untersuchung der Glaubwürdigkeit der Verschiedenen Bücher zu diesem Thema
  6. Zeittafel
  7. Literaturliste
  8. Anmerkungen



1. TEIL – DIE SOWJETUNION


»Sie gründen eine einzige Staatsbank, konzentrierend in ihren Händen alle kommerziell-industrielle, ländliche und selbst wissenschaftliche Produktion; und teilen die Masse des Volks in zwei Armeen: industrielle und agrikole unter dem unmittelbaren Kommando von Staatsingenieuren, die einen neuen privilegierten wissenschaftlich-politischen Stand bilden.« Michael Bakunin 1873 [1]




1.1. DER ALLGEMEINE CHARAKTER DES SOWJETISCHEN SYSTEMS

Ungarn wurde nach dem 2. Weltkrieg das sowjetische System aufgezwungen und die Sowjetunion war es, die den Volksaufstand niederwarf. Deshalb ist es sinnvoll, kurz etwas zu dem allgemeinen Charakter des sowjetischen Systems zu sagen.

Die Sowjetunion ist aus der Oktoberrevolution von 1917 hervorgegangen. Ihre Initiatoren verstanden diese Revolution als Beginn der proletarischen Weltrevolution. In den ersten Jahren war keiner der bolschewistischen Führer auf die Idee gekommen, Russland könnte allein bleiben mit seiner Revolution und der Sozialismus könne in einem Lande, und dazu auch noch in einem so rückständigen Land wie Russland, aufgebaut werden. Dies widersprach der damals noch als richtig angesehenen These des Marxismus, dass die proletarische Revolution nur eine internationale Revolution sein könne und in den industriell fortgeschrittensten Ländern stattfinden würde. [2]

Aber die Revolution in Westeuropa blieb aus und so versuchten die Bolschewiki das Beste aus der Situation zu machen. Da der Marxismus eine hohe Entwicklungsstufe der Produktivkräfte als Voraussetzung des Sozialismus ansieht, war es ihr Ziel, Russland so schnell wie möglich zu industrialisieren. Auf grund der despotischen Traditionen des zaristischen Russlands, der autoritären Theorie und Praxis des Leninismus und der internationalen Isolierung Sowjetrusslands war es der despotische Weg zur Industriegesellschaft, der sich durchsetzte. Das System, dass sich unter diesen Umständen entwickelte, wurde von vielen Menschen in der Sowjetunion und im Ausland irrtümlich für Sozialismus gehalten. [3] In Wirklichkeit entwickelte sich eine ökonomische Formation, die von den Marxisten nicht vorausgesehen worden war und die Rudolf Bahro treffend als »Industrielle Despotie« bezeichnet.

Die ökonomische Basis dieser Gesellschaft ist gekennzeichnet durch faktisches Staatseigentum an den Produktionsmitteln. Die Masse des Volkes steht dem Staatsapparat eigentumslos gegenüber und hat auf die Wirtschaftsplanung im großen Rahmen keinen Einfluss. Es existieren weiterhin Ware, Lohnarbeit und Geld. Die Arbeitsteilung wird weiter forciert und damit auch die Entfremdung der Arbeit fortgeschrieben.

In dieser Gesellschaft existieren aber eine ganze Reihe ökonomischer Gesetze des Kapitalismus nicht; z. B. steht im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens nicht die Produktion von Mehrwert. Deshalb halte ich es für falsch, von »Staatskapitalismus« zu reden.

Da aber nicht einmal ansatzweise die Subalternität, die Entfremdung, die Unterdrückung und Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten beseitigt ist, kann man auch nicht von einem mehr oder weniger verzerrten Sozialismus reden. Es ist eine ökonomische Formation eigener Art, die weder auf Kapitalismus, noch auf Sozialismus reduzierbar ist.

Der politisch-ideologische Überbau dieser Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Existenz eines zentralisierten und hierarchisch aufgebauten Staatsapparates mit hauptamtlichen Funktionären, stehendem Heer und zentralisierter Polizei. Die Machtzentrale ist das Politbüro, eine Art kollektiver Despot (nach Stalins Tod), welches weder von der Bevölkerung, noch von der Masse der Parteimitglieder gewählt, kontrolliert und abgesetzt werden kann. Bürgerliche Rechte und Freiheiten existieren nicht. Es gibt einen Absolutheitsanspruch des »Marxismus-Leninismus« (bzw. was man dort daraus gemacht hat) mit der ständigen Tendenz zur Inquisition.

Die Klassenspaltung der Gesellschaft, letztlich durch die Arbeitsteilung verursacht, wurde nicht überwunden. Während die unmittelbaren Produzenten von wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Macht ferngehalten werden und unter Bedingungen produzieren, die denen im Kapitalismus sehr ähnlich sind, bilden die Funktionäre der Partei-, Staats- und Wirtschaftsbürokratie eine pyramidenförmig aufgebaute, herrschende und privilegierte Kaste, die der Masse des Volkes tendenziell antagonistisch gegenübersteht und wie jede andere herrschende Klasse oder Schicht in Vergangenheit und Gegenwart zuallererst das Interesse hat, sich selbst ständig zu reproduzieren und keine Entwicklung zuzulassen, in der ihre Macht und ihre Privilegien eingeschränkt oder gar ihre ganze Existenz in Frage gestellt wird.

Die ursprüngliche Motivation, mit der die Bolschewiki einst angetreten sind, ist aber nicht vollständig verschwunden. Mit dem Kommunismus passierte etwas ähnliches wie mit dem Christentum. Er wurde zu einer säkularen, atheistischen Religion und die kommunistische Bewegung wurde zu einer Kirche. An ihrer Spitze stand Josef Stalin, eine Art säkularer Gott: »Vater aller Werktätigen«, »Genius der Menschheit«, usw. Heute streiten die Führer in Moskau und Peking, wie früher die römischen und griechischen Päpste, um den Besitz der wahren Lehre.

In einer Kirche haben die unterschiedlichsten Leute Platz: Der Groß-Inquisator und der selbstlosen Missionar, der aufrechte Kommunist und der aalglatte Karrierist, die hilfsbereite Genossin und der Folterknecht der Geheimpolizei. Häufig geht die Trennung auch mitten durch den einzelnen Menschen hindurch.

Nur wenn man versteht, dass der Kommunismus für viele seiner Anhänger, psychologisch gesehen, eine Religionsfunktion hat, kann man verstehen, warum so viele intelligente und fortschrittliche Menschen den Personenkult um Stalin mitgemacht haben, warum sie den »Geständnissen« in den diversen Prozessen Glauben schenken konnten, warum sich viele bis heute weigern, die Differenz, die Kluft, den Abgrund zwischen den Visionen der Klassiker des Marxismus und den Zuständen im »realexistierenden Sozialismus« zu sehen.


»Wenn Finnland, wenn Polen, wenn die Ukraine sich von Russland lostrennen, so ist daran nichts schlimmes ... Wer das sagt, ist ein Chauvinist. Man muss den Verstand verloren haben, will man die Politik des Zaren Nikolaus fortsetzen ... Ein Volk, das selbst andere Völker unterdrückt, kann nicht frei sein.«  [4] Lenin 1917




1.2. DIE AUSSENPOLITIK DER SOWJETUNION

Da die Sowjetunion kein sozialistisches Land ist, macht sie natürlich auch keine sozialistische Außenpolitik.

Die Außenpolitik der Sowjetunion ist eine ganz gewöhnliche Großmachtpolitik, in der eine imperialistisch-expansionistische Macht, verstrickt in die alte Logik von Geheimdiplomatie, Aufrüstung und Intervention, ihre Einflusssphären in der Welt zu vergrößern sucht und bei der Verfolgung dieses Zieles vor keiner Heuchelei und vor keinem Verbrechen zurückschreckt.

Der sowjetische Expansionismus hat meiner Einschätzung nach im wesentlichen drei Ursachen:

1. Eine Sicherheitspolitische: Die Sowjetunion ist bemüht, militärstrategisch wichtige Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen oder zumindest dem Gegner zu entziehen. Sie ist deshalb bemüht, dass eigene Gebiet mit einer Kette von Satellitenstaaten oder zumindest neutralen Staaten zu umgeben und im Rahmen einer globalen Sicherheitspolitik überall auf der Erde Stützpunkte zu errichten.

2. Eine Ideologische: Die Sowjets betrachten ihr Gesellschaftssystem als das (jedenfalls zur Zeit) bestmögliche. Sie sind deshalb bemüht, überall auf der Welt Systeme zu schaffen, die ihrem gleich oder zumindest doch sehr ähnlich sind. Mit proletarischem Internationalismus und Weltrevolution hat dies aber überhaupt nichts zu tun.

3. Eine Großrussisch-Chauvinistische: Die Sowjetunion steht trotz aller Veränderungen in der Tradition des Russischen Reiches. Die sowjetische Außenpolitik (besonders die der Stalinzeit) ist auch eine Fortsetzung der Außenpolitik des zaristischen Russlands.

Da die Sowjetunion keine kapitalistische Wirtschaftsordnung hat, gibt es keine wirtschaftlichen Gründe für den Expansionismus. Häufig muss die Sowjetunion in ihre »Außenposten« wesentlich mehr Geld reinstecken, als sie auf anderem Wege wieder rausholen kann (z. B. Kuba und Vietnam). Dies war allerdings, wie noch zu sehen sein wird, in den osteuropäischen Länder nach Ende des 2. Weltkrieges anders.

Aber auch in der Außenpolitik sind die alten Ideale nicht völlig verschwunden. Die Konstellation der Weltlage macht es oft möglich, Machtstreben und alte Ideale zu verbinden. Denn im gegnerischen Machtblock befinden sich die alten Kolonialmächte, die häufig ihre Kolonien nicht freiwillig aufgaben. Dazu kommt, dass viele kapitalistische Länder bis heute eine neokolonialistische Politik betreiben und oft eine Art höheren Eigentumsrecht an den Bodenschätzen der 3. Welt beanspruchen.

Für viele Befreiungsbewegungen in der 3. Welt ist die Existenz der Sowjetunion eine positive Sache. Bis zum heutigen Tag kämpfen viele Menschen mit sowjetischen Waffen gegen Kolonialherren und vom Westen ausgehaltene Militärdiktaturen.

Wenn aber Machtstreben und alte Ideale in Widerspruch geraten, dann setzt sich unweigerlich das Machtstreben gegen die alten Ideale durch. Welche fortschrittliche Bedeutung soll es z. B. gehabt haben, einen primitiven Diktator wie Idi Amin mit Waffen zu versorgen oder einen quasi faschistischen Herrscher wie den Schah von Persien mit Orden zu überhäufen? Aber auch das rechtfertigt man. Da alles, was den Einfluss der Sowjetunion in der Welt vergrößert, letztlich dem Sozialismus dient, ist bei der Verfolgung dieses Zieles auch jede »List« erlaubt.

Die sowjetische Politik des Expansionismus und des Exports ihres Gesellschaftssystems hat ihre frühen Vorläufer zu Beginn der 20er Jahre, als in den kurzzeitig autonomen Staaten Armenien, Aserbaitschan und Georgien mit militärischer Gewalt die sowjetischen Verhältnisse eingeführt wurden. [5] Legitime Sicherheitsinteressen spielten auch damals schon eine Rolle und machten es der Sowjetunion leicht, ihr Vorgehen zu rechtfertigen.

Nach der Ermordung der alten Garde der Bolschewiki Ende der 30er Jahre, die Ausdruck der endgültigen Durchsetzung der stalinistischen Despotie war [6], und nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der begleitet war von Geheimverträgen über die Aufteilung Osteuropas in deutsche und sowjetische Interessenssphären, konnte sich die sowjetische Expansionspolitik voll entfalten. Die Sowjetunion verleibte ihrem Staatsgebiet ein: Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, Ostpolen, Teile Rumäniens und Teile Finnlands. [7]

Nach dem 2. Weltkrieg, aus dem die Sowjetunion als Weltmacht hervorging, dehnte sich ihr Einfluss bis nach Mittel- und Südosteuropa aus.

Die Sowjetunion hat viele Länder vom Faschismus befreit, aber diese Befreiung war verbunden mit einer erneuten Unterdrückung. Mit Hilfe der einheimischen stalinistischen KP, die nur einen Teil der Bevölkerung repräsentierten, begann die Sowjetunion gleich nach Besetzung der osteuropäischen Länder langsam, vorsichtig aber zielstrebig die sowjetischen Verhältnisse einzuführen, ohne auf den demokratischen Willen der dort lebenden Menschen Rücksicht zu nehmen. Die zunehmend aggressive Haltung des Westens machte es der Sowjetunion dann wiederum leicht, ihr Vorgehen zu rechtfertigen.

Das sowjetische System mag für Länder mit sehr niedrigem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und fehlenden demokratischen Traditionen eine zeitweilige Berechtigung haben als eine Art Entwicklungsdiktatur. Aber für Länder mit bürgerlich-demokratischen Traditionen ist es absolut reaktionär! Die Einführung des sowjetischen Systems in den Ländern Osteuropas über die Köpfe der dort lebenden Menschen hinweg und unter Missachtung der in diesen Ländern vorhandenen Kultur führte dazu, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern bis zum heutigen Tag nicht mit dem System identifiziert. Ohne sowjetischen Druck könnte sich dieses System nicht halten. Das ist der Grund dafür, dass sich die Sowjetunion mehrfach gezwungen sah, militärisch zu intervenieren.


2. TEIL – UNGARN NACH DEM 2. WELTKRIEG

Der ungarische Volksaufstand hatte neben seinen unmittelbaren Anlässen eine Reihe von tieferliegenden Ursachen, die im II. Teil dieses Referats untersucht werden sollen.

Einige Sätze zur Vorgeschichte: Ungarn war im 19. Jahrhundert Teil des Habsburger Reiches (Österreich-Ungarn). 1848 gab es schon mal einen Aufstand der Ungarn unter Führung von Lajos Kossuth, um sich von der österreichischen Fremdherrschaft zu befreien. Der Aufstand wurde mit Hilfe eines russischen Leibeigenenheeres niedergeschlagen. Nach dem 1. Weltkrieg brach das Habsburger Reich auseinander und Ungarn wurde ein selbständiger Staat. 1919 existierte für wenige Monate eine ungarische Räterepublik. Nach deren Niederschlagung errichtete der ehemalige Admiral der österreichisch-ungarischen Flotte, Miklós Horthy, eine halbfaschistische Diktatur. 1941 beteiligte sich Ungarn an der Seite Hitlerdeutschlands am Krieg gegen die Sowjetunion. Nach Geheimverhandlungen der ungarischen Regierung mit den Westmächten besetzten 1944 deutsche Truppen Ungarn, die kurz darauf von sowjetischen Truppen wieder vertrieben wurden. Hinter den sowjetischen Panzern kamen (wie in Ostdeutschland die Gruppe Ulbricht [8]) ungarische Stalinisten ins Land, die unter der Führung des etwas später eintreffenden Stalinvertrauten Mátyás Rákosi standen.




»Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird.« [9]   Rosa Luxemburg 1918




2.1. DIE SOWJETISIERUNG UNGARNS

Die Hebel bei der Sowjetisierung waren: die Besatzungsarmee, ein unzerreißbares Netz von sowjetischen »Beratern«, die in alle Ressorts der Innen- und Außenpolitik eindrangen, die Abhängigkeit Ungarns von der sowjetischen Wirtschaft, die Drohungen mit Demontage und die Forderung nach Reparationen.

Dies alles führte dazu, dass auch nichtkommunistische Politiker häufig bereit waren, auf sowjetische Forderungen in wirtschaftlichen und politischen Fragen einzugehen.

Ein weiteres Mittel waren von der KP organisierte Demonstrationen, in denen sich angeblich »der Wille der Massen« ausdrückte. Selbstredend wurden von der Besatzungsmacht nur solche Demonstrationen zugelassen. Als die KP ersteinmal das Innenministerium erobert hatte, wurde die Sicherheitspolizei AVH das wichtigste Mittel der Sowjetisierung. Die Gutgläubigkeit vieler Sozialdemokraten und Mitgliedern der Bauernpartei taten ihr übriges.

Die erste Regierung, die am 22. Dezember 1944 in den von deutschen Truppen befreiten Gebieten installiert wurde, war noch eine echte Koalition aller politischer Kräfte mit Ausnahme der mit den deutschen Faschisten zusammenarbeitenden »Pfeilkreuzern«.

Generäle der Horthy-Armee (von den Sowjets zum Ministerpräsidenten gemacht!), Kommunisten (Imre Nagy als Landwirtschaftsminister), Sozialdemokraten und Mitglieder der Bauernpartei. Und dann begann das, was Rákosi später mal als »Salami-Taktik« bezeichnen sollte.

Das erste Ziel war die Bauernpartei, denn sie war aus der ersten Wahl mit 56% der Stimmen als stärkste Partei hervorgegangen. Die KP bekam lediglich 17%, die Sozialdemokratische Partei ebenfalls 17%. (Fryer, 36) Der Form halber musste ein Mitglied der Bauernpartei Ministerpräsident werden, aber Rákosi wurde bereits stellvertretender Ministerpräsident. (Den gleichen Posten hatte Walter Ulbricht in Ostdeutschland, obwohl er von Anfang an der wirkliche Chef war.)

Im März 1946 forderte László Rajk, einer der führenden Kommunisten, unterstützt durch Demonstrationen, dass Innenministerium für die KP, was sie auch bekam.

Im gleichen Monat forderte eine Massendemonstration die Säuberung der Bauernpartei von reaktionären Elementen (die es dort zweifellos gab).

Im Juli 1946 löste Rajk als Innenminister über tausend Organisationen auf. Im Januar 1947 gab es die erste »Verschwörung«. Im weiteren Verlauf wurden »Verschwörungen« zur Mode. Sie wurden immer im letzten Augenblick von der KP aufgedeckt und »die Massen« forderten dann die exemplarische Bestrafung der Schuldigen. Ob es echte Verschwörungen gegen die Kommunisten gegeben hat, ist zweifelhaft. Sie hätten auf grund der sowjetischen Besatzungsmacht sowieso keine Chancen gehabt. Sicherlich waren die meisten »Verschwörungen« Erfindungen, um Vorwände für Säuberungen zu haben.

Im Laufe des Jahres 1947 wurde die Bauernpartei durch die vielen Säuberungen und Verhaftungen praktisch ausgeschaltet. Sie wurde zu einer Attrappe, zu einer Blockpartei, wie wir sie noch heute in Osteuropa beobachten können. So wurde z. B. der Vorsitzende der Bauernpartei, Béla Kovacs, nach Sibirien deportiert. Der Ministerpräsident und Mitglied der Bauernpartei Ferenc Nagy blieb nach einem Auslandsaufenthalt in der Schweiz, da in seiner Abwesenheit gerade mal wieder eine »Verschwörung« aufgedeckt worden war, in die er verwickelt gewesen sein sollte.

Der nächste Kampf galt der Sozialdemokratischen Partei. Im November 1946 wurde eine »Verschwörung« aufgedeckt, deren Haupt der jahrzehntelange Führer der Sozialdemokratischen Partei Ungarns, Karoly Peyer, gewesen sein sollte. Er konnte ins Ausland entkommen. Nach der inzwischen bekannten Methode wurde nun die Sozialdemokratische Partei scheibchenweise zerstört. Zuerst wurde sie unterwandert, dann wurde gesäubert und verhaftet, was übrig blieb, wurde mit der KP zur Einheitspartei vereinigt, und in dieser Einheitspartei wurde dann sofort der Kampf gegen den »Sozialdemokratismus« aufgenommen. Zuerst wurden die Sozialdemokraten ins Gefängnis geworfen, die gegen den Zusammenschluss mit der KP waren (z. B. Anna Kéthly und Antal Ban) und etwas später dann die Sozialdemokraten, die für den Zusammenschluss waren (z. B. Arpat Szakasits und György Marosán).

Es war (wie in Ostdeutschland) ein kaltes Verbot der Sozialdemokratischen Partei und eine Fortexistenz der Kommunistischen Partei unter anderem Namen. Man sprach auch innerhalb der Partei mit Selbstverständlichkeit von einer Kommunistischen Partei und nicht etwa von einer Einheitspartei aus Sozialdemokraten und Kommunisten. (Gosztony, 49)

Ende 1948 waren alle Führer der Oppositions- und Koalitionsparteien entweder verhaftet oder ins Ausland geflohen. Nun wurden noch die Kirchen ausgeschaltet. Viele Vertreter der verschiedenen Konfessionen wurden verhaftet (z. B. Kardinal Mindszenty) und die kirchlichen Schulen wurden verstaatlicht. Nun war das sowjetische System auf politisch-ideologischer Ebene vollständig kopiert: Führende Rolle der Partei, »Wahl« nach Einheitslisten, keine persönlichen und politischen Rechte und Freiheiten mehr etc.

Rákosi hat später in einer Rede an der Parteiakademie (1952) den Prozess der Sowjetisierung sehr offen beschrieben. Diese Rede ist als »Salami-Rede« in die Geschichte eingegangen. [10] Sie ist eine bemerkenswerte Abhandlung über die Frage, wie man zu einer Zeit, in der das Volk noch nicht »reif« ist, eine Revolution von oben machen kann. Dafür benötigt man nicht Rückhalt bei den Massen, sondern die Kontrolle des Staatsapparats, die unbegrenzte Fähigkeit zu lügen und zu intrigieren und genügend sowjetische Panzer im Hintergrund.

Rákosi gab in dieser Rede zu, dass die KP im Jahre 1945 selbst innerhalb der Arbeiterklasse nicht über die Mehrheit verfügte und sagte im Zusammenhang mit der »Diktatur des Proletariats« (womit Stalinisten die Diktatur des stalinistischen Parteiapparats meinen): »Wir stellten sie nicht öffentlich in der Partei zur Diskussion, weil selbst die theoretische Erörterung der Diktatur des Proletariats als unser Ziel unter unseren Koalitionspartnern eine Panik ausgelöst und unsere Bemühungen, nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch die Mehrheit der Arbeitermassen für uns zu gewinnen, bedeutend erschwert hätte.« (Fryer, 36)

Über die Situation nach den ersten Wahlen sagte Rákosi: »Unsere Partei nutzte das Wahlergebnis, um ihre Position weiter zu stärken. Deshalb forderte sie den Posten des stellvertretenden Ministerpräsidenten und des Innenministers, den sie nach einigem Zögern auch erhielt.« (Fryer, 36) Wer das Innenministerium hat, kontrolliert den Staatsapparat, besonders wichtig, kontrolliert den Sicherheitsdienst. Rákosi: »Eine Position gab es, deren Kontrolle unsere Partei von der ersten Minute an beanspruchte und wo sie nicht bereit war, irgendeine Verteilung der Posten nach der Stärke der Koalitionsparteien zu erwägen – und das war der staatliche Sicherheitsdienst ... Dieses Organ behielten wir vom ersten Tage ihres Bestehens an in unserer Hand.« (Fryer, 37)

Über das Vorgehen gegen die Bauernpartei sagte Rákosi: »Damals nannte man das ›Salami-Taktik‹, durch die wir von der in der Kleinlandwirte Partei verborgenen Reaktion Tag für Tag eine Scheibe abschnitten ... wir brachten die Kraft des Feindes zum Verschwinden.« (Fryer, 37)

Der Zusammenschluss der KP und der Sozialdemokratischen Partei war nach Rákosis Worten der »Sieg der Kommunisten und die völlige Niederlage der Sozialdemokratischen Partei.« (Fryer, 37)

Nachdem alle Opposition und potentielle Opposition gegen die KP ausgeschaltet war, wandte sich Rákosi, getreu seinem Meister Stalin, gegen die Kommunistische Partei selbst. Viele Parteimitglieder wurden als »Titoisten« [11] verfolgt, verhaftet, gefoltert und ermordet.

Rákosis potentieller Hauptkonkurrent in der KP war der jahrelange Innenminister László Rajk. Er wurde von dem Sicherheitsdienst, den er selbst aufgebaut hatte, verhaftet und gefoltert. Dann sagte man zu ihm ungefähr folgendes: »Die Partei weiß, dass du unschuldig bist. Aber sie braucht dein Geständnis für den Kampf gegen Tito. Wenn du ein Geständnis ablegst, wirst du, obwohl offiziell tot, in der Sowjetunion unter anderem Namen weiterleben.« (Kopacsi, 37ff) Daraufhin »gestand« Rajk, jahrzehntelang ein Spitzel der Horthy-Polizei und ein Agent diverser westlicher Geheimdienste zu sein. Danach wurde er, nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich, hingerichtet.

Das Ergebnis der Sowjetisierung war auf politischem Gebiet das Verschwinden jeglicher Demokratie und Freiheit, selbst für die ungarischen Kommunisten, und die Unterwerfung des ungarischen Volkes unter die Diktatur Rákosis, dem Statthalter Stalins.



»Akkordarbeit ist ein revolutionäres System, welches die Faulheit vermindert und dazu führt, dass der Arbeiter sich anstrengt. Unter dem kapitalistischen System hat sich Faulheit ausgebreitet. Aber nun hat jeder die Chance, härter zu arbeiten und mehr zu verdienen.« [12]   Scanteia, rumänische KP-Zeitung 1949
»Fließbandarbeit ist auch der Gesundheit zuträglich. Fließband heißt Rhythmus, und Rhythmus ist dem gesamten Organismus eigen.« [13]   DDR-Zeitschrift Die Wirtschaft 1975




2.2. DIE WIRTSCHAFTLICHE LAGE UNGARNS

Der wirtschaftliche Neubeginn zeitigte am Anfang Erfolge. Man kam aus dem Tiefstand von 1945 heraus und 1949 betrug das Nationaleinkommen 10% mehr als 1938. (Mikes, 54) Aber in dem Maße, wie die Sowjetisierung der Wirtschaft voranschritt, verschlechterten sich die Verhältnisse.

Sowjetisierung in der Wirtschaft bedeutete Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, Verstaatlichung der Industrie und der Banken und verstärkter Aufbau der Schwerindustrie, bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie.

Die Freude der Bauern über die Landverteilung, die 1944/45 eingesetzt hatte, dauerte nicht lange an. Mit dem Jahre 1948 begann die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Da viele Bauern die Kollektivierung ablehnten, ging die landwirtschaftliche Produktivität immer stärker zurück und die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung verschlechterte sich. Selbst der stellvertretende Ministerpräsident Revai gab zu, dass die Bauern so ausgepresst würden, dass sie kaum genug zum Leben hätten. (Mikes, 56 und Gosztony, 34ff)

Die Arbeiter, denen offiziell die Fabriken und die Macht im Staat gehörten, wurden in einer Weise ausgeplündert und zur Arbeit angetrieben, die ihre Parallelen nur in frühkapitalistischer Menschenschinderei findet. Alles was der Steigerung der Produktion diente, war gut, was ihr schadete, schlecht. Wie schon einige Jahrzehnte früher in der Sowjetunion konnte man nun beobachten, wie die von den Kommunisten im Kapitalismus verurteilten Arbeitsmethoden wie Akkord oder Taylorismus, plötzlich zu revolutionären Errungenschaften zur Steigerung der Produktion wurden.

Durch die Einführung der Norm und ihre ständige Heraufsetzung (d. h. die Arbeiter mussten in immer kürzeren Intervallen eine immer größere Menge produzieren) verringerte sich der Lohn der Arbeiter. Durch diese Maßnahmen stieg zwar die Quantität der Produktion, die Qualität rutschte jedoch herab.

Ein weiteres Mittel den Arbeitern ihren elenden Lohn noch weiter zu kürzen, waren die »freiwilligen« Friedensanleihen, die ca. 12% des Lohnes ausmachten. Wer sie nicht zeichnen wollte, war ein »reaktionäres Element« und das trauten sich nur wenige zu riskieren.

Last not least gab es noch die »freiwilligen« Sonderschichten zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen, wie z. B. zu Stalins Geburtstag oder zum zehnten Jahrestag der Entlassung Rákosis aus dem Gefängnis.

Die Arbeiter besaßen keine selbständigen Organisationen um sich gegen diese Methoden zu wehren. Die Gewerkschaften waren zu Instrumenten des Staates und der Parteibürokratie geworden und darüber hinaus verhinderte die Einschüchterung durch die AVH jeden Protest. Der Lebensstandart der ungarischen Arbeiter war 1956 niedriger als 1938. (Gosztony, 53 + 68)

Wenn diese Ausplünderung der Arbeiter und Bauern wenigstens zu einer raschen Entwicklung der Produktivkräfte geführt hätte, wäre sie – wenn sie auch mit Sozialismus nicht das Geringste zu tun hatte – im Rahmen einer marxistischen Denkweise gerechtfertigt gewesen. Auch Marx hatte die frühkapitalistische Menschenschinderei als notwendige Durchgangsphase zu einer kommunistischen Gesellschaft angesehen. [14]

Aber auf dem Gebiet der Industrie herrschte völliges Chaos. Einsame Beschlüsse Rákosis und seiner engsten Clique waren unantastbar. Zwei Beispiele: Die Ölfelder von Lengyeltot wurden, entgegen den Ratschlägen von Fachleuten, mit einer Geschwindigkeit ausgebeutet, die zu Überschwemmungen führte. Hierdurch sank die Ölförderung gewaltig. In Dunapentele (Sztalinvaros/Stalinstadt) wurde ein Zentrum der Schwerindustrie hochgezogen, obwohl es in dieser Gegend weder Kohle noch Erz gab. Diese Rohstoffe mussten deshalb von weit her herbeigeschafft werden, was zur Folge hatte, dass mit hohen Verlusten gearbeitet wurde. (Mikes, 60ff. Dort sind noch weitere Beispiele der Misswirtschaft aufgeführt.)

Aber wehe, wenn einer auf diese Missstände hinwies. Dann war er ein reaktionäres Element. Die Schuld an all diesen Missständen hatten nämlich ausschließlich die westlichen Imperialisten und ihre Agenten in Ungarn. (So wie heute die westlichen Imperialisten an der Gewerkschaftsbewegung »Solidarnost« in Polen Schuld sind.)

Der Exporthandel blühte auf dem Papier, wurde aber in Wirklichkeit mit hohen Verlusten betrieben. Jedes Unternehmen musste sein Exportziel erfüllen. So kam es, dass viele aus Angst vor Strafe ihre Waren zu Schleuderpreisen, weit unter den Entstehungskosten, verkauften. Sie trieben Sabotage um nicht der Sabotage angeklagt zu werden. (Mikes, 61)


»... weil nichts die Entwicklung und Festigung der proletarischen Klassensolidarität so sehr hemmt wie die nationale Ungerechtigkeit und weil die ›gekränkten‹ nationalen Minderheiten für nichts ein so feines Gefühl haben wie für die Gleichheit und für die Verletzung dieser Gleichheit ... ist in diesem Falle ein Zuviel an Entgegenkommen und Nachgiebigkeit gegenüber den nationalen Minderheiten besser als ein Zuwenig.« [15]   Lenin 1922



2.3. DAS VERHÄLTNIS DER UNGARN ZU DEN RUSSEN

Nach dem 1. Weltkrieg war Sowjetrussland gegen Reparationszahlungen. Unter solchen Zahlungen habe nur die Arbeiterklasse der besiegten Länder zu leiden. Für Stalin galten solche Einsichten nicht. Von Ungarn forderte er 200 Millionen Dollar Reparationen. Für ca. 124 Millionen Dollar wurden Maschinen demontiert. Die Kosten für Besatzung und Reparationen betrugen im Jahre 1946 30% des ungarischen Nationaleinkommens.

Die Sowjets beschlagnahmten einen großen Teil der Lebensmittelproduktion. Die Tagesrationen der Ungarn lagen damals bei 850 Kalorien! (Niedriger als in Deutschland.) Als es im Jahre 1948 beinahe zu Hungerrevolten gekommen war, wurden die Belastungen herabgesetzt. (Alle Zahlen aus Anderson, 41ff)

Die Sowjetunion zwang alle ihre Satellitenstaaten dazu, unter Weltmarktpreisen an sie zu verkaufen und über Weltmarktpreisen bei ihr einzukaufen. So bezog Ungarn z. B. sowjetische Autos für die Armee, obwohl deutsche Mercedeswagen halb so teuer und wesentlich besser waren. (Gosztony, 53. Beispiel auch aus anderen Satellitenstaaten bei Anderson, 46f.)

Ein weiterer Trick der Sowjets war es, eine unerreichbar hohe Qualität der Produkte zu verlangen und wenn diese nicht erfüllt wurde, konnten die Sowjets die Waren zu einem Bruchteil ihres Wertes kaufen. Oder es wurde ein unerreichbarer Ablieferungstermin vereinbart und wenn die Ungarn diesen nicht einhielten, mussten sie hohe Vertragsstrafen zahlen. Schiedsrichter in einem Streit waren natürlich nur die Sowjets.

Die Sowjetunion beschlagnahmte das in Ungarn reichlich vorhandene deutsche Kapital. Die entsprechenden Betriebe wurden in Aktiengesellschaften umgewandelt, die zum Teil den Sowjets und zum Teil den Ungarn gehörten. Auf diese Weise strichen die Sowjets einen Teil des Profits ein wie ein ganz gewöhnlicher Kapitalist. (Mikes, 59f)

Die ungarischen Uranvorkommen wurden von der Sowjetunion ausgebeutet und die Ungarn wurden über diese Vorkommen und den Handel damit in vollkommener Unwissenheit gehalten. (Gosztony. 47f + 53)

Doch es war nicht nur die wirtschaftliche Ausbeutung Ungarns durch die Sowjetunion, die das Verhältnis zwischen den Ungarn und den Sowjets, speziell den Russen, vergiftete.

Es begann in den ersten Wochen der sowjetischen Besetzung mit den wahllosen Schießereien, Plünderungen und Vergewaltigungen von Teilen der sowjetischen Truppen. Vielleicht hätten die Ungarn diese Ereignisse als bedauerliche Exzesse des Krieges, wenn schon nicht gebilligt, so doch verstanden, und mit der Zeit verziehen. Aber es durfte nicht darüber gesprochen werden. Für die Sowjets und die ungarische KP gab es keine bedauerlichen Exzesse. Es gab nur Gerüchte, die von reaktionären Elementen verbreitet wurden. Und gerade dieses, dass die Menschen gegen den eigenen Augenschein Tatsachen verleugnen mussten, hat das Klima von Anfang an verdorben. In vielen Berichten bestätigten Ungarn, die später in den Westen flohen, dass der Keim des Hasses damals gelegt wurde. (Mikes, 35)

Ein anderer Punkt, der das Verhältnis zwischen Ungarn und Russen verdarb, war die erzwungene Lobpreisung alles russischen bzw. sowjetischen, die blinde Nachahmung all dessen, was in der Sowjetunion gemacht wurde in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst.

Alle Künstler waren gezwungen, genau nach den von dem »Koriphen der Künste«, dem Genossen Stalin, festgelegten Grundsätzen des sozialistischen Realismus zu malen, zu schreiben und zu komponieren.

Wenn sich Genosse Stalin, der »Genius der Menschheit«, zu »Marxismus in den Sprachwissenschaften« äußerte, dann mussten nicht nur die ungarischen Philologen eine Kongress zu diesem unsterblichen Beitrag zum Marxismus-Leninismus abhalten, nein, auch die Historiker, Wirtschaftswissenschaftler, Mathematiker und Geologen mussten zusammenkommen.

Wehe dem ungarischen Biologen, der etwas an Herrn Lysenko auszusetzen hatte [16] oder dem Polizisten, der nicht in genügendem Maße die Ergebnisse der ruhmreichen sowjetischen Kriminologie studierte.

Durchaus bedeutende aber doch zweitrangige russische Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts wurden den hervorragenden Vertretern der klassischen deutschen Philosophie, des französischen Sozialismus und der englischen Ökonomie gleichgestellt, nur damit auch die Russen etwas vorweisen konnten und wehe dem Lehrer oder Professor, der sie nicht genügend berücksichtigte.

Die ungarische Armee musste ihre Uniformen am russischen Vorbild orientieren, was viele Offiziere und Soldaten in ihrem Nationalgefühl verletzte.

Genau der großrussische Chauvinismus, vor dem Lenin Zeit seines Lebens gewarnt hatte, feierte fröhliche Urstände.


»Ist nämlich die Sexualität durch den Prozess der Sexualverdrängung aus dem naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus.« [17] Wilhelm Reich 1933




2.4. DER TERROR DER AVH

Kurz nach Ende des Krieges kamen bereits die ersten Spezialisten des sowjetischen Geheimdienstes NKWD um den ungarischen Sicherheitsdienst zu reorganisieren. Die AVH wurde gegründet, nachdem Rajk das Innenministerium übernommen hatte.

Zuerst wurde diese Geheimpolizei gegen die Bauernpartei eingesetzt, dann gegen Sozialdemokraten, aber ab 1949, mit dem Beginn der »titoistischen Säuberungen«, verstärkt gegen Kommunisten. In der Zeit zwischen 1951 und 53 gab es fast keinen Kommunisten mehr, der nicht wenigstens für kurze Zeit im Gefängnis war. Viele alte Kommunisten berichteten in der Zeit der Diskussionen im Petöfi-Kreis, dass sie in den faschistischen Horthy-Gefängnissen nicht so schlimm behandelt worden seien, wie in den AVH-Kerkern. (Gosztony, 42ff)

Einige der Foltermethoden, von denen Opfer und Augenzeugen berichteten: Hemmungslose Prügeleien und ausgeschlagene Zähne waren die leichtesten Übungen. Dort wurden Zigarettenkippen in Gesichtern ausgedrückt, Geschlechtsteile angenagelt und gepeitscht. Dort gab es Instrumente zur Zerquetschung von Gliedmaßen und Krematorien und Säurebäder zur Beseitigung allzuentstellter Leichen. (Mikes, 124ff und Fryer, 41ff)

Vladimir Farkas, Sohn des Verteidigungsministers und Rákosivertrauten Mihaly Farkas, war einer der Hauptinquisitoren. Er hatte die Angewohnheit, seinen Opfern während der Verhöre in den Mund zu urinieren.

Es ist bekannt, dass auch der heutige Parteichef Jonos Kadar dieser Totour unterzogen wurde. An ihm kann man noch heute die Spuren der AVH sehen: Narben im Gesicht und ausgerissene Fingernägel.

Diese schrecklichen Dinge muss man sich vor Augen halten, wenn man verstehen will, warum in den Tagen des Aufstandes AVH-Leute, wenn sie in den Straßen Budapests von der Bevölkerung erkannt wurden, häufig mit dem Kopf nach unten an den nächsten Laternenpfahl gehängt und totgeschlagen wurden.

Diese Unmenschen, die sich selbst »die Sperspitze der Arbeiterklasse« nannten, waren darüber hinaus reichlich privilegiert. Der Durchschnittslohn eines Arbeiters lag 1956 bei 800–1.000 Forint. AVH-Leute bekamen als Manschaftsgrad 3.000–4.000, Offiziere 9.000–16.000 Forint. Die AVH-Offiziere bewohnten die feinsten Villen Budapests. Sie waren die Kettenhunde Rákosis, der mit ihrer Hilfe seine Diktatur aufrecht erhielt und sie dafür entsprechend belohnte. (Zahlen nach Fryer, 43 und Mikes, 122)


3. TEIL – DER AUFSTAND


»Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein. Bis dahin wird am Vorabend jeder allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft das letzte Wort der sozialen Wissenschaft stets lauten: ›Kampf oder Tod; blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt.‹« [18]   Karl Marx 1847




3.1. DIE ENTWICKLUNG ZUM AUFSTAND

Nach Stalins Tod liberalisierte sich das System etwas. Der irrationale Terror, selbst gegen Personen, die hinter dem System standen, hörte auf.

Im Juni 1953 reiste eine ungarische Regierungsdelegation nach Moskau. [19] Dort wurde Rákosi gezwungen, sein Amt als Ministerpräsident an Imre Nagy abzutreten. Er blieb aber Parteivorsitzender. Anstelle der Diktatur eines einzelnen sollte wieder die kollektive Führung treten.

Nagy verkündete ein Reformprogramm (Kopacsi, 69f + Mikes, 66f), das von den Ungarn mit großen Hoffnungen verbunden wurde. Nach und nach wurden nun auch in Ungarn Kommunisten rehabilitiert, die während der Stalinzeit als Titoisten u. ä. eingesperrt worden waren, aber das Glück hatten, dies zu überleben. Unter ihnen war auch Jonos Kadar.

Aber Nagy hatte nicht die notwendige Macht um seine Vorstellungen durchzusetzen, die übrigens weit hinter dem standen, was er während des Aufstandes gezwungen war zu tun. Die alten Stalinisten blieben in Amt und Würden und intrigierten gegen Nagy wo sie konnten. Sie warteten nur auf die Gelegenheit ihn loszuwerden.

Diese Gelegenheit bot sich im Frühjahr 1955. Die internationale Lage verschärfte sich (Pariser Verträge, Einbeziehung Westdeutschlands in die NATO) und die sowjetischen Führer wollten sich in dieser Situation nicht mit Reformen des Systems belasten. Sie duldeten, dass Nagy rechter Abweichungen beschuldigt und aus der KP ausgeschlossen wurde. [20] Die Absetzung Nagys zerstörte bei vielen Ungarn die Hoffnung auf eine friedliche Liberalisierung.

Der XX. Parteitag mit der Zerstörung des Stalin-Mythos führte auch in Ungarn zu einer verstärkten Kritik an den alten Stalinisten. Deutlichster Ausdruck war die Entstehung des Petöfi-Kreises. In diesem Diskussionszirkel, bestehend vorwiegend aus kommunistischen Studenten und Schriftstellern, traten immer häufiger alte Kommunisten auf und berichteten, wie sie von der AVH verfolgt und unterdrückt worden waren. Immer lauter wurde der Ruf nach Absetzung der alten Stalinisten und nach der Wiedereinsetzung Nagys als Ministerpräsidenten.

Im Juni 1956 wollte Rákosi der wachsenden Kritik mit der alten Methode der Massenverhaftungen entgegentreten. Einige Parteiführer fanden dies jedoch nicht mehr zeitgemäß und unterrichteten das sowjetische Politbüro. Mikojan, damals einer der mächtigsten Männer der Sowjetunion, kam nach Budapest und »riet« den ungarischen Parteiführern, Rákosi abzusetzen. (Kopacsi, 94ff + Gosztony, 58ff) Sein Nachfolger als Parteivorsitzender wurde aber der Rákosivertraute Ernö Gerö, ebenfalls ein unbelehrbarer Stalinist. Er verzichtete zwar auf die Massenverhaftungen, setzte aber ansonsten die Politik Rákosis fort. Er war unfähig zu erkennen, was sich in Ungarn zusammenbraute.

Ab Juni 1956 kam es in Polen zu Streiks und Demonstrationen. Sie wurden von der polnischen Armee und Polizei unterdrückt. Obwohl offiziell erklärt wurde, die Unruhen seien das Werk westlicher Geheimagenten, waren sich die polnischen Führer durchaus über die wirklichen Ursachen im klaren. Die Unruhen entzündeten sich im Zusammenhang mit Lohnsenkungen, die durch Normenerhöhungen verursacht waren (wie 1953 in der DDR).

Die polnische Führung versuchte der Lage im wesentlichen durch Zugeständnisse an die Arbeiter Herr zu werden. Die Streikenden wurden (für sowjetische Verhältnisse) mit Milde behandelt. Auch die Führungsspitze der Partei wurde verändert. Der »Titoist« Gomulka, 1951 exkommuniziert und ins Gefängnis geworfen, wurde gegen den Widerstand der extra angereisten sowjetischen Führer Vorsitzender der polnischen KP und der Sowjetbürger Rakossowski wurde als Verteidigungsminister abgesetzt. Nach kurzem Zögern akzeptierten die Sowjets diese Veränderungen. Auch sie erkannten, dass durch das besonnene Handeln der polnischen Parteiführung der Protestbewegung die Spitze abgebrochen wurde und viele Polen ihre Hoffnung auf einen friedlichen Wandel setzten.

Die polnischen Ereignisse wirkten natürlich als ein ganz entscheidender Katalysator für die Ereignisse in Ungarn.

Im März 1956 war zum ersten Mal offen eingestanden worden, dass Rajk auf grund gefälschter Aussagen verurteilt worden war. Anfang Oktober wurden er und seine Mitangeklagten rehabilitiert und in einer feierlichen Prozession beigesetzt. [21] 200.000 Menschen zogen an seinem Sarg vorüber und alle wussten, dass die Mörder noch auf der Ehrentribüne saßen. Dabei war Rajk als Innenminister während der Sowjetisierung Ungarns keinesfalls beliebt gewesen. Aber nun wurde er zum Knüppel um das Regime durchzuprügeln. Diese Massendemonstration war das Morgengrauen der Revolution.



»In einer ruhmreichen Erhebung hat unser Volk das Rákosi-Regime abgeschüttelt. Es hat Freiheit für das Volk und Unabhängigkeit für das Land erreicht. Wir können ruhig sagen, dass die treibenden Kräfte dieser Erhebung aus unseren Reihen kommen. Kommunistische Schriftsteller, Journalisten, Studenten, die Jugend des Petöfi-Kreises, Tausende und Tausende von Arbeitern und Bauern, Veteranen der Arbeiterbewegung ... Wir sind stolz darauf, dass ihr in dem bewaffneten Aufstand euren Platz tapfer behauptet habt! Ihr wart durchdrungen von wahrem Patriotismus und von Treue zum Sozialismus.« [22] Jonos Kadar am 1. November 1956




3.2. DER VERLAUF DES AUFSTANDES

Zum 23. Oktober riefen die ungarischen Schriftsteller zu einer Demonstration auf, die zum Denkmal des polnischen Generals Bem führen sollte, der 1848 auf der Seite Ungarns in dem Befreiungskampf gegen Österreich gestanden hatte um hiermit die Solidarität mit Polen zu bekunden. Die Versammlungen der Studenten und vieler Offiziersschulen schlossen sich dem Demonstrationsaufruf an.

Die Studenten hatten schon in den Tagen zuvor eine neue Studentenorganisation gegründet (MEFESZ). Am 22. Oktober gab die Studentenschaft ein 14 Punkte Papier heraus, das überall in Budapest verteilt wurde. In ihm wurde u. a. gefordert:

Die Demonstration wurde am Vormittag des 23. Oktober verboten, jedoch am nachmittag, als sich schon zigtausende Ungarn auf den Straßen befanden, wieder zugelassen. Am Bem-Denkmal fand eine kurze Kundgebung statt. Danach zog ein Großteil der Demonstranten zum Parlamentsgebäude. Dort fanden sich um die 250.000 Menschen ein und forderten die Wiedereinsetzung Nagys als Ministerpräsidenten.

Nagy wurde von befreundeten Schriftstellern herbeigeholt und hielt eine kurze beschwichtigende Ansprache. Er sagte, die Partei werde die Hindernisse beseitigen, die einem demokratischen Sozialismus im Wege stehen und es sei das Beste, nun friedlich nach hause zu gehen. (Gosztony, 146f)

Nagy fühlte sich überhaupt nicht wohl in der Rolle, die ihm plötzlich zugefallen war. Sein Verhalten an diesem Abend und in den Tagen darauf zeigten deutlich, dass er alles andere war als ein »Konterrevolutionär«. Er stellte sich nicht an die Spitze der Bewegung. Er war weit davon entfernt einen revolutionären Sturz des sowjetischen Systems zu befürworten. Nagy war ein Mann des Apparats. Auch wenn er ihm kritisch gegenüberstand, so blieb er ihm doch verpflichtet. In diesem Sinne glich er jenen Katholiken, die auch noch auf dem Scheiterhaufen beteuern, gegenüber ihren Henkern die besseren Katholiken zu sein. Nagy war ein humaner Bürokrat, der ehrlich an das System glaubte und versuchte, für die Menschen das Beste herauszuholen und der, als das Volk rebellierte, sich tapfer weigerte, auf es schießen zu lassen. Auch als er während des Aufstandes die Neutralität Ungarns proklamierte und das Mehrparteiensystem einführte, tat er dies nicht aus eigener Überzeugung, sondern weil der Lauf der Ereignisse ihn dazu drängte.

Während die Mehrheit der Demonstranten zum Parlamentsgebäude gezogen war, zogen andere zum Stalindenkmal, um eine Forderung der Demonstration, nämlich die Beseitigung dieses Denkmals, selbst in die Hand zu nehmen. Die riesige Stalinstatue wurde mit Stahlseilen und Traktoren von ihrem Sockel gerissen und anschließend durch die Straßen Budapests geschleift. (Gosztony, 148ff)

Andere Demonstranten zogen zum Rundfunkgebäude um die Sendung des Forderungskatalogs der Studenten durchzusetzen. Zur gleichen Zeit strahlte der Rundfunk eine Rede Gerös aus, die so dumm und verlogen war, dass der Zorn der Demonstranten weiter anstieg. In dieser Rede behauptete Gerö, Reaktionäre und Konterrevolutionäre demonstrierten in den Straßen Budapests um die Volksdemokratie zu stürzen. (Gosztony, 154ff)

Als eine Delegation der Demonstranten, die ins Rundfunkgebäude eingelassen worden war, auch nach eineinhalb Stunden noch nicht zurückgekehrt war, rückten die Demonstranten auf die Absperrungen vor. Daraufhin begann die AVH vom Dach des Rundfunkgebäudes auf die unbewaffnete Menge zu schießen. Es gab hunderte Tote und Verletzte. Nach diesem Blutbad bewaffneten sich viele Demonstranten und gingen zum Angriff auf die AVH und öffentliche Gebäude über. Der Aufstand hatte begonnen.

Noch in der Nacht vom 23. auf dem 24. Oktober wurden in verschiedenen Stadtteilen Budapests Barrikaden errichtet. Am Morgen des 24. Oktober griffen die ersten sowjetischen Truppen in die Kämpfe ein. (1. Sowjetische Intervention) Im Rundfunk wurde erklärt, faschistische Kräfte griffen die öffentlichen Gebäude an und die sowjetischen Truppen würden helfen, die Ordnung wieder herzustellen. Gleichzeitig wurde erklärt, dass Nagy wieder Ministerpräsident sei. Hierdurch entstand bei vielen Ungarn der Eindruck, Nagy habe die sowjetischen Truppen zu Hilfe gerufen.

Schon am 24. Oktober entstanden die ersten Arbeiterräte. In den darauf folgenden Tagen gab es fast keine Fabrik, kein Bergwerk, kein Dorf und keine Stadt ohne Arbeiter- und Revolutionsräte. Diese Räte ähnelten sehr denen, die in Russland 1905 und 1917 entstanden waren. Sie übernahmen fast überall die Staatsgewalt. Die Rätebewegung war eines der auffallensten Merkmale der ungarischen Revolution. (UN-Bericht, § 485ff)

Am 25. Oktober kamen die sowjetischen Führer Mikojan und Suslow nach Budapest. Sie waren äußerst aufgebracht und machten Gerö für die Lage verantwortlich. Sie beschuldigten ihn, die Lage völlig falsch eingeschätzt und übereilt sowjetische Truppen angefordert zu haben. Gerö wurde nicht abgewählt, er wurde nicht einmal abgesetzt. Er wurde hinausgeworfen, wie ein Diener, der das Haus angezündet hat. Die beiden sowjetischen Führer bestellten darauf Kadar zu sich und erklärten ihm, er sei nun Parteivorsitzender. (Kopacsi, 148)

Der 25. Oktober wurde der bis zu diesem Zeitpunkt blutigste Tag des Aufstandes. (Blutiger Donnerstag) Vor dem Parlamentsgebäude demonstrierte eine riesige Menschenmenge gegen Gerö und die AVH. Die schoß in die Menge. Selbst Sanitäter, die Verwundete bergen wollten, wurden erschossen. Die Zahl der Getöteten vor dem Parlamentsgebäude schwankt zwischen 300 und 800. Ein Mitglied der britischen Gesandschaft zählte zwölf Lastwagen voller Leichen. (Gosztony, 226ff)

Zu einem weiteren Massaker kam es an diesem Tag in der Provinzstadt Nagyarover. Dort schoß die AVH ebenfalls auf eine unbewaffnete Menschenmenge und tötete ca. 100 Menschen. In dieser Stadt wurden dann die ersten AVH-Offiziere gelyncht. Man hängte sie mit dem Kopf nach unten an Bäume und Laternenpfähle und schlug sie tot. (Fryer, 21ff)

Am 27. Oktober bekam Nagy endlich soviel Bewegungsfreiheit, dass er erklären konnte, nicht er, sondern Gerö hätte die sowjetischen Truppen gerufen. Er bildete die Regierung um, der nun auch Nichtkommunisten angehörten.

Am 28. Oktober erklärte die neue Regierung eine allgemeine Feuereinstellung, die aber noch nicht überall befolgt wurde.

Am 29. Oktober erklärte Nagy die Auflösung der AVH.

Am 30. Oktober wurde das Einparteiensystem abgeschafft. An diesem Tag hörten auch die Kämpfe in Budapest auf. Die sowjetischen Truppen verließen die Stadt. Die Revolution hatte scheinbar gesiegt.



»Die russische Einmischung erregte die Entrüstung der ganzen Welt ... Ich glaube mit Recht sagen zu können: es ist in der Weltgeschichte noch kaum vorgekommen, dass der Freiheitskampf einer Nation größere Teilnahme erweckt hat als der unsere. Wir haben alleine gekämpft – abgeschnitten von der Welt.« [23]   Lajos Kossuth 1849




3.3. DIE NIEDERSCHLAGUNG DES AUFSTANDES

Am 30. Oktober 1956 beschloß das sowjetische Politbüro (was natürlich erst viel später herauskam) den ungarischen Volksaufstand niederzuschlagen. (Mikes, 154)

Am gleichen Tag, an dem sich die sowjetischen Truppen aus Budapest zurückzogen, marschierten bereits die ersten neuen sowjetischen Truppen nach Ungarn ein. Bei der zweiten Intervention wollten die Sowjets besser vorbereitet sein und nicht ein solches Desaster erleben, wie bei der ersten Intervention, bei der sie hunderte von Panzern verloren gegen einen Feind, der häufig nur mit Molotow-Cocktails bewaffnet war. Wichtig war auch für die Sowjets, die Ungarn über ihre wahren Absichten so lange wie möglich zu täuschen. Deshalb akzeptierten sie formal die Ergebnisse des Aufstandes.

Die Sowjets suchten in den Tagen der Vorbereitung der zweiten Intervention auch schon die Leute, die mit ihnen kollaborieren würden. Dabei legten sie großen Wert darauf, sich nicht nur auf die AVH und die alten Stalinisten zu stützen, sondern Leute für sich zu gewinnen, die unter Rákosi verfolgt worden waren.

Jonos Kadar war bis zum 1. November ein begeisterter Anhänger des Aufstandes. Am Abend dieses Tages wurde er in die sowjetische Botschaft eingeladen. Was dort geschah, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Jedenfalls verschwand Kader spurlos und Nagy, der mit Kadar eng zusammengearbeitet hatte, wusste am 2. und 3. November nichts über dessen Verbleib. Er rechnete überhaupt nicht mit einem Verrat Kadars. Eher glaubte er, Kadar habe aus Angst die Flucht ergriffen. Kadar war immerhin unter Rákosi einer der am schwersten Gefolterten. Erst am Morgen des 4. November 1956 meldete sich Kadar im Rundfunk mit der Erklärung, er habe eine »revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung« gegründet, um die Konterrevolution niederzuwerfen.

Die meisten Analytiker der Ereignisse vermuten, dass sich am Abend des 1. November 1956 in der sowjetischen Botschaft Budapests ungefähr folgendes abgespielt hat: Kadar wurde eröffnet, dass die Sowjets den Aufstand auf jeden Fall niederschlagen werden. Kadar habe die Möglichkeit, mit den Sowjets zusammenzuarbeiten. Dann werde man ihn zum Ministerpräsidenten machen und er könne nach einer gewisse Phase der Befriedung Ungarns, seine Reformvorstellungen verwirklichen, natürlich im Rahmen des sowjetischen Systems. Sollte Kadar auf diesen Vorschlag nicht eingehen, würde er wieder eingekerkert und er wisse ja wohl, was das bedeutet. (Mikes, 160f)

Der Einmarsch der sowjetischen Truppen blieb der Regierung Nagy natürlich nicht verborgen und nachdem sie vergeblich dagegen protestiert hatte, erklärte Nagy den Austritt aus dem Warschauer Pakt.

Am 4. November 1956 begann die zweite sowjetische Intervention mit einem konzentrierten Angriff der Sowjettruppen auf Budapest und die Zentren des Aufstandes in der Provinz.

Die meisten sowjetischen Soldaten, die man einsetzte, waren keine Russen, sondern Asiaten. Viele wussten nicht, wo sie waren und gegen wen sie kämpften. Einige glaubten, sie seien in Berlin und würden gegen deutsche Faschisten kämpfen. Andere glaubten, sie seien am Suezkanal und würden den Ägyptern im Kampf gegen die englischen und französischen Interventen helfen. [24]

Viele der sowjetischen Soldaten, die wussten, wo sie waren, taten nur sehr ungern, was von ihnen verlangt wurde. Das galt besonders für die, die schon längere Zeit in Ungarn waren und ungarische Freunde hatten. Es kam vor, dass sowjetische Soldaten desertierten und auf Seite der Ungarn kämpften.

Der sowjetischen Übermacht waren die Ungarn natürlich nicht gewachsen und nach zehn Tagen harter Kämpfe, in denen ca. 25.000 Ungarn und 7.000 sowjetische Soldaten umkamen, kapitulierte als letzte Bastion der Revolution die »erste sozialistische Stadt Ungarns« Sztalinvaros/ Stalinstadt.

Die AVH nahm blutige Rache an den Aufständischen. An den Donaubrücken wurden sie traubenweise aufgehängt. Viele Aufständische wurden, nachdem sie die Waffen gestreckt hatten, standrechtlich erschossen, insbesondere alle Offiziere der ungarischen Armee, die auf Seite der Aufständischen gekämpft hatten. (Und das waren weit über 90%.) Viele tausend junge Ungarn wurden nach Sibirien deportiert. Ca. 190.000 Ungarn flohen in den Westen. [25]

Nagy und einige seiner Getreuen flüchteten sich in die jugoslawische Botschaft. Mit dem Versprechen des freien Abzuges wurden sie am 23. November aus dieser Botschaft gelockt und nach Rumänien deportiert. (Anderson, 165f)

Nach der militärischen Niederschlagung des Aufstandes hielt der Generalstreik weiter an. Die Arbeiterräte existierten weiter und gewannen sogar noch an Einfluss. Die Kadarregierung benötigte noch das ganze Jahr 1957, um die Streiks nach und nach zu beenden. Nach vergeblichen Versuchen, die Arbeiterräte für sich zu gewinnen, ließ Kadar sie verbieten und ihre Führer verhaften. Die letzten Arbeiterräte wurde am 17. November 1957 verboten.

Unter den geschilderten Umständen konnte der Widerstand natürlich nicht endlos fortgesetzt werden. Das ganze Jahr 1957 über wurde zwar noch gestreikt und demonstriert aber dann wurde die Bewegung durch Verhaftungen, Hinrichtungen und andere Repressionen langsam aber sicher abgewürgt. Die meisten Ungarn begannen sich ins Unvermeidlich zu fügen.

Nagy wurde später (Datum nicht bekannt) nach Ungarn zurückgebracht. Am 16. Juni 1958 wurde er zusammen mit Pal Maleter hingerichtet. Kadar wurde von den Sowjets gezwungen, dieser Hinrichtung beizuwohnen.


4. TEIL – UNTERSUCHUNG EINIGER SPEZIELLER ASPEKTE DES AUFSTANDES

4.1. GRÜNDE UND ANLÄSSE DES AUFSTANDES

Die im II. Teil beschriebenen Missstände, die nationale Unterdrückung der Ungarn, der Mangel an Demokratie und Freiheit und die schlechte wirtschaftliche Situation, bestanden so oder in abgeschwächter Form bis zum Ausbruch des Volksaufstandes am 23. Oktober 1956.

So oder ähnlich sah es aber in allen Ostblock-Staaten aus. Zum gewaltsamen Aufstand in dieser Dimension ist es aber nur in Ungarn gekommen. Es muss also noch etwas hinzu gekommen sein, der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Dieser Tropfen war die überdurchschnittliche Dummheit, Unfähigkeit und Brutalität der ungarischen Stalinisten. Wenn diese Leute auch nur ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl und Realitätssinn besessen hätten, wäre es wahrscheinlich nie zum Aufstand gekommen. Der Verlauf der Ereignisse ist dadurch gekennzeichnet, dass das Richtige, aus der Sicht des Systems, immer einen entscheidenden Moment zu spät getan wurde.

Die Absetzung Rákosis im Juli 1956 wurde von den Ungarn nicht als Fortschritt angesehen, da sein Nachfolger, Ernö Gerö, ebenfalls ein unverbesserlicher Stalinist war. Wäre zu diesem Zeitpunkt bereits Kadar Parteivorsitzender und Nagy Ministerpräsident geworden, hätte es keinen Aufstand gegeben, jedenfalls nicht in dieser Dimension.

Auch als am 23. Oktober einige hunderttausend Ungarn auf die Straße gingen und ihre Solidarität mit Polen bekundeten, war ein friedlicher Ausgang noch möglich. Wäre Nagy 24 Stunden früher Ministerpräsident geworden, hätte der Aufstand vielleicht vermieden werden können.

Aber anstatt zumindest verbal auf die Forderung der Demonstranten nach Demokratisierung und Wiedereinsetzung Nagys einzugehen, musste Gerö eine außerordentlich dumme und provokative Rundfunkrede halten, die den Zorn der Menschen noch mehr anheizte.

Auslösendes Moment des Aufstandes waren dann die Schüsse der AVH in die unbewaffnete Menge vor dem Rundfunkgebäude. Nun war das Maß endgültig voll, die Demonstranten bewaffneten sich.

Aber auch noch zu diesem Zeitpunkt, am Abend des 23. Oktober, war es noch nicht der Aufstand einer Mehrheit. Am Morgen des 24. Oktober 1956 waren sicherlich noch viele Ungarn geneigt, die Schießerei vor dem Rundfunkgebäude und die Barrikaden in den verschiedenen Stadtteilen Budapests als die unüberlegten Taten der Studenten und Jugendlichen abzutun. Wäre Nagy am 24. Oktober nicht nur formal Ministerpräsident geworden, sondern hätte er auch zugleich volle Handlungs- und Entscheidungsfreiheit bekommen, hätte der Aufstand vielleicht auf kleiner Ebene beigelegt werden können.

Dann aber passierten zwei entscheidende Dinge: Erstens griffen die sowjetischen Truppen ein, wodurch der Aufstand zu einer nationalen Erhebung wurde und zweitens wurde der Eindruck erweckt, Nagy habe die sowjetischen Truppen zu Hilfe gerufen, wodurch sein Ansehen in der Bevölkerung rapide sank.

Als sich nach einige Tagen die sowjetischen Truppen zurückzogen und Nagy öffentlich erklären konnte, dass nicht er, sondern Gerö die sowjetischen Truppen rief, da war es bereits zu spät. Der Aufstand hatte inzwischen eine Eigendynamik entwickelt und war durch solche Erklärungen nicht mehr zu bremsen. Auch als am 25. Oktober Gerö durch Kadar ersetzt wurde, reichte dies den Aufständischen nicht mehr. Ein paar Tage früher geschehen, hätte es vielleicht noch den Aufstand abgewendet. Kadar, als ein unter Rákosi verfolgter Kommunist, hätte den ungarischen Gomulka abgeben können. Am 24. Oktober wurde endgültig die Chance vertan, die Probleme im Rahmen des Systems auf friedliche Weise zu lösen.

Der Aufstand war nicht das Ergebnis der »Wühlarbeit des Westens« oder das »Werk reaktionärer und faschistischer Kräfte«. Der Aufstand war von keiner Seite her organisiert oder geplant. Er kam selbst für die Aufständischen völlig überraschend. Er begann mit einer von der AVH provozierten Schießerei vor dem Rundfunkgebäude und entwickelte sich in wenigen Tagen zu einem spontanen Aufstand eines ganzen Volkes gegen eine unerträglich gewordene Tyrannei. Die Revolution brach aus, so wie eine Frucht vom Baum fällt, wenn sie reif ist. Wer eine solche Revolution hätte machen wollen, hätte über eine weitverzweigte Organisation verfügen müssen, wie sie z. B. die Bolschewiki im Herbst 1917 hatten, als sie eine geplante und organisierte Revolution machten.

Aber wie hätte eine solche Organisation unerkannt bleiben sollen in einem Land, wo die politische Polizei und ihre Spitzel allgegenwärtig waren, wo über jeden Menschen, der älter als sechs Jahre alt war, eine Akte geführt wurde, und wo man bei geringstem oppositionellen Verhalten im Gefängnis oder Konzentrationslager verschwand? Es gab keine solche Organisation. Was es gab, war der jahrelang aufgestaute Zorn, der sich nun vulkanartig entlud und das stalinistische System hinwegfegte.
 

4.2. DIE ZIELE DER AUFSTÄNDISCHEN

Wo gegen sich der Aufstand wendete, ist aus den Kapiteln des II. Teils zu ersehen. Die Ungarn wandten sich gegen die nationale Unterdrückung durch die Sowjetunion, die Diktatur der ungarischen Stalinisten und gegen die wirtschaftlichen Missstände. Der Volksaufstand war eine nationale, demokratische und soziale Revolution.

Wenn man sich die Verlautbarungen der Aktivisten der Revolution ansieht, so wird man keine finden, in der die Wiedereinführung des Kapitalismus verlangt wurde, wo die Sozialisierung der großen Unternehmen rückgängig gemacht werden sollte oder der Boden den Großgrundbesitzern zurückgegeben werden sollte.

Wenn die Kadarregierung nach der Niederschlagung der Revolution behauptete, die wirklichen Ziele der Revolution waren andere, als die öffentlich bekanntgegebenen (UN-Bericht, 108), so ist dies völlig absurd.

Die Arbeiterräte wollten die Betriebe der alleinigen Kontrolle der staatlich eingesetzten Betriebsdirektoren entziehen und forderten eine wirkliche Arbeiterselbstverwaltung. Hinter dieser Forderung verbarg sich nicht die Absicht, die Betriebe den Kapitalisten zurückzugeben.

Die Bauern wandten sich gegen die Zwangskollektivierung, weil sie die Höfe entweder allein bewirtschaften oder sich auf wirklich freiwilliger Basis zu Genossenschaften vereinigen wollten, die den Mitgliedern nutzten und nicht der leichtere Ausbeutung und Kontrolle durch den Staat. Hinter dieser Forderung verbarg sich nicht die Absicht, den Boden den Großgrundbesitzern zurückzugeben.

Die Forderungen nach demokratischen Rechten und Freiheiten, nach freien und geheimen Wahlen, Rede-, Presse-, Versammlungsfreiheit etc. entsprachen den wirklichen Wünschen der Ungarn nach jahrelanger Rákosi-Diktatur. Hinter diesen Forderungen verbarg sich nicht die Absicht, die halbfaschistischen Verhältnisse der Horthyzeit wieder herzustellen.

Dass die Ungarn das kommunistische Staatswappen aus den Nationalfahnen schnitten, dass sie sowjetische Ehrenmäler und Buchläden zerstörten, war kein Ausdruck von antisozialistischem und nationalistischem Verhalten. Die Ungarn zerstörten hiermit die Symbole der Rákosi-Tyrannei. (Zu den Forderungen der verschiedenen Organisationen und Räten siehe UN-Bericht, 394ff und den Anhang zum 9. Kapitel.)

In den Tagen der Revolution entstanden allerdings auch Gruppen, die eine kapitalistische Gesellschaft anstrebten. Sie hatten zwar unter den Aktivisten der Revolution keinen Einfluss, aber es ist nicht auszuschließen, dass solche Gruppen im weiteren Verlauf, z. B. bei freien Wahlen, einigen Einfluss hätten bekommen können. So entstand z. B. eine Christlich Demokratische Partei, die sich an den Christlich Demokratischen Parteien Westeuropa orientieren wollte. (Gosztony, 313ff)
 

4.3. DIE VERSCHIEDENEN SOZIALEN SCHICHTEN

Zu Beginn waren es Schriftsteller und Studenten, die im Petöfi-Kreis diskutierten und die Demokratisierung der Gesellschaft forderten. Die Bewegung begann mit Aktivitäten kommunistischer Intellektueller. Die Demonstration am 23. Oktober war im wesentlichen von Studenten organisiert und die ersten bewaffneten Aufständischen waren Studenten.

In den Tagen des Aufstandes gab es keine Universität oder Hochschule, wo die Studentenschaft und der Lehrkörper nicht mit überwältigender Mehrheit den Aufstand unterstützte. Die Verbände der Intellektuellen schlossen sich zum »Revolutionsrat der vereinigten Organisationen der Intellektuellen« zusammen und unterstützten die Revolution. (Gosztony, 276ff) Es gab keine Gruppe von Intellektuellen, keine einzige namhafte Persönlichkeit, die sich für das alte System einsetzte.

Die Bauern wollten in ihrer großen Mehrheit keine kollektive Landwirtschaft. Sie wollten den Boden selbst verwalten und bearbeiten. Die große Mehrheit der Bauern unterstützte die Revolution. In den Tagen des Aufstandes lieferten sie kostenlos Nahrungsmittel nach Budapest um die Aufständischen zu verpflegen. Als die zweite sowjetische Intervention begann, gab es kein einziges Dorf, keinen einzigen ländlichen Revolutionsrat, den die Sowjets für sich gewinnen konnten.

Da in Ungarn der offiziellen Ideologie nach die Arbeiterklasse die Macht hatte, ist es besonders interessant zu sehen, wie sich die Arbeiter verhielten.

Begonnen hatte alles mit Aktivitäten der Intellektuellen. Aber im weiterem Verlauf wurden die Arbeiter die wichtigste Kraft des Aufstandes.

In vielen Betrieben wurde noch am Morgen des 24. Oktober die Arbeit niedergelegt und Arbeiterräte gewählt. In den darauf folgenden Tagen gab es keine Fabrik und kein Bergwerk mehr ohne Arbeiterräte. Der Generalstreik wurde total befolgt. Mit Ausnahme der Lebensmittelbetriebe und der Krankenhäuser wurde nirgends gearbeitet. Die Arbeiter wollten nicht eher an ihre Maschinen zurück, als dass die sowjetischen Truppen Ungarn verlassen würden. Die verschiedenen Arbeiterräte schlossen sich zu Stadt- und Regionalräten zusammen und übernahmen fast überall die Staatsgewalt. Die Arbeiter gründete auch einen neuen Gewerkschaftsbund, der kein Instrument des Staates mehr sein sollte.

Als die zweite sowjetische Intervention begann, leisteten die Arbeiter den erbittertsten und längsten Widerstand. Die Sowjets konnten diesen nur brechen, in dem sie die Arbeiterviertel mit Artillerie beschossen und von der Luftwaffe bombardieren ließen. (So z. B. das »Rote Csepel« ein Arbeiterbezirk in Budapest, der einst eine Hochburg der Kommunisten war.) [26]

Als die Kadar-Regierung im Ausland verbreiten ließ, die ungarischen Arbeiter kämpften Seite an Seite mit den sowjetischen Truppen gegen die faschistischen Putschisten, war dies eine so erbärmliche Lüge, dass man sich nur noch an Josef Göbbels erinnert fühlt. »Je größer die Lüge, desto eher wird sie geglaubt.« Kadar fand keinen einzigen Arbeiterrat, keine einzige Belegschaft irgendeines Betriebes für seine »revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung«.

Die schlagenste Widerlegung dieser Lüge war, dass nach der militärischen Niederlage der Aufständischen der Generalstreik weiterging. [27] Deshalb sah sich die Kadar-Regierung gezwungen, mit den Räten zu verhandeln. Sie versuchte mit Zuckerbrot und Peitsche die Arbeiterräte für sich zu gewinnen, was ihr aber nicht gelang. Man ließ einzelne Führer der Räte verhaften, mit anderen verhandelte man. Die überregionalen Arbeiterräte verbot man, anerkannte aber ausdrücklich die betrieblichen Arbeiterräte. Dann verhängte man auf Streik die Todesstrafe und ließ auch einige Arbeiter hinrichten.

Nach dem die Kadar-Regierung ein Jahr lang alles mögliche versucht hatte um die Arbeiterräte für sich zu gewinnen, wurde sie schließlich verboten.
 

4.4. DIE PARTEI UND DIE STAATLICHEN INSTITUTIONEN

Sympathie für die aufkommende Protestbewegung gab es in allen staatlichen Institutionen, einschließlich der Armee und der Polizei.

Schon in den Wochen vor dem Aufstand kam es in vielen Versammlungen der Offiziere zu harter Kritik an Rákosi und den gesellschaftlichen Verhältnissen in Ungarn. (Gosztony, 53ff, 67ff, 102ff) Viele Offiziersschulen solidarisierten sich mit den Demonstranten oder nahmen an den Demonstrationen teil, z. B. die Offiziersschüler der Luftwaffe und die Lehrkräfte und Kadetten der Petöfi-Militärakademie. (Gosztony, 133 und 135)

Während die Demonstranten an den Kasernen vorbeimarschierten, schnitten die Soldaten die kommunistischen Staatswappen aus den Nationalfahnen heraus. (Gosztony, 140)

Als es zu den Schießereien vor dem Rundfunkgebäude kam, weigerten sich die anrückenden Soldaten, gegen die Aufständischen zu kämpfen. Viele gingen sofort auf die Seite der Aufständischen über oder blieben am Anfang neutral. (Gosztony, 163ff)

Sogar einige AVH-Leute weigerten sich, auf die Menge zu schießen. Ihre wütenden Offiziere schossen ihnen darauf hin in den Rücken. (Gosztony, 162)

Die Armee ging innerhalb weniger Tage fast vollständig zu den Aufständischen über oder löste sich einfach auf. Die höheren Offiziere waren meist Anhänger der Sowjetunion, aber in den ersten Tagen des Aufstandes machten auch sie gute Miene zum (für sie) bösen Spiel.

Während der zweiten sowjetischen Intervention sabotierten viele dieser Offiziere den Widerstandskampf der ungarischen Armee durch desorientierende Befehle und Unbrauchbarmachung der Waffen.

Sowie neue ungarische Truppen nach Budapest gebracht wurden, reichten kurze Gespräche mit den Offizieren und Soldaten aus, um zu erreichen, dass sie nicht gegen die Aufständischen kämpften. Es gab keinen einzigen Truppenteil, der geschlossen gegen die Revolution kämpfte.

Oberst Pal Maleter wurde zum Helden der Revolution. Er war in die Kilian-Kaserne geschickt worden, um dort die »Ordnung« wieder herzustellen. Als er sah, dass alle Soldaten und Offiziere zusammen mit der Bevölkerung gegen die sowjetischen Truppen kämpften, entschloß er sich, auf die Seite der Aufständischen zu treten. Unter seiner Führung wurde die Kaserne tagelang gegen immer neue Wellen sowjetischer Panzer verteidigt. (Gosztony, 231ff)

Als die Nationalgarde gegründet wurde, standen an ihrer Spitze der Armee-General Béla Kiraly und der Polizeichef von Budapest, Sandor Kopacsi. Auch die anderen Führer der Nationalgarde waren Offiziere der Polizei und der Armee. Während der zweiten sowjetischen Intervention kämpfte die ungarische Armee gegen die Sowjettruppen. Es gab keine einzige Kompanie, die für die Kadar-Regierung kämpfte. (Gosztony, 398) Lediglich einzelnen ungarische Offiziere, zahlenmäßig eine ganze Menge, aber prozentual eine verschwindende Minderheit, kämpften mit den Sowjets gegen ihr eigenes Volk.

Das gleiche galt für die Polizei. Viele Polizisten schlossen sich dem Aufstand an oder blieben anfänglich neutral. Der Polizeichef von Budapest, Sandor Kopacsi, entschloß sich nach kurzem Zögern, die Anweisung zu geben, die Aufständischen nicht zu bekämpfen. (Gosztony, 173ff) Während der zweiten sowjetischen Intervention kämpften die meisten Polizisten gegen die sowjetischen Truppen.

Die Partei schien in den Tagen der Revolution gar nicht mehr zu existieren. In den Tagen vor dem Aufstand zeigten sich die Parteiführer unfähig zu begreifen, was sich zusammenbraute. (Gosztony, 108ff, 151ff, 145) In den Tagen des Aufstandes zeigte sich, dass sie auch die Parteimitglieder in ihrer großen Mehrheit nicht mehr hinter sich hatten. Es gibt kein Beispiel dafür, dass irgendwelche Parteigruppen oder Parteigliederungen mehrheitlich für die alten Verhältnisse eintraten (außer natürlich einzelne Personen.) Es ist nicht bekannt, dass irgendwo kommunistische Arbeiter auf nichtkommunistische Arbeiter schossen oder umgekehrt. In den Arbeiter- und Revolutionsräten saßen tausende von Kommunisten, die endlich die Revolution gefunden hatten, von der sie solange geträumt hatten.

In den Tagen der Revolution wurde die Kommunistische Partei neu gegründet und es ist interessant einen kurzen Blick auf ihr provisorisches Politbüro zu werfen: Kadar als Vorsitzender. Dann Imre Nagy, 1958 hingerichtet; Géza Lozonczy, im Dezember 1957 im Gefängnis ermordet; Sandor Kopacsi, zu lebenslanger Haft verurteilt; Ferenc Donath, zu zwölf Jahren Haft verurteilt; Zoltan Szanto und der bekannte marxistische Philosoph György Lukacs, beide viele Jahre interniert. (Gosztony, 333; Kopacsi, 306)
 

4.5. WOHER KAMEN DIE WAFFEN DER AUFSTÄNDISCHEN?

Als die AVH vor dem Rundfunkgebäude in die Menge schoß, waren die Demonstranten noch unbewaffnet. Die ersten Waffen bekamen die Aufständischen, als sie zwei Ambulanzwagen kontrollierten, die zum Rundfunkgebäude durch wollten. Sie waren voller Waffen für die AVH. Die Fahrer der Wagen wurden halb tot geschlagen und die Waffe an die Aufständischen verteilt. (Gosztony, 161)

Viele Soldaten und Polizisten gingen sofort zu dem Aufständischen über und brachten ihre Waffen mit. Andere blieben neutral, gaben ihre Waffen aber den Aufständischen. (Gosztony, 163)

Viele Demonstranten liefen zu den in Budapest befindlichen Kasernen und berichteten den Soldaten, was vor dem Rundfunkgebäude geschehen war. Daraufhin wurden in vielen Kasernen die Waffenkammern aufgebrochen und die Waffen verteilt. (Gosztony, 168)

Arbeiter brachen die Waffenkammern in ihren Betrieben auf und brachten die Waffen in Lastwagen und Omnibussen zum Rundfunkgebäude. (Gosztony, 165)

Einige Gruppen der nun bewaffneten Aufständischen räumten in der Nacht zum 24. Oktober viele Waffen- und Munitionsfabriken aus. (Gosztony, 168ff)

Viele Aufständische kämpften nur mit selbstgefertigten Molotow-Cocktails gegen die sowjetischen Panzer.

Während der zweiten sowjetischen Intervention kämpften 90% der Offiziere, Soldaten und Polizisten gegen die Sowjets mit den Waffen, die eine Armee eben hat. Es fanden regelrechte Schlachten statt.

Die Kadar-Regierung ließ verbreiten, es habe in Ungarn geheime Waffenlager gegeben und am Abend des 23. Oktober habe man den Studenten gesagt, wo diese Lager seien. Des weiteren hätten aus dem Westen kommende Emigranten Waffen mitgebracht und in den Tagen der Revolution seien weitere Waffen aus dem Westen herbeigeschafft worden. (Weißbuch, 1/7) Diese Behauptungen sind aber völlig absurd.

Wie sollten denn zigtausende von Gewehren und Maschinengewehren, hunderte Tonnen Munition eingeschmuckelt werden? Wie schwere Waffen, mit denen man eine ganze Armee ausrüsten konnte?

Die einzige Grenze zum Westen war die Österreichische. Sie war bis wenige Monate vor dem Aufstand noch mit Mienengürtel gesichert. Danach gab es noch elektrisch geladene Zäune und starke Verbände der Grenzpolizei.

Wie hätten soviele Waffen unentdeckt durch die AVH auf verschiedene Waffenlager verteilt werden sollen? Das ganze ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Kadar-Regierung konnte nach Niederschlagung des Aufstandes keine einzige im Westen gefertigte Waffe vorweisen. (Fryer, 52)
 

4.6. WELCHEN EINFLUSS HATTEN REAKTIONÄRE KRÄFTE?

Um die gewaltsame Niederschlagung des Aufstandes zu rechtfertigen, malten die Sowjets und die Kadar-Regierung die Gefahr eines faschistischen Putsches an die Wand. Auch dies ist völlig absurd.

Sicherlich wird es auch elf Jahre nach Kriegsende noch vereinzelt Reaktionäre und Faschisten gegeben haben. Aber sie hatten auf den Verlauf des Aufstandes keinen Einfluss. Es ist einfach lächerlich, unter den zigtausenden Mitgliedern der Arbeiter- und Revolutionsräte einige ehemalige Horthy-Offiziere und Mitglieder der Leibwache Horthys, oder gar »den Sohn eines ehemaligen Redakteurs einer hitlerhörigen Zeitung« auszumachen (Weißbuch, 1/6), ohne gleichzeitig zu erwähnen, dass die überwältigende Mehrheit aus Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerlichen und bäuerlichen Demokraten bestand.

Als Paradebeispiel für den Einfluss reaktionärer Kräfte wurde Kardinal Mindszenty angeführt. Aber auch der forderte nichts, was in Richtung der alten Verhältnisse vor dem 2. Weltkrieg ging. Er forderte zwar das Recht auf Privateigentum und die Organisationsfreiheit für die Christen, aber dies sind ja nicht gerade faschistische Forderungen. Er sprach auch davon, dass er sich dem historischen Prozess nicht in den Weg stellen wolle, und dass die demokratischen Errungenschaften erhalten bleiben müssten. (Inhalt seiner Rundfunkrede vom 3. November 1956 in Mikes, 131ff) Ob Mindszenty dies nun aus Überzeugung sagte, oder ob er sich nur der allgemeinen Stimmung unterordnete, ist Spekulation. Aber es gab unter den Ungarn so gut wie keinen, der zu den Verhältnissen der Horthyzeit zurück wollte und das wusste auch Mindszenty.

Ein weiterer Reaktionär, der gerne angeführt wurde, war der Fürst Esterhazy, der wie alle politischen Gefangenen freigelassen worden war. Der Fürst hatte allerdings nicht das geringste Interesse am Aufstand, sondern machte sich so schnell wie möglich nach Österreich aus dem Staub, um seinen dort aufbewahrten Reichtum zu genießen. Pakete, die er seinen ehemaligen Bauern schickte, wurden von denen ungeöffnet zurückgesandt. Die Bauern beteiligten sich nicht am Aufstand, um den Boden den Gutsbesitzern von einst zurückzugeben.

Es mag sein, dass manche Greueltat gegen AVH-Leute auf das Konto reaktionärer Banden ging. Aber auf den Aufstand im großen Rahmen hatten Reaktionäre, wenn es sie überhaupt gab, keinerlei Einfluss.

Außerdem ist sehr wichtig, dass die bewaffneten Organe des Staates, Armee, Polizei und Nationalgarde von Offizieren geführt wurden, die in ihrer großen Mehrheit auf sozialistischen Positionen standen. Die Reaktionäre hatten keine Mehrheit im Volk und keine Mehrheit (nicht einmal eine einigermaßen relevante Minderheit) in den bewaffneten Organen, den traditionellen Werkzeugen der Reaktionäre zur Unterdrückung des Volkes. Die Gefahr eines reaktionären oder faschistischen Putsches existierte nicht. Sie war eine reine Erfindung der Sowjets um ihre eigene reaktionäre Gewalttat zu rechtfertigen.
 

4.7. WAS TAT DER WESTEN?

In der Zeit des internationalen Ost-West-Gegensatzes muss auch untersucht werden, was der gegnerische Machtblock tat.

Der Westen hatte seit der Verkündung der »roll-back-strategie« durch den amerikanischen Außenminister Dulles im Jahre 1952 zweifellos viele Anstrengungen unternommen, um in den Ostblock-Staaten Unruhe zu stiften. Dabei waren die Möglichkeiten des Westens allerdings äußerst gering. Entfaltungsmöglichkeiten westlicher Agenten und mit dem Westen sympathisierender Ungarn gab es bis zum Frühjahr 1956 faktisch nicht. Die Grenzen (der eiserne Vorhang) waren äußerst streng gesichert und im Inneren des Landes die Kontrolle der AVH so total, dass Propagandisten westlicher Vorstellungen schnell erkannt und ausgeschaltet werden konnten. Der Einfluss des Westens beschränkte sich im wesentlichen auf Rundfunksendungen. Über diese beklagte sich die Kadar-Regierung dann auch mächtig. (Weißbuch 2/10) Aber Propagandasendungen kommen auch aus den sowjetischen Block in die westlichen Länder und lösen dort keine Aufstände aus.

Sicherlich wird es in Ungarn westliche Geheimagenten gegeben haben, so wie es auch in den westlichen Ländern sowjetische Geheimagenten gibt. Aber wer behauptet, die hätten den Aufstand ausgelöst oder gar organisiert und geleitet, der befindet sich moralisch und intellektuell auf dem gleichen Niveau wie z. B. der amerikanische Präsident Reagan, der nicht wahr haben will, dass die Unruhen in Latainamerika ihre Ursachen in den dortigen gesellschaftlichen Verhältnissen haben und nicht das Werk kommunistischer Wühlarbeit sind.

Die österreichische Regierung, besorgt um ihre erst vor kurzem zurückgewonnene Souveränität, errichteten in den Tagen des Aufstandes eine verbotene Zone an der ungarisch-österreichischen Grenze, um zu verhindern, dass ungarische Emigranten aus dem Westen nach Ungarn eindringen konnten. Die Militärattachés der vier Siegermächte des 2. Weltkrieges, einschließlich der Sowjetunion, konnten sich von diesen Maßnahmen selbst überzeugen.

Die österreichische Regierung wies ungarische Emigranten aus, z. B. den ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Nagy und den Vorsitzenden der sozialistischen Jugend Ungarns Ferenc Eröss. (Anderson, 224)

Es gab zwar Gerüchte, dass tausende ungarische Emigranten, von den USA bewaffnet, über die ungarisch-österreichische Grenze gekommen seien, aber in keiner der vielen Augenzeugenberichte, die ich gelesen habe, tauchen diese Leute auf und auch die Kadar-Regierung konnte nach Niederschlagung des Aufstandes keinen einzigen dieser Leute vorzeigen. (Gosztony, 417) (Dilettantisch genug, da es für Geheimdienste keine Schwierigkeit darstellen dürfte, zwei oder drei solcher Leute plus entsprechenden Waffen irgendwo herzukriegen.)

In den Tagen der ungarischen Revolution fand auch die englisch-französische Invasion Ägyptens statt (Suez-Krise). Ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen besteht aber nicht. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass irgendeine westliche Macht vor hatte, in Ungarn zu intervenieren. Sie hätten auch vorher durch einige andere Staaten hindurch gemusst.

Die westlichen Siegermächte des 2. Weltkrieges haben nie ernsthaft daran gedacht, den Status quo in Europa, d. h. die Existenz eines östlich-sowjetischen und eines westlich-demokratischen Bereichs, militärisch zu verändern.
 

4.8. DIE LYNCHJUSTIZ GEGEN DIE AVH-LEUTE

Über den Terror der AVH während der Rákosizeit und über die Massaker der AVH zu Beginn des Aufstandes ist bereits alles gesagt. Es kann nicht verwundern, dass die AVH-Leute zu Tode verhasst waren.

In den ersten Tagen des Aufstandes waren Racheakte an AVH-Leuten aber noch relativ selten. Nur im unmittelbaren Zusammenhang mit Greueltaten wurden sie gelyncht. Nach der Besetzung des Rundfunkgebäudes z. B. wurden die AVH-Leute freigelassen und weggeschickt. Sie wurden nicht einmal verhaftet. (Gosztony, 189)

Viele Aufständische nahmen AVH-Leute lediglich fest und übergaben sie den Behörden. (Gosztony, 299)

Als jedoch mehr und mehr politische Gefangene befreit wurden und berichteten, wie sie in den Gefängnissen gefoltert worden waren, als das Blutbad vor dem Parlamentsgebäude bekannt wurde, steigerte sich der Hass auf die AVH-Leute ins grenzenlose. Sie wurden in den Straßen Budapests direkt gejagt und wenn man sie erwischte, häufig auf bestialische Weise umgebracht.

Allerdings wurden nur AVH-Leute, oder wen man dafür hielt, gelyncht. Es gab keinen Terror gegen die Kommunisten. Die Nationalgarde unternahm auch alle Anstrengungen, um diese Exzesse abzustellen. Die Zahl der Gelynchten wird in der Literatur unterschiedlich angegeben. Wahrscheinlich waren es weniger als 100. (Gosztony, 361)

Ich lehne Lynchmethoden grundsätzlich ab! Erstens lässt es sich gar nicht vermeiden, dass bei einem solchen Vorgehen Unschuldige mit dran glauben müssen und zweitens sollte man sich im Interesse der neuen Gesellschaft, die man nach einer Tyrannei errichten will, zu Beginn nicht mit solchen Taten belasten.

Aber wahr ist nun mal, dass Racheakte an verhassten Personen schon immer ein Element aller echten Volksrevolutionen gewesen sind (jüngstes Beispiel Iran, wo die SAVAK-Leute gejagt und gehängt wurden) und Marx hat solche Aktionen sogar ausdrücklich gut geheißen. [28]

Trotz dieser unschönen Dinge kann von weißem Terror jedoch keine Rede sein. Weißen Terror gab es in Paris 1871, als 30.000 Kommunarden und viele Unbeteiligte ermordet wurden. Weißen Terror gab es im russischen Bürgerkrieg, als die Weißen zigtausende Kommunisten bzw. Soldaten der roten Armee umbrachten. Gemessen an solchen Zahlen sind ca. hundert Opfer der Volkswut eine geringe Zahl.

Wenn die sowjetischen Führer ihr Eingreifen u. a. damit rechtfertigten, dass in Ungarn Kommunisten verfolgt und ermordet wurden, dann ist dies pure Heuchelei. Denn erstens wäre die ungarische Nationalgarde mit diesen Lynchereien früher oder später selbst fertig geworden und zweitens muss man die sowjetischen Führer fragen, wo sie denn waren, als Rákosis Schergen tausende Kommunisten in den AVH-Gefängnissen folterten und umbrachten.

Die meisten der Leute, die 1956 (und auch heute noch) in der Sowjetunion das Sagen hatten, begannen ihre Karriere Ende der 30er Jahre, als sie sich in besonderem Maße bei den großen Säuberungen hervortaten. An den Händen dieser Leute klebt das Blut hunderttausender ermordeter Kommunisten!
 

4.9. HATTE DIE SOWJETUNION EIN RECHT EINZUGREIFEN?

Die Sowjetunion berief sich bei ihrem Eingreifen u. a. auf den Warschauer Vertrag, aber aus diesem Vertrag ergibt sich kein Recht, sich in die inneren Angelegenheiten der Vertragsstaaten einzumischen. (Gosztony, 338)

Die Stationierung und Verwendung fremder Truppen muss mit der Regierung des betreffenden Landes abgestimmt werden. Die Sowjetunion durfte nur dann Truppen nach Ungarn entsenden und dort einsetzen, wenn die ungarische Regierung damit einverstanden war.

Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurde Nagy vorgeworfen, er habe den Warschauer Vertrag einseitig und illegal aufgekündigt. Wahr ist dagegen, dass die Sowjetunion den Vertrag verletzte, indem sie seit dem 31. November Truppen nach Ungarn schickte, obwohl die ungarische Regierung dagegen protestierte. Erst als dieser Protest ohne Wirkung blieb, sah sich die ungarische Regierung gezwungen, aus dem Warschauer Pakt auszutreten.

Die sowjetischen Truppen wurden auch nicht von der Kadar-Regierung zu Hilfe gerufen, denn als diese Regierung gegründet wurde, waren die Vorbereitungen für die Niederschlagung des Aufstandes schon seit fünf Tagen in vollem Gange. Nicht Kadar rief die Sowjets, die Sowjets riefen Kadar. Den Ministerpräsidenten, der sie angeblich rief, brachten sie erst in ihren Panzern mit. (Das gleiche haben sie vor wenigen Jahren in Afghanistan praktiziert.)

Außerdem hatte die Kadar-Regierung nicht die geringste Legitimität. Sie hatte nicht nur die Mehrheit gegen sich, sie hatte nicht einmal eine einigermaßen relevante Minderheit für sich.
 

4.10. WARUM SCHLUG DIE SOWJETUNION DEN AUFSTAND NIEDER?

Wie aus den letzten Kapiteln hervorgeht, gab es in Ungarn weder einen vom Westen organisierten Umsturzversuch noch einen von reaktionären Ungarn initiierten faschistischen Putsch. Die legitimen Sicherheitsinteressen der Sowjetunion wären auch gewahrt geblieben, wenn Ungarn einen Status wie Finnland oder Österreich erhalten hätte. Warum schlug die Sowjetunion trotzdem den Aufstand nieder?

Die sowjetischen Führer hatten seit Stalins Tod viele Anstrengungen unternommen, ihr internationales Image aufzupolieren. Sie machte Zugeständnisse in Ostasien (Juni 1954), an Österreich (Abzug ihrer Truppen im Jahre 1955) und an Finnland (Auflösung der Karelo-Finnischen Sowjetrepublik im Januar 1956). Sie söhnten sich mit Jugoslawien aus und machte in Polen Zugeständnisse.

Auch die erste sowjetische Intervention am 24. Oktober fand nur statt, weil die sowjetischen Führer durch Gerö falsch informiert wurden. (Gosztony, 236f). Bis zum 30. Oktober hatten sich die sowjetischen Führer noch nicht entschieden, wie sie in Ungarn weiter agieren sollten.

Alle Zugeständnisse der sowjetischen Führer bis zum 30. Oktober 1956 hatten ihr Imperium nicht in der Substanz gefährdet. Aber wenn sie die Neutralität Ungarns, die sich die Menschen dort auf revolutionäre Weise erkämpft hatten, gebilligt hätten, wäre dies geradezu eine Einladung an die Völker der anderen Satelliten-Staaten gewesen, sich ähnliches zu erkämpfen. Die sowjetischen Führer mussten an einem bestimmten Punkt die Entwicklung stoppen oder den allmählichen Zerfall ihres Imperiums, einschließlich des Vielvölkerstaates Sowjetunion selbst, in Kauf nehmen.

In Finnland und Österreich war das sowjetische System nicht eingeführt worden. Deshalb stellte es kein ideologisches Problem da, von diesen Ländern lediglich die Neutralität zu verlangen, ihnen die Gestaltung ihrer inneren Verhältnisse aber selbst zu überlassen. In Polen war auch unter Gomulka das kommunistische System nie in Gefahr. Aber weil es in Ungarn versäumt wurde, rechtzeitig eine polnische Lösung herbeizuführen, hatte die ungarische Revolution eine Ausdehnung angenommen, die weit über das hinaus ging, was die sowjetischen Führer im Interesse ihres eigenen Machterhalts tolerieren konnten.

Wenn ein Land, in dem einmal die sowjetischen Verhältnisse eingeführt waren, ein Weg zum Kapitalismus einschlägt, dann ist dies aus sowjetischer Sicht natürlich ein Rückschritt. (Und darüber hinaus etwas, das es der marxistisch-leninistischen Theorie nach auch gar nicht geben kann!)

Aber selbst eine Restauration des Kapitalismus wäre noch nicht einmal so schlimm gewesen. Viel gefährlicher war, dass die Ungarn auf revolutionäre Weise das sowjetische System abschafften, um an seine Stelle einen demokratischen Sozialismus zu setzen. Wäre dies den Ungarn gelungen, dann wäre bewiesen worden, dass man den Sozialismus verbinden kann mit den demokratischen und kulturellen Errungenschaften der bürgerlichen Epoche, mit allgemeinen und geheimen Wahlen, mit Rede-, Presse, Versammlungsfreiheit usw. Ein solches System hätte zwangsläufig eine große Anziehungskraft auf die anderen osteuropäischen Völker (und darüber hinaus auf alle Völker der Welt) ausgeübt und wäre so zu einer tödlichen Bedrohung für die herrschende Kaste der Sowjetunion geworden. (Ähnlich verhielt es sich zwölf Jahre später 1968 in der Tschechoslowakei.)

Die zweite sowjetische Intervention war ganz eindeutig eine Aggression der Sowjetunion gegen das ungarische Volk. Die Niederschlagung der Revolution war ein reaktionärer Akt, in der eine herrschende Kaste ihr System verteidigte. Den Ungarn wurde mit blutiger Gewalt ein System aufgezwungen, von dem sie sich gerade befreit hatten. Ein System darüber hinaus, das für Länder mit bürgerlich-demokratischen Traditionen überhaupt keinen Fortschritt darstellt.
 

4.11. DIE BEDEUTUNG DER LÜGE IN DER SOWJETISCHEN POLITIK

Bei der Beschäftigung mit den Ereignissen in Ungarn bin ich dermaßen oft auf sowjetische Lügen gestoßen, dass ich es für richtig hielt, der Bedeutung der Lüge in der sowjetischen Politik ein eigenes Kapitel zu widmen. Aufzeigen werde ich diese Lügentaktik am Beispiel ihres Verhaltens in den fünf Tagen der Vorbereitung der zweiten Intervention.

Wie man heute weiß, beschloß das sowjetische Politbüro am 30. Oktober 1956 den Aufstand niederzuschlagen. Gleich darauf begannen die Vorbereitungen, besonders der Einmarsch neuer sowjetischen Truppen nach Ungarn. Doch bis zum Morgen des 4. November, selbst als die Kämpfe schon begonnen hatten, bestritt die Sowjetunion ganz energisch die Absicht, militärisch einzugreifen.

Am 31. Oktober kamen Mikojan und Suslow erneut nach Budapest und obwohl sie wussten, dass das Schicksal des Aufstands schon besiegelt war, erklärten sie ohne mit der Wimper zu zucken, die Sowjetunion akzeptiere das Mehrparteiensystem und die Neutralität Ungarns. Man wünsche lediglich, dass Ungarn keine antisowjetische Politik betreibe. (Gosztony, 302 + 306)

Als sich am 1. November die Nachrichten über den Einmarsch sowjetischer Truppen mehrten, verlangte Nagy vom sowjetischen Botschafter Andropow eine Erklärung. Dieser telefonierte mit Moskau und die sowjetischen Führer gaben die feierliche Erklärung ab, dass der Abzug der Sowjettruppen fortgesetzt würde. Es würden lediglich zum Schutz sowjetischer Bürger einige Polizeieinheiten geschickt, die den Abzug der Truppen überwachen sollten. (Gosztony, 337ff)

Am Nachmittag des gleichen Tages gab Nagy Andropow bekannt, er habe konkrete Hinweise darauf, dass neue sowjetische Kampftruppen in großer Zahl nach Ungarn einmarschierten. Deshalb trete Ungarn aus dem Warschauer Vertrag aus und habe die UN um Hilfe angerufen. (Kadar erklärte sich mit diesen Schritten ausdrücklich einverstanden und erklärte, er werde notfalls mit der Waffe in der Hand an der Vertreibung der sowjetischen Truppen teilnehmen.) (Gosztony, 341)

In den Nacht vom 1. auf den 2. November (nachdem Kadar bereits verschwunden war), ersuchte Andropow Nagy, den Hilferuf an die UN zurückzuziehen. Die Sowjetunion werde als Gegenleistung ihre Truppen abziehen. Nagy zog daraufhin den Hilferuf an die UN zurück. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen ging weiter. (Gosztony, 342)

Am 2. November erklärte der sowjetische Botschafter bei der UN in New York, Nachrichten über den Einmarsch sowjetischer Truppen nach Ungarn entbehrten jeder Grundlage. (Mikes, 161)

Am 3. November trat eine ungarisch-sowjetische Militärkommission zusammen um die Einzelheiten des Abzugs der sowjetischen Truppen zu klären. Die Verhandlungen verliefen positiv. (Gosztony, 342) Der Chef der sowjetischen Verhandlungsdelegation lud die Ungarn am Abend ins sowjetische Hauptquartier ein, um dort dann die letzten technischen Details zu klären. Die ungarische Delegation unter Verteidigungsminister Pal Maleter folgte der Einladung und es wurde dort auch noch einige Stunden lang in freundlicher Atmosphäre verhandelt. Gegen Mitternacht aber stürzte plötzlich eine Gruppe sowjetischer Geheimpolizisten mit MPs bewaffnet in den Saal und nahmen die Ungarn fest. (Gosztony, 374ff)

Morgens gegen vier Uhr, als der Angriff der sowjetischen Truppen auf Budapest begann (die ungarische Regierung wusste noch nichts vom Schicksal der Delegation unter Maleter), rief der Oberkommandierende der Nationalgarde, Béla Kiraly, Nagy an und fragte ihn, was er tun soll. Nagy sagte, der sowjetische Botschafter sei gerade bei ihm und es sei alles ein Irrtum. Andropow werde sofort in Moskau anrufen und die Nationalgarde solle auf keinen Fall die sowjetischen Truppen bekämpfen. (Gosztony, 381f)

Bis zum letzten möglichen Zeitpunkt wurden die Ungarn getäuscht. (Für die Anhänger des stalinistischen Systems war dies alles natürlich eine großartig gelungene »List«.)

Die gleiche Lügentaktik könnte man aufzeigen am Beispiel, wie in den ersten Tagen des Aufstandes der ungarische Rundfunk laufend erklärte, die Kämpfe seien zu ende und die Aufständischen würden sich in Scharen ergeben. Die Bevölkerung Budapests konnte auf den Straßen der Stadt das absolute Gegenteil beobachten. (Mikes, 100f)

Im Zusammenhang mit dem Niederschlagen des Prager Frühlings 1968 und des Einmarsches sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 könnte man aufzeigen, dass die Sowjetunion dort eine ähnliche Lügentaktik benutzte.

Man muss sich über eins im Klaren sein: Die Lüge ist ein mit Vorsatz und mit Bedacht eingesetztes Mittel sowjetischer Politik. Die Sowjets lügen nicht mal so eben aus dem Stegreif, wie jeder Mensch das mal tut. Nein, die Sowjets lügen planmäßig, systematisch und ununterbrochen. Man kann sowjetischen Politikern überhaupt kein Wort glauben. Man kann sie nur nach dem beurteilen, was sie tun und was sie auf grund ihrer Interessenslage und ihres bisherigen Verhaltens wahrscheinlich tun werden. Aber den Beteuerungen sowjetischer Politiker Glauben zu schenken, hieße, sämtliche geschichtliche und tagtägliche Erfahrungen in den Wind zu schlagen!


5. TEIL – UNTERSUCHUNG DER GLAUBWÜRDIGKEIT DER VERSCHIEDENEN BÜCHER ZU DIESEM THEMA

Da ich die Ereignisse in Ungarn im Jahre 1956 selbst nicht miterlebt habe, stütze ich meine Urteile ausschließlich auf gelesene Literatur, also auf die Berichte anderer. Zum Schluss möchte ich deshalb noch die Frage untersuchen, ob es eine wissenschaftlich haltbare Methode gibt, die Glaubwürdigkeit der verschiedenen Bücher zu diesem Thema zu bestimmen.

Ich habe festgestellt, dass sich diese Bücher in zwei Gruppen einteilen lassen. Erstens in die Gruppe der Bücher, die im Osten zu diesem Thema erscheinen dürfen, eine sehr homogene Gruppe, und zweitens in die Gruppe der Bücher, die im Westen erscheint, eine sehr heterogene Gruppe. Zunächst zur zweiten Gruppe:

1. Auf Beschluss der UN-Vollversammlung wurde ein Sonderausschuss zu den Ereignissen in Ungarn eingerichtet. Ihm gehörten als Mitglieder an: Australien, Ceylon, Dänemark, Tunesien und Uruguay. Die UN wünschte Beobachter nach Ungarn zu entsenden. Die Kadar-Regierung ließ aber keine UN-Beobachter ins Land. So vernahm der Ausschuss insgesamt 111 Zeugen, die nach der Niederschlagung des Aufstandes aus Ungarn geflohen waren. Darunter befanden sich Anna Kethly, jahrzehntelange Führerin der Sozialdemokratischen Partei Ungarns und Staatsministerin unter Nagy; Béla Kiraly, General der ungarischen Armee und Oberkommandierender der Nationalgarde in den Tagen des Aufstandes; Joszef Kavago, jahrelanger Bürgermeister Budapests. Des weiteren Arbeiter, Soldaten, Offiziere, kommunistische und nichtkommunistische Intellektuelle u. ä. m. Die Zeugenaussagen umfassten 2.000 Seiten. Der Sonderausschuss veröffentlichte seinen Bericht unter dem Titel (deutsch) Der Volksaufstand in Ungarn. Das Fazit der Untersuchungen war: »Was sich in Ungarn ereignete, war ein spontaner nationaler Aufstand, der durch langertragene Missstände verursacht wurde ... Der Aufstand wurde von Studenten, Arbeitern, Soldaten und Intellektuellen geführt. Viele von ihnen waren Kommunisten oder ehemalige Kommunisten. Diejenigen, die daran teilnahmen, bestanden darauf, dass ein demokratischer Sozialismus die Grundlage der ungarischen politischen Struktur sein sollte ... Es ist nicht wahr, dass der Aufstand durch reaktionäre Kreise in Ungarn geschürt wurde, oder dass er seine Stärke aus ›Imperialistischen‹-Kreisen im Westen bezog.« (UN-Bericht, 1/27)

2. Viele weitere Schilderungen von Teilnehmern und Beobachtern des Volksaufstandes erhält man in dem Buch Der Ungarische Volksaufstand in Augenzeugenberichten, herausgegeben von Peter Gosztony. Gosztony war zur Zeit des Aufstandes als Leutnant der ungarischen Armee in Budapest stationiert und hat aus dieser Sicht den Aufstand miterlebt und gegen Ende aktiv an ihm teilgenommen. In seinem Buch kommen über hundert Augenzeugen zu Wort: Ungarische und ausländische Journalisten, Schriftsteller, Studenten, Arbeiter, Offiziere, Soldaten usw. Was sich in diesen vielen Berichten ausdrückt, ist am besten in einem Zitat des polnischen Journalisten Marian Bielicki, Korrespondent der Warschauer Zeitschrift Po Prostu wiedergegeben: »Die ganze Nation steht auf der Seite der Aufständischen. Die Trennlinie ist scharf: auf der einen Seite die Nation, auf der anderen der stalinistische Teil der Regierung und die AVH. Unter den Aufständischen sind Tausende von Kommunisten. Die ungarische Armee ist entweder neutral oder hält zu den Revolutionären. Die Arbeiter haben ihre eigenen Werkanlagen besetzt. Die gesamte Arbeiterschaft, die Jugend und die Studenten sind auf den Barrikaden.« (Gosztony, 240)

3. Ein weiterer Augenzeuge war Peter Fryer. Er war als Korrespondent der englischen KP-Zeitung Dally Worker in Ungarn. Er war Kommunist und von daher darf man annehmen, dass er nicht daran interessiert war »antikommunistische Lügen« über die Ereignisse zu verbreiten. Doch die Berichte, die er an seine Londoner Redaktion schickte, wurden nicht veröffentlicht. Sie befanden sich nämlich in direktem Gegensatz zu der, auch von den westeuropäischen KPs verbreiteten Behauptung, es handele sich bei dem ungarischen Aufstand um einen faschistischen Putschversuch. Peter Fryer, der in den Tagen des Aufstandes seinen Glauben an den Kommunismus verlor, veröffentlichte seine Berichte in dem Buch Hungarien Tragedy (deutsch Ungarische Tragödie). Fryer schrieb u. a. »Ich habe selbst gesehen, dass der Aufstand von Faschisten weder organisiert noch geleitet war ... Ich habe selbst gesehen, wie die sowjetischen Truppen ... gegen das einfache ungarische Volk kämpften: Arbeiter, Bauern, Studenten und Soldaten.« (Fryer, 7)

4. Interessante Hintergrundinformationen erhält man in dem Buch Die ungarische Tragödie von Sandor Kopacsi. Er war zur Zeit des Aufstandes Polizeichef von Budapest mit Verbindungen zu höchsten Regierungskreisen. Außerdem war er der zweithöchste Kommandant der Nationalgarde und gehörte zum engeren Führungskreis der während des Aufstandes neu gegründeten KP. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, später begnadigt und lebt heute in Kanada. Er berichtet, dass er während des Aufstandes im Regierungsgebäude einen alten Kommunisten traf, der zu ihm sagte: »Kopacsi, ich habe ein gutes Dutzend Bücher über die Geschichte der Partei gelesen, eines verlogener als das andere. Aber jetzt verspüre ich zum ersten mal die Atmosphäre, der Zehn Tage, die die Welt erschütterten«. (Kopacsi, 153) (Zehn Tage, die die Welt erschütterten ist ein unter Kommunisten sehr populäres Buch, ein Dokumentarbericht des amerikanischen Journalisten und Kommunisten John Read über die ersten 10 Tage der Oktoberrevolution, die er selbst miterlebte.)

5. Ein eher konservativer Beobachter der Ereignisse war George Mikes. Er war als Korrespondent des BBC in Ungarn und interviewte später hunderte von Revolutionsteilnehmern in den Flüchtlingslagern Wiens. Er veröffentlichte seine Berichte später in dem Buch Hungarien Revolution (deutsch Revolution in Ungarn). Er beschäftigt sich auch mit der Geschichte Ungarns nach 1919, besonders mit der Sowjetisierung nach dem 2. Weltkrieg. Er schreibt unter anderem: »Achtundvierzig Stunden nachdem der erste Schuss gefallen war, riss sich die gesamte ungarische Armee mit allen ihren Offizieren den Sowjetstern von den Mützen und ging ohne Ausnahme zu den Rebellen über.« (Mikes, 109)

6. Ein linker Analytiker der Ereignisse ist Andy Anderson. Er veröffentlichte das Buch Die ungarische Revolution 1956. Anderson beschreibt besonders den Kampf der Arbeiter und der Arbeiterräte. Er gibt außerdem eine komprimierte Darstellung der Sowjetisierung Ungarns nach dem 2. Weltkrieg und beschreibt die Entwicklung bis zum Ende des Jahres 1957, also bis zum endgültigen Verbot der Arbeiterräte. In diesem Buch befinden sich im Anhang viele Dokumente, zum Beispiel Reden von Nagy und Kadar, Forderungskataloge und Resolutionen verschiedener Arbeiterräte, Einschätzung der Revolution durch westeuropäische Linke u. ä. m.

7. Als letztes Buch in dieser Gruppe sei noch genannt 1956 – Die ungarische Revolution der Arbeiterräte. Herausgegeben von der Internationalen Arbeiterkorrespondens (IAK), einer trotzkistischen Organisation. Diese Analyse untersucht die Ereignisse speziell aus der Perspektive des Klassenkampfes der Arbeiter gegen die Bürokraten. Hier sind auch viele Informationen über die Arbeiterräte nach der Niederschlagung des Aufstandes.

Trotz Unterschieden im Detail, die in dieser Gruppe aufgeführten Berichte und Analysen von Menschen unterschiedlichster politischer Meinung stimmen im Grundtenor überein: Der Aufstand in Ungarn wurde von weit über 90% der Ungarn getragen und hatte mit einem faschistischen Putschversuch überhaupt nichts zu tun.

Zur anderen Gruppe:

1. Das aktuellste und umfangreichste in Ungarn erstellte Geschichtsbuch über Ungarn, dass mir in deutscher Sprache zugänglich war (600 Seiten), berichtet über die Ereignisse im Jahre 1956 in einigen oberflächlichen Sätzen auf gerade mal einer Seite. Die mehr oder weniger umfangreiche Zeittafel am Ende des Buches fällt besonders durch das auf, was in ihr fehlt. So werden z. B. die beiden ersten Wahlen nach dem 2. Weltkrieg unterschlagen, in denen noch wirklich gewählt wurde und bei denen die KP 17 bzw. 22% der Stimmen bekam. Unterschlagen wird auch die zweijährige Ministerpräsidentenschaft Nagys von 1953–55.

2. Ende der 50er Jahre, als in aller Welt über die ungarischen Ereignisse diskutiert wurde, sah sich auch die Kadar-Regierung gezwungen etwas ausführlicher zu diesem Thema Stellung zu nehmen. Sie veröffentlichte das von ihr so genannte Weißbuch, Die Konterrevolutionären Kräfte bei den Oktoberereignissen in Ungarn. In ihm wird behauptet, der Volksaufstand sei ein aus dem Westen unterstützter faschistischer Putschversuch gewesen, in den sich einige »gutgläubige Ungarn« haben hereinziehen lassen. Auch dieses Buch fällt besonders durch das auf, was in ihm nicht vorhanden ist. So sieht man zum Beispiel viele Bilder von gelynchten AVH-Leuten, aber kein einziges Bild von den Opfern der AVH-Massaker.

Auf die innere Widersprüchlichkeit und Absurdität der Angaben der Kadar-Regierung und auf die Lügentaktik der Sowjets bin ich im IV. Teil bereits eingegangen. Wie Kadar noch am 1. November 1956 dachte, geht hervor aus dem Zitat aus einer Rundfunkrede am Beginn des Kapitels 3.2.

Noch zwei Argumente speziell was Bücher betrifft:

1. Wer sich schon einmal mit sowjetischer Geschichtsschreibung beschäftigt hat, aber gleichzeitig auch westliche Darstellungen kennt, wird wissen, dass die sowjetische Geschichtsschreibung bis zum heutigen Tag eine Art Slalomlauf ist, nämlich um alle die Ereignisse und Personen herum, die man heute nicht mehr gern erwähnen möchte. So bekommt man es fertig, eine Geschichte der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges zu schreiben, ohne den Namen Trotzki zu erwähnen oder die Namen anderer führender Bolschewiki, die während der Stalinzeit ermordet wurden.  Während der Chruschtschow-Ära brachte man es fertig, den Namen Stalin aus einigen Geschichtsbüchern völlig herauszuhalten. Nicht nur direkte Lügen, auch Unterschlagungen einer solchen Dimension sind Geschichtsfälschungen.

2. Es wird heute keinem vernünftigen Menschen mehr einfallen, die »Geständnisse« der führenden Bolschewiki Ende der 30er Jahre oder die führender osteuropäischer Kommunisten Anfang der 50er Jahre ernst zu nehmen. Aber Stalin hat seine Verbrechen ebensowenig alleine begangen wie Hitler seine. Die Leute, die für das Zustandekommen der »Geständnisse« sorgten, sind nicht mit Stalin zusammen gestorben. Sie blieben in ihren Ämtern. Und diese Leute waren es auch, die das Schreiben des Weißbuches veranlassten und überwachten, auf die sich die heutige Ostblock-Geschichtsschreibung stützt.

Fazit: Wenn man feststellt, dass die Angaben von Leuten, die ihre Glaubwürdigkeit nachweisbar schon reichlich strapaziert haben, ersten in sich völlig absurd und widersprüchlich sind und zweitens im Gegensatz stehen zu den Aussagen aller anderer Beobachter, einschließlich vieler Kommunisten oder ehemaliger Kommunisten, dann ist es wissenschaftlich gerechtfertigt, diese Angaben als Propagandalügen und Geschichtsfälschungen zu bezeichnen. Wer das nicht begreifen kann oder will, ist ein hoffnungsloser SowjetIllusionist!


ZEITTAFEL

Ereignisse vor, während und nach dem Aufstand, die im Zusammenhang mit ihm wichtig sind:

19. Jahrhundert: Ungarn ist Teil des Habsburger Reiches. Der österreichische Kaiser ist König von Ungarn.

1848: Aufstand der Ungarn unter Führung von Lajos Kossuth um sich von der österreichischen Fremdherrschaft zu befreien. Der Aufstand wird mit Hilfe russischer Truppen niedergeschlagen.

1918/19: Nach dem 1. Weltkrieg zerbricht das Habsburger Reich. Ungarn wird ein selbständiger Staat. Die Ungarische Räterepublik wird niedergeschlagen. Der ehemalige Admiral der österreichisch-ungarischen Flotte, Miklos Horthy, errichtet eine halbfaschistische Diktatur.

1941: Ungarn nimmt an der Seite Hitler-Deutschlands am Krieg gegen die Sowjetunion teil.

1944: Nach Geheimverhandlungen der ungarischen Regierung mit den Westmächten besetzen deutsche Truppen Ungarn.

1944–45: Die sowjetische Armee vertreibt die faschistischen deutschen Truppen und besetzt Ungarn.

1945–49: Schrittweise Sowjetisierung Ungarns. Verbot bzw. Gleichschaltung aller nichtstalinistischer Organisationen. Errichtung der Diktatur Rákosis als Statthalter Stalins.

1948: Bruch zwischen der Sowjetunion und dem von Tito geführten kommunistischen Jugoslawien. Tito ist nicht bereit, sich Stalin unterzuordnen und das sowjetische System haargenau zu übernehmen.

1949–53: Andauernder Terror der Staatssicherheitspolizei AVH gegen Titoisten, Sozialdemokraten, »Reaktionäre« und andere potentielle Gegner Rákosis. – Wirtschaftliche Missstände. – Nationale Unterdrückung der Ungarn durch die Russen.

5. März 1953: Tod Stalins

4. Juli 1953: Rákosi muss auf sowjetischen Druck hin sein Amt als Ministerpräsident an Imre Nagy abgeben, bleibt aber Vorsitzender der Partei. Nagy verkündet ein Reformprogramm.

Feb.–Apr. 1955: Nagy wird rechter Abweichung beschuldigt, als Ministerpräsident abgesetzt und aus der Partei ausgeschlossen.

1955: Gründung des »Warschauer Pakts«.

Feb. 1956: XX. Parteitag der KPdSU. Chruschtschow zerstört den Stalin-Mythos.

Ab März: Diskussionen im Petöfi-Kreis (Teil des Kommunistischen Jugendverbandes). Schriftsteller und Studenten fordern die Demokratisierung der Gesellschaft.

17. Juni: Rákosi wird auf sowjetischen Druck hin gestürzt. Nachfolger wird sein Vertrauter Ernö Gerö.

Juni–Okt.: Streiks und Demonstrationen in Polen. Der »Titoist« Gomulka wird gegen den Widerstand der Sowjetunion Vorsitzender der polnischen KP.

23. Okt.: Demonstration der Budapester Studenten aus Solidarität mit Polen. Dieser Demonstration schließen sich hunderttausende Ungarn an. Forderung nach Demokratisierung und Wiedereinsetzung Nagys als Ministerpräsidenten. – Gerö hält eine provokative Rundfunkrede. – Die AVH schießt vom Dach des Rundfunkgebäudes auf die unbewaffnete Menge. Die Demonstration wird zur Revolution. – Teile der Bevölkerung bewaffnen sich. – Demontage der Stalinstatue in Budapest.

24. Okt.: 1. Sowjetische Intervention. Schwere Kämpfe in ganz Budapest. – Beginn der Revolution in der Provinz. – Immer mehr Arbeiter und Soldaten schließen sich der Revolution an. –- Nagy wird wieder Ministerpräsident.

25. Okt.: Schwere Kämpfe im ganzen Land. – AVH-Massaker vor dem Parlamentsgebäude (blutiger Donnerstag) und in der Provinzstadt Nagyarova. Die sowjetischen Führer Mikojan und Suslow kommen nach Budapest und setzen Gerö ab. Nachfolger wird Jonos Kadar.

26. Okt.: Die Kämpfe dauern an. – Arbeiterräte werden in den Fabriken und Bergwerken gewählt. Der Generalstreik wird ausgerufen. – Unter der Führung von Oberst Pal Maleter wird die Kilian-Kaserne gegen die sowjetischen Truppen verteidigt.

27. Okt.: Eine neue Regierung wird gebildet, der auch Nichtkommunisten angehören. – Die Kämpfe dauern an.

28. Okt.: Die neue Regierung ordnet eine allgemeine Feuereinstellung an. Nagy verkündet den Abzug der sowjetischen Truppen aus Budapest und die Auflösung der AVH. – Die im ganzen Land entstandenen revolutionären Arbeiterräte und Nationalkomitees übernehmen die Staatsgewalt. Auch in der Armee und der Polizei werden Revolutionskomitees gewählt. – Verstärkt auftretende Racheakte der Bevölkerung an AVH-Leuten.

29. Okt.: Unter Führung des Generalmajors Béla Kiraly wird aus Teilen der Armee, der Polizei und der bewaffneten Aufständischen eine Nationalgarde gebildet. – Ein neuer Gewerkschaftsbund wird gegründet.

30. Okt.: Nagy verkündet die Abschaffung des Einparteiensystems. Die sozialdemokratische und die bürgerlichen Parteien werden neu gegründet. – Das sowjetische Politbüro beschließt die ungarische Revolution niederzuschlagen. – Massaker vor dem Budapester Parteibüro.

31. Okt.: Nachrichten über den Einmarsch sowjetischer Truppen mehren sich. – Das nationale Revolutionskomitee für Verteidigung wird gegründet.

1. Nov.: Der Einmarsch sowjetischer Truppen dauert an. Nagy erklärt daraufhin den Austritt aus dem Warschauer Pakt und proklamiert die Neutralität Ungarns. Er bittet die UNO um Hilfe. – Kadar wird zum Verräter an der Revolution und verschwindet aus Budapest.

2. Nov.: Nagy protestiert gegen den weiteren Einmarsch sowjetischer Truppen.

3. Nov.: Nagy bildet die Regierung um. – Verteidigungsminister Maleter und andere Führer der Nationalgarde führen Verhandlungen mit den Sowjets über den Abzug ihrer Truppen. Sie werden gegen Mitternacht von den Sowjets festgenommen.

4. Nov.: 2. Sowjetische Intervention. Konzentrierter Angriff der Sowjettruppen auf Budapest und die Zentren der Revolution in der Provinz. Nagys Appell an das ungarische Volk und die ganze Welt über Rundfunk ausgestrahlt. Nagy sucht Asyl in der jugoslawischen Botschaft. – Unter sowjetischer Aufsicht wird eine »revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung« gebildet, an deren Spitze Kadar steht.

5.–15. Nov.: Schwere Kämpfe im ganzen Land. Die Aufständischen müssen sich allmählich der sowjetischen Übermacht geschlagen geben. Die Arbeiterviertel leisten den stärksten Widerstand. »Das rote Csepel« wird von der sowjetischen Luftwaffe bombardiert. (Csepel ist ein Budapester Arbeiterbezirk und war früher eine Hochburg der Kommunisten.) – Als letzte Bastion der Revolution kapituliert am 15. Nov. die »erste sozialistische Stadt Ungarns« Sztalinvaros (Stalinstadt).

Ab Nov.: Konterrevolutionärer Terror der AVH und Teilen der sowjetischen Truppen. Massenhinrichtungen von Aufständischen. Zigtausende junge Ungarn werden nach Sibirien deportiert. 200.000 Ungarn fliehen in den Westen. Trotzdem halten Streiks und Demonstrationen noch das ganze Jahr 1957 an. – Nach vergeblichen Versuchen die Arbeiterräte für sich zu gewinnen, lässt Kadar sie verbieten und ihrer Führer verhaften. Die letzten noch bestehenden Arbeiterräte wurden am 17. Nov. 1957 verboten.

23. Nov.: Nagy wird aus der jugoslawischen Botschaft gelockt und nach Rumänien deportiert. Später (Datum nicht bekannt) wird er nach Ungarn zurückgebracht und dort inhaftiert.

16. Juni 58: Hinrichtung von Nagy und Maleter.


NACHTRAG 1991

Kurzer chronologischer Überblick von 1958 bis 1991

60er, 70er und 80er Jahre: »Gulaschkommunismus« – Nach einigen Jahren starker Repression liberalisiert sich das System etwas. Für sowjetische Verhältnisse entwickelt sich ein bescheidener Wohlstand. Die Diktatur ist im Vergleich zu anderen Ländern des sowjetischen Blocks etwas milder.

Die Sowjetunion erwartet von ihren Satellitenstaaten lediglich den Bestand gewisser gesellschaftlicher Grundstrukturen (z. B. Herrschaft des Parteiapparates und Staatlichkeit des größten Teils der Wirtschaft) und selbstredend den Verbleib im sowjetischen Block. In kleinem Rahmen werden unterschiedliche Varianten gestattet. (Z. B. werden in Ungarn viele private Kleinbetriebe zugelassen, während man in der DDR auch noch die letzten privaten Kleinbetriebe verstaatlicht.)

1985: In der Sowjetunion kommt ein neuer Generalsekretär an die Spitze der KP, Michael Gorbatschow. Unter den Schlagworten Glasnost (Öffentlichkeit) und Perestroika (Umgestaltung) wird, anfänglich sehr vorsichtig, ein Reformprogramm eingeleitet. Die Intellektuellen bekommen größere Freiräume. Die nationalen Minderheiten können ungestraft mehr Autonomie fordern. Es entsteht eine breite Diskussion über die wirtschaftlichen Missstände.

1988–89: Die Entwicklung in der Sowjetunion schwappt langsam auf andere Ostblock-Staaten über. Zuerst auf Polen und Ungarn.

Juni 88:  Am 30. Todestag Nagys lässt die ungarische Regierung zum letzten Mal eine Demonstration auseinanderjagen, auf der die Rehabilitierung der Opfer des Volksaufstandes gefordert wird.

2. Mai 1989: Ungarn beginnt mit dem Abbau der Grenzbefestigungen zu Österreich.

Juni 1989: Zum 31. Todestag Nagys werden er, Maleter und andere ermordete Führer des Volksaufstandes exhumiert und unter Beteiligung von 300.000 Ungarn in einem feierlichen Staatsakt beerdigt. Der ungarische Staat und die ungarische KP revidieren ihre bisherigen Behauptungen und sprechen nun auch von einem Volksaufstand.

11. September 1989: Ungarn öffnet seine Grenzen für DDR-Bürger. In den folgenden Wochen flüchten über die ungarisch-österreichische Grenze ca. 40.000 DDR-Bürger in die Bundesrepublik. (Neuere Quellen sprechen von 110.000. Dez. 2001) Mit diesen Ereignissen beginnt der Untergang des stalinistischen Systems in Osteuropa.

Oktober 1991: Das ungarische Parlament beschließt die Aufhebung der Verjährungsfristen, um die Verbrecher von 1956, soweit sie noch leben, bestrafen zu können.

Dezember 1991: Die Präsidenten von elf Sowjetrepubliken gründen in Alma-Ata die »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« und lösen damit die Sowjetunion auf. Am 25. Dezember wird die rote Fahne mit Hammer und Sichel über dem Kremel eingezogen und die russische Tricolore gehisst.


LITERATURLISTE

Anderson, Andy – Die Ungarische Revolution 1956, Verlag Association Hamburg 1977
Autorenkollektiv, Die Geschichte Ungarns, Korvina Verlag 1971
Fryer, Peter – Ungarische Tragödie, Marcus Verlag Köln 1957
Gosztony, Peter – Der ungarische Volksaufstand in Augenzeugenberichten, dtv München 1981
IAK – Internationale ArbeiterkorrespondensDie ungarische Revolution der Arbeiterräte, Selbstverlag Dortmund 1977
Informationsbüro des Ministerrats der Ungarischen VolksrepublikDie Konterrevolutionären Kräfte bei den Oktoberereignissen in Ungarn, 3 Bände (Weißbuch 1–3) Budapest 1957ff
Kopacsi, Sandor – Die ungarische Tragödie, Ullstein Verlag Frankfurt/M 1981
Mikes, George – Revolution in Ungarn, Scherz & Goverts Verlag Stuttgart 1957
UN-SonderausschussBericht des Sonderausschusses der Vereinten Nationen zu den Ereignissen in Ungarn, deutsch Der Volksaufstand in Ungarn, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn 1957


Marxistische Theorie und realsozialistische Praxis



Anmerkungen

Anm. 1: Ich stelle dieses Zitat Bakunins nicht an den Anfang, weil ich etwa ein Anhänger seines anarchistischen Programms wäre. (Das bin ich nicht.) Ich finde es lediglich interessant, dass Bakunin ein halbes Jahrhundert vor der Entstehung des Stalinismus, in seiner Kritik der Staatsaufassungen der deutschen Sozialdemokratie, die er zu Recht oder zu Unrecht Marx anlastete, das gesellschaftliche System voraussah, das wir heute in Osteuropa in Leibhaftigkeit beobachten können. Entnommen habe ich dieses Zitat Marxens Konspekt von Bakunins Staatlichkeit und Anarchie. (MEW 18/638) Zurück zum Text

Anm. 2: Siehe u. a. Engels Grundsätze des Kommunismus: »Die kommunistische Revolution ... wird eine in allen zivilisierten Ländern ... gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein.« (MEW 4/374) Eine sozialistische Revolution sei nur dann möglich, wenn, wie Marx schrieb, »das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt« (MEW 18/633) und wenn es, wie Engels schrieb, eine Bourgeoisie gäbe, in deren Händen sich die Produktivkräfte soweit entwickelt haben, »dass die Abschaffung der Klassenunterschiede ein wirklicher Fortschritt, dass sie von Dauer sein kann.« (MEW 18/556) Zurück zum Text

Anm. 3: Jedenfalls hat das Sowjetsystem nichts mit dem zu tun, was sich Marx und Engels unter Sozialismus vorgestellt habe. Das kann jeder selbst nachprüfen, indem er folgende Schriften liest: Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, (besonders den 3. Abschnitt über den politischen Charakter der Pariser Kommune) (MEW 17/335ff); Engels, Einleitung zum Bürgerkrieg in Frankreich (MEW 17/615ff); Marx, Kritik des Gothaer Programms (MEW 19/15ff); Engels, Anti-Dühring (MEW 20/5ff).Dort ist die Rede u.a.:

Auch auf Lenin berufen sich die heutigen sowjetischen Führer zu Unrecht. Lenin hat zwar die Grundlagen des Sowjetsystems gelegt, theoretisch und praktisch, aber das ändert nichts daran, dass sich nach seinem Tod etwas ganz anderes entwickelt hat, als er gewollt hat. Diese Ambivalenz Lenins kommt besonders in seiner Schrift Staat und Revolution zum Ausdruck. Genaueres in meinem Referat Probleme der marxistischen StaatstheorieZurück zum Text

Anm. 4: LW 24/292f Zurück zum Text

Anm. 5: Lenin, der zu dieser Zeit aus gesundheitlichen Gründen schon nicht mehr aktiv am politischen Leben teilnahm, war mit der Vorgehensweise Stalins und anderer Bolschewiki in Georgien nicht einverstanden und bezeichnete diese als großrussisch und chauvinistisch. Siehe Lenin Zur Frage der Nationalitäten oder der Autonomisierung (LW 36/590ff). Zurück zum Text

Anm. 6: Zu den großen Säuberungen Ende der 30er Jahre, bei der hunderttausende von Kommunisten ermordet wurden, siehe: Jean Elleinstein Geschichte des Stalinismus, VSA Westberlin 1977, 4. Kapitel, S. 99ff. Zurück zum Text

Anm. 7: Hierzu siehe Georg von Rauch Geschichte der Sowjetunion Zurück zum Text

Anm. 8: Über die Sowjetisierung Ostdeutschlands, die im Prinzip genauso bewerkstelligt wurde wie die Ungarns, gibt es einen Bericht aus erster Hand von Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder. Ullstein Verlag Frankfurt/M 1955. Leonhard lebte viele Jahre in der Sowjetunion als Kind einer deutschen Kommunistin, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet war und dort als »Trotzkistin« viele Jahre im GULAG und in der Verbannung verbrachte. Leonhard gehörte zur Gruppe Ulbricht, die im April 1945 nach Berlin geschickt wurde. Er setzte sich später nach Jugoslawien ab. Zurück zum Text

Anm. 9: Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, Gesammelte Werke Band 4, Seite 359, Dietz Verlag Berlin 1974 Zurück zum Text

Anm. 10: Siehe Mátyás Rákosi The road of our People's Democracy, Auszüge in Fryer, 32ff und Anderson, 39ff Zurück zum Text

Anm. 11: 1948 war es zum Bruch zwischen der Sowjetunion und dem von Tito geführten kommunistischen Jugoslawien gekommen. Die jugoslawischen Kommunisten, die große Teile ihres Landes selbst von den deutschen Faschisten befreit hatten, waren nicht bereit, sich der Sowjetunion unterzuordnen und haargenau das sowjetische System zu übernehmen. Erst nach Stalins Tod kam es zu einer Aussöhnung, die Jugoslawien allerdings nicht ins sowjetische Lager zurückführte. Zurück zum Text

Anm. 12: Zitiert nach Anderson, 53 Zurück zum Text

Anm. 13: Zitiert nach Kursbuch 43, Seite 159, Rotbuch Verlag Berlin 1976 Zurück zum Text

Anm. 14: Hierzu siehe besonders: Marx, Theorien über den Mehrwert: »... das also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozess erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden.« (MEW 26.2/111); Engels, Anti-Dühring: »Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus« (MEW 20/166ff). Auch im Kommunistischen Manifest heben Marx und Engels die positive historische Rolle der Bourgeoisie hervor. (MEW 4/462ff) Zurück zum Text

Anm. 15: LW 36/594 Zurück zum Text

Anm. 16: Der von Stalin gestützte sowjetische Biologe Lysenko hatte behauptet, anerzogene Verhaltensweisen gingen in die Erbmasse ein. Dies bedeute, dass sozialistisch erzogene Menschen in Zukunft auch sozialistische Menschen zeugen würden. Inzwischen ist Lysenko auch in der Sowjetunion als Scharlatan entlarvt. Zurück zum Text

Anm. 17: Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus, Seite 50, Fischer Taschenbuch Verlag 1974 Zurück zum Text

Anm. 18: Karl Marx Das Elend der Philosophie, MEW 4/182 Zurück zum Text

Anm. 19: Den Erlebnisbericht eines begleitenden Sicherheitsoffiziers kann man nachlesen in Kopacsi, 66ff. Zurück zum Text

Anm. 20: Chruschtschow soll in einem Gespräch zu Tito gesagt haben: »Ich muss Rákosi in Ungarn halten, sonst bricht dort das ganze System zusammen.« Mikes, 68. Zurück zum Text

Anm. 21: Damals machte in Budapest folgender Witz die Runde: »Was ist der Unterschied zwischen einem Christen und einem Kommunisten? Ein Christ glaubt an ein Leben nach dem Tod. Ein Kommunist glaubt an die Rehabilitierung nach dem Tod.« Zurück zum Text

Anm. 22: Jonos Kadar in einer Rundfunkrede am 1. November 1956, der Tag, an dem er verschwand. Zitiert nach Gosztony, 332. Zurück zum Text

Anm. 23: Zitiert nach Mikes, 7 Zurück zum Text

Anm. 24: Gosztony, 386, 414, 416, 419; Fryer, 101; Anderson, 150; UN-Bericht,  61. Zurück zum Text

Anm. 25: Die Zahl der Toten schwankt zwischen 20.000 und 50.000. Indische Beobachter sprachen von 25.000 gefallenen Ungarn und 7.000 gefallenen Sowjetsoldaten. (Mikes, 167 + Gosztony, 386) Die Zahl der Geflohenen ist etwas leichter zu bestimmen. Der UN-Bericht spricht von 190.000. (UN-Bericht, 28) Die Zahl der nach Sibirien deportierten ist nicht genau feststellbar, sie geht aber bestimmt in die tausende.Zurück zum Text

Anm. 26: Gosztony, 419; Fryer, 93; UN-Bericht, § 79 Zurück zum Text

Anm. 27: Über die Aktivitäten der Arbeiterräte nach Niederschlagung des Aufstandes siehe Anderson, 157ff und Mikes, 181ff. Zurück zum Text

Anm. 28: »Weit entfernt, den sogenannten Exzessen, den Exempeln der Volksrache an verhassten Individuen oder öffentlichen Gebäuden, an die sich nur gehässige Erinnerung knüpft, entgegenzutreten, muss man diese Exempel nicht nur dulden, sondern ihre Leitung selbst in die Hand nehmen.« Karl Marx, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund März 1850, (MEW 7/249) Zurück zum Text


Marxistische Theorie und realsozialistische Praxis


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