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VORWORT – Dezember 1991

Die hier vorliegenden drei Referate, habe ich Anfang der 80er Jahre geschrieben. Es sind Uni-Referate, zum Teil auch überarbeitete Fassungen von Referaten aus meiner HWP-Zeit Ende der 70er Jahre. (HWP = Hochschule für Wirtschaft und Politik.)
Als ich mir in der zweiten Hälfte der 80er Jahre meinen ersten Computer gekauft habe, zwecks effizienterer Textverarbeitung, habe ich diese Referate in den Computer eingetippt und dabei stilistisch und orthographisch überarbeitet und einige Gedanken und Textteile hinzugefügt. Substantiell habe ich allerdings nichts verändert, obwohl vieles nicht mehr meinen Ansichten entsprach. [1]
Jetzt habe ich diese drei Referate zu einem Buch zusammengefasst, von dem es allerdings nur etwa zehn Exemplare geben wird. Als Erinnerung für mich und für einige Bekannte, mit denen ich des Öfteren über Politik u. ä. diskutiere.
Heute, nach dem Untergang des Realen Sozialismus, ist es natürlich die Frage, ob man sich mit Marxismus, Leninismus und Realen Sozialismus überhaupt noch beschäftigen sollte. Wenn ich diese Referate nicht schon hätte, würde ich sie jetzt bestimmt nicht mehr schreiben. Diese Referate waren eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen politischen Vergangenheit und eine Auseinandersetzung mit politischen Dogmatikern aus dem DKP-Umfeld. Anfang der 80er Jahre hatten solche Dogmatiker an gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereichen einiger westdeutscher Universitäten durchaus einen gewissen Einfluss. Inzwischen ist ihre Zahl erheblich zurückgegangen. Aber deshalb sind die Themenbereiche, mit denen sich die vorliegenden Referate beschäftigen, nicht etwa völlig bedeutungslos geworden.
Allein die Tatsache, dass im 20. Jahrhundert einige hundert Millionen Menschen an den Marxismus geglaubt haben, bzw. an ihre jeweilige Interpretation des Marxismus, macht Marx zu einer immens wichtigen historischen Persönlichkeit, auch wenn man am Ende des 20. Jahrhunderts weltweit von ihm abrückt. Keine andere Person des 19. Jahrhunderts hat durch seine Theorien den Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts so sehr beeinflusst wie Marx. Daran ändert auch nichts, dass die Geschichte anders abgelaufen ist, als Marx sich das gedacht hatte. Marx wäre mit Sicherheit kein Freund des sowjetischen Systems gewesen, aber er hat durch seine theoretische Vorarbeit dieses System erst möglich gemacht.
Dies gilt in noch stärkerem Maße für Lenin. Lenin wäre ein Todfeind des Realen Sozialismus gewesen! Das steht für mich völlig außerhalb des Zweifels. Aber Lenin hat durch seine theoretische und praktische Vorarbeit den Realen Sozialismus erst möglich gemacht. Ohne Lenin keine bolschewistische Partei. Ohne Lenin keine Oktoberrevolution. Ohne Lenin kein Stalinismus. Keine andere Person des 20. Jahrhunderts ist dermaßen geschichtsverursachend gewesen wie Lenin, auch wenn die Geschichte anders ablief, als er erwartet hatte.
Viele berühmte Politiker des 20. Jahrhunderts standen lediglich Entwicklungen vor, die im großen und ganzen auch ohne sie so abgelaufen wären. (Wie noch deutlich wird, war Stalin eine solche Person.) Das war bei Lenin anders. Im Gegensatz zur marxistischen Theorie können einzelne hervorragende Personen eben sehr wohl einen gewaltigen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte nehmen.
Ich sehe Lenin allerdings nicht als eine positive, sondern ganz eindeutig als eine negative Figur. Es bleibt natürlich Spekulation, wie die Geschichte Russlands, Europas und der ganzen Welt abgelaufen wäre ohne die Person Lenin. Aber viel schlimmer hätte es nicht kommen können. Die Kommunisten haben in diesem Jahrhundert grob über den Daumen gepeilt weltweit rund 100.000.000 Menschen umgebracht, bzw. deren Tod verschuldet. (Darunter waren auch Millionen von Kommunisten, die Opfer ihrer eigenen Methoden wurden.) Und sie haben dort, wo sie regierten, nicht etwa das Paradies auf Erden geschaffen, sondern Ruinen hinterlassen, ökonomisch, ökologisch, menschlich, städtebaulich etc.
Bei der Analyse dieser Personen, ihrer Theorien und der geschichtlichen Ereignisse muss man nun drei Dinge auseinander halten: Marxismus ist nicht gleich Leninismus. Lenin hat manches geschrieben und getan, womit Marx und Engels bestimmt nicht einverstanden gewesen wären.
Und der Reale Sozialismus, der sich nach Lenins Tod entwickelt hat, ist mit Sicherheit nicht das, was Lenin gewollt hat. Man muss Marxismus, Leninismus und Realen Sozialismus auseinanderhalten. Hierzu können diese Referate, wie ich glaube, einen Beitrag leisten.

Berlin, Dezember 1991

Anm. 1: Als ich diese Referate schrieb, war ich noch stark vom Marxismus beeinflusst, auch wenn ich ihm in zunehmenden Maße kritisch gegenüberstand. Inzwischen habe ich mich vom Marxismus völlig getrennt. Abgesehen mal von vielen Details, die man kritisieren könnte, beinhaltet er zwei entscheidende Grundirrtümer:

  1. Der Marxismus beruht auf einem illusorischen Menschenbild. Die Menschen sind nicht so, wie sie sein müssten, damit der Kommunismus funktionieren kann und man kann sie so auch nicht machen. (Wenn wir mal von zukünftigen Möglichkeiten der Gentechnologie absehen.) Die Vorstellung man könnte die Arbeitsteilung überwinden, die Vorstellung jeder Mensch könne einst zu jeder Tätigkeit in unserer hochkomplexen, hochtechnisierten Welt fähig sein, ist völlig unrealistisch und war es bereits zu Marxens Lebzeiten. Dass ein zweifellos hochintelligenter Mensch wie Marx soetwas überhaupt annehmen konnte, lässt sich nur so erklären, dass bei Marx das Proletariat und die Menschen der Zukunft die Rolle des hegelschen Weltgeistes eingenommen hatten.
    Außerdem wird es ein gewisses Maß natürlicher Ungleichheit unter den Menschen immer geben, ebenso wie ein bestimmtes Maß an Egoismus, Eigentumsstreben und Uneinsichtigkeit.

  2. Auch der zweite Grundirrtum ist ein hegelscher. Es gibt keine historischen Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Menschheit bestimmte gesellschaftliche Zustände mit Notwendigkeit durchläuft und zwangsläufig einen bestimmten Endzustand erreicht. Das hat Hegel sich ausgedacht und Marx hat es in etwas abgewandelter Form übernommen. Auch der von mir Ende der siebziger Jahre sehr geschätzte Rudolf Bahro befand sich mit seinem Denken noch voll im Rahmen dieser hegelsch/marxschen Geschichtsmetaphysik.

Diese beiden Grundirrtümer ändern aber nichts daran, dass Marx auch manch interessantes geschrieben hat, das sich auch heute noch lohnt zu lesen, z. B. aus den Bereichen der Ökonomie, der Gesellschaftstheorie und der Religionskritik. Zurück zum Text

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