Peter Möller

Individuelle Welten


Ein Mensch, dessen Weltsicht noch durch keine Philosophie geschärft wurde, geht normaler Weise davon aus, dass die Welt, die er um sich herum wahrnimmt, auch unabhängig von ihm genau so existiert, wie er sie erlebt. Und diese seine Welt, das ist auch die Welt schlechthin. Eine andere Welt gibt es nicht. Jeder andere Mensch lebt in exakt der gleichen Welt. Eine solche Einstellung nennt man in der Philosophie »Naiven Realismus«. Tatsächlich ist es aber so, dass das, was wir für die Welt halten, unser subjektives Bild ist, das wir uns von der Welt machen und da jeder Mensch sich sein eigenes Bild macht, jeder in einer anderen Welt lebt. Diese These soll in den folgenden drei Kapiteln näher erläutert werden.


1. Der »Blinde Fleck«

Im Augapfel befindet sich auf der hinteren Seite die Netzhaut mit sehr vielen winzigen Sehzäpfchen, die Lichtteilchen auffangen und den Prozess des Sehens einleiten. Aber an der Stelle, wo der Sehnerv zum Gehirn abgeht, befinden sich keine Sehzäpfchen. Dort befindet sich ein »Blinder Fleck«. Normalerweise merken wir das nicht, da wir in der Regel zwei Augen haben und weil die Entfernung zwischen den Augen und den Dingen und der Sehwinkel sich ständig ändern. An Hand folgender Abbildung kann man diesen »Blinden Fleck« deutlich machen.

a                 e


Es befindet sich hier ein blaues »a« und ein blaue »e« in einer Entfernung von ca. 9,5 cm zueinander. [Hängt ab von der Monitorgröße u. w. Notfalls selbst aufzeichnen.] Wenn man nun das rechte Auge schließt, mit dem linken Auge das blauen »e« fixiert und seinen Kopf auf eine Distanz von ca. 30 cm zum Monitor bringt, verschwindet das blaue »a«. Das Licht, das vom blauen »a« reflektiert wird, kommt im linken Auge an der Stelle an, wo keine Sehzäpfchen sind.

Den »Blinden Fleck« gibt es aber auch im übertragenen Sinne, als Metapher. Es gibt Dinge, Erscheinungen, Vorgänge etc., die der einzelne Mensch nicht sieht, nicht bemerkt, seine Mitmenschen bzw. einige seiner Mitmenschen aber durchaus. Es gibt eine Blindheit des Subjekts für sich selbst. Es kommt vor, dass von einem etwas ausgeht, das man selbst nicht bemerkt, aber die Mitmenschen bemerken es. Und darunter gibt es einiges, dass uns großen Schaden zufügen kann. Ohne das wir es merken. Ein häufig anzutreffender »Blinder Fleck«: Man riecht seinen eigenen Mundgeruch nicht. (Wenn der Punkt erreicht ist, wo man sich selber riecht, können einen die Anderen schon lange nicht mehr riechen ;-)

Andere »Blinde Flecke«: Weitere Körpergerüche, unsorgfältige Erscheinung (Kleidung, Haare, Fingernägel), Aufdringlichkeit, übertriebene Hilfsbereitschaft. Übertrieben ernst oder übertrieben lustig, wobei anderen Menschen, die sich in anderen Stimmungslagen befinden, die eigene Stimmung häufig aufgenötigt wird. Frauen sind häufig ohne es zu bemerken launisch und zickig. (Energischer Protest vieler Frauen! »Männer sind oft ohne es zu merken unsensibel, flach, dumm etc.«)

Jeder Mensch hat »Blinde Flecke«. Je geringen oder je weniger eng sein Kontakt zu anderen Menschen ist, desto größer ist tendenziell die Menge dieser »Blinden Flecke«. Der Einzelne sollte sich im eigenen Interesse auf die Suche machen nach seinen »Blinden Flecken«. Dazu kann man den Lebenspartner, Verwandte und Freunde, Kollegen und Bekannte darum bitte einem ehrlich zu sagen, was sie an einem stört. Und wer besonders sicher gehen will: Kinder und Besoffene sagen die Wahrheit.


In vinum veritas
Im Wein liegt Wahrheit
(Und mit beidem stößt man an.)


Zum Schluss sei noch angemerkt, dass es nicht nur eine Blindheit des Subjekts, des Einzelnen für sich selbst gibt, sondern auch eine Blindheit von Gruppen für sich selbst. Der »Blinde Fleck« ist häufig auch eine kollektive Erscheinung in kleinen und sogar in sehr großen Gruppen. Die Mitglieder in einer Gruppe bestätigen sich gegenseitig immer wieder in Auffassungen, die außerhalb dieser Gruppe vielleicht von fast niemandem sonst geteilt werden. Strenggläubige Angehörige einer Religionsgemeinschaft gehen mit unbezweifelter Selbstverständlichkeit von der Richtigkeit bestimmter Glaubenssätze aus, die außerhalb dieser Religionsgemeinschaft niemand für richtig hält, über die sich andere geradezu lustig machen. Bei politischen Dogmatikern ist es häufig das Gleiche. Von daher sollte man sich nicht nur auf die Suche machen nach den individuellen »Blinden Flecken«, sondern auch nach den »Blinden Flecken« der politischen, religiösen, sozialen, ethnischen etc. Gruppe, zu der man gehört.


2. Im Selben wird Verschiedenes gesehen

In den selben Dingen, Erscheinungen, Vorgängen etc. wird verschiedenes gesehen. Von verschiedenen Menschen, aber auch von dem selben Menschen zu verschiedenen Zeiten.




Man sieht hier das Bildnis einer Frau. Einige Betrachter sehen zuerst eine junge Frau, andere zuerst eine alte. Bei längerem Hinsehen »kippt« das Bild plötzlich um und zeigt uns (scheinbar) etwas anderes. Scheinbar deshalb, weil die Reize der Außenwelt sich ja wohl gar nicht geändert haben. Sie werden bloß urplötzlich anders interpretiert. Wir scheinen hier an der Schaffung der Wirklichkeit beteiligt zu sein. [1]

Nicht nur die selben visuellen, auch die selben akustischen Reize aus der Außenwelt können zu verschiedenen »Bildern« führen.  Musik kommt zustande durch zweierlei: 1. Absichtlich erzeugte systematisch aneinandergereihte unterschiedliche Schallwellen, die auf unsere Trommelfelle treffen und über mehrere Zwischenstufen Nervenimpulse erzeugen, die ins Gehirn fließen. 2. Unser Gehirn verarbeitet die ankommenden Impulse zu dem, was wir als Musik erleben. Die Ohren der verschiedenen Menschen nehmen Schallwellen aber unterschiedlich auf und die Gehirne der verschiedenen Menschen verarbeiten die ankommenden Nervenimpulse unterschiedlich. Die gleichen Schallwellen erzeugen bei einigen Menschen angenehme, bei anderen unangenehme Gefühle. Was dem Einen eine schöne Melodie, ist dem Anderen nur Geräusch oder Krach. Was dem Einen Beethoven, das ist dem Anderen Madonna.

Es ließen sich viele weitere Beispiele finden, wo Menschen aus den selben Umweltreizen sich unterschiedliche subjektive Bilder machen. Z. B. weil sie unterschiedlichen Altersgruppen angehören oder aus verschiedenen Kulturkreisen stammen. (Menschen aus moslemischen Ländern betrachten die leichtbekleideten Frauen in Europa häufig als Huren, oder jedenfalls als Frauen, die leicht zu haben sind.)


3. Jeder lebt in seiner Welt

Etwas, das als außerhalb und unabhängig von einem erlebt wird, ist nur deshalb so wie es für einen ist, weil in seinem Kopf etwas ist, das es so erscheinen lässt. Zum Beispiel die Erinnerung an etwas bereits gesehenes.




Obige Abbildung zeigt eine Menge schwarzer Flecken von unterschiedlicher Form und Größe. Die meisten Menschen werden, wenn sie diese Abbildung zum ersten Mal sehen, damit nichts anzufangen wissen. Hat man aber einmal dieses Bild gesehen, dann erkennt man dieses Bild in diesem Chaos schwarzer Flecken wieder. Es scheint so zu sein, dass wir auf grund unserer Erinnerung an das Bild, dieses nun auch in diesem Gewirr schwarzer Flecken sehen, wegen einer gewissen Ähnlichkeit der Grundstrukturen. Auch hier scheinen wir an der Schaffung von Wirklichkeit beteiligt zu sein.

Was im Beispiel mit den schwarzen Flecken sehr schnell geschah, das passiert bei Sprache und Schrift über viele Jahre hinweg, in der Regel in der Kindheit. Als Erwachsener empfindet man es in der Regel völlig unreflektiert als Selbstverständlichkeit, dass einem das Wort »TOR« etwas sagt. Wenn wir aber »TOR« sehen oder hören, dann nicht weil auch unabhängig von uns dieses »TOR« besteht, sondern weil wir einmal in unserer Kindheit die deutsche Sprache verstehen und lesen gelernt haben. Deutlich machen kann man dies anhand eines ganz simplen Vergleichs: Ein Russe, Araber oder Chinese, der nur seine Sprache und seine Schrift kennt, der erlebt beim Anblick von »TOR« ungefähr das, was wir beim Anblick von »Þ¥µ« erleben. Die Angehörigen, der eben genannten Völker, wissen aber in der Regel, dass es Schrift gibt. Die werden sich sagen: »Das ist etwas in einer Sprache und Schrift, die mir nicht bekannt ist.« Aber der Amazonasindianer, der nicht einmal weiß, dass es sowas wie Schrift gibt, der erlebt beim Anblick von »TOR« schon wieder was ganz anderes. Wenn wir also »TOR« sehen, dann spiegeln wir nicht einen unabhängig von uns existierenden Tatbestand in unserem Bewusstsein wieder.

Wir erleben Dinge als außerhalb von uns, obwohl sie in uns, in unserem Gehirn entstehen. Das ist naturwissenschaftlich gesehen, praktisch nicht mehr umstritten. Wir bilden uns unsere Welt aber nicht nur auf Grundlage von angeborenen Arbeitsweisen unseres Gehirns, die bei allen Menschen sehr ähnlich sind, sondern auch auf Grundlage unseres erworbenen Wissens und erworbener Arbeitsweisen unseres Gehirns. Und hier gibt es zwischen den einzelnen Individuen zum Teil beträchtliche Unterschiede. Das, was wir für die Welt, für die Wirklichkeit halten, ist »in Wirklichkeit« nur unser Bild, das wir uns von der Welt machen. Jeder lebt in seiner Welt, da jeder bereits unterschiedliche Reize der Außenwelt aufnimmt und die Reize unterschiedlich interpretiert. Die Welten von zwei Menschen sind niemals völlig deckungsgleich. Tendenziell ist es so: je stärker Menschen miteinander verbunden sind, zeitlich, räumlich, ethnisch, kulturell, sprachlich, vom allgemeinen Bildungsniveau her etc. desto ähnlicher sind ihre Welten, je weiter Menschen in den eben genannten Dingen voneinander entfernt sind, desto verschiedener sind ihre Welten. Daraus ergeben sich viele Konflikte.

Die tatsächliche Welt, in der wir Menschen leben, ist aber wahrscheinlich für alle die gleiche. Wahrscheinlich sage ich, weil ich das nicht mit letzter Sicherheit wissen kann, aber davon ausgehe, dass es so ist.


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Anmerkungen

Anm. 1: Weiteren Beispielen für Sinnestäuschungen und Zweideutigkeiten findet man im Internet. Zurück zum Haupttext


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